Leseprobe »Die Stimme des Bodens«: Friedhofsboden
»Der Untergrund des Friedhofs muss lebendig sein!«
Bei dieser Aussage magst du vielleicht erst einmal stutzen.
Und nein, es geht nicht um eure menschlichen Schauergeschichten, sondern um meinen bodenkundlichen Alltag in der Unterwelt. Denn das, was sich für dich zunächst vielleicht paradox anhört, wird ganz logisch, wenn du das Ganze aus meinem Blickwinkel betrachtest.
Für das menschliche Empfinden ist der Friedhof ein Ort der Stille, der Ruhe und des Todes. Oft klingen eure Stimmen dort sehr traurig, manchmal auch ängstlich, wütend oder einsam. Doch ebenso häufig höre ich auch Trost, Dankbarkeit und Hoffnung. Ganz ohne Frage ist der Tod für euch mit unzähligen Emotionen verbunden. Vielleicht kann ich dir ein wenig helfen, den Friedhof als einen Ort wahrzunehmen, an dem nichts endet, sondern wo Neues beginnt, wo der Kreislauf des Lebens zu einer neuen Runde ansetzt.
Für mich ist der Friedhof eine Fläche, auf der ich für euch Menschen eine Funktion erfülle – und das geht nur als lebendiger Boden. Als Friedhofsboden beginnt meine Aufgabe für dich vor allem dann, wenn deine aktive Zeit zu Ende gegangen ist. Somit begleite ich dich nicht nur während deines Lebens auf Schritt und Tritt, sondern auch über deinen Tod hinaus. Deine letzte Ruhe findest du sehr oft in meiner erdigen Dunkelheit. Dann tauchst du persönlich ein in das Universum unter deinen Füßen. Du wirst unmittelbar ein bodenbildender Faktor, sodass ich als Friedhofsboden besondere Merkmale habe, die ganz wesentlich durch euch Menschen geprägt sind. In eurer Fachsprache trage ich den Namen »Nekrosol« – Boden, der die Verstorbenen umgibt.
Wenn du irgendwann für immer die Augen schließt, wirst du auf dem Friedhof wieder ein Teil der Natur. So wie sich das Laub des Herbstes allmählich in Boden verwandelt, so sorgt die Natur auch dafür, dass die Grenzen zwischen menschlichem Körper und dem umgebenden Erdreich allmählich verschwimmen. Ganz zu Anfang dieses Buches habe ich dir davon erzählt, dass sowohl Mensch als auch Boden aus vielen Einzelteilen zusammengesetzt sind – erst die Kombination vieler »Zutaten« oder »Bausteine« formen das große Ganze. Und am Ende eines Lebenszyklus läuft dieser Prozess dann rückwärts ab. All die vielen einzelnen menschlichen »Bausteine« werden wieder der Natur und dem ewigen Kreislauf übergeben, in dem unermüdlich Neues aus Altem geformt wird. Aus der Gesamtkomposition Mensch entstehen wieder die ursprünglichen Komponenten, daher nennt sich diese Verwandlung auch De-Komposition.
Damit ich diese Aufgabe für dich und deine Lieben gut erfüllen kann, bin ich auf deine Mithilfe angewiesen. Wie ich dir in den vorherigen Kapiteln erzählt habe, ist ein aktives und gesundes Bodenleben von enormer Bedeutung dafür, dass ich meine Funktionen gut und langfristig übernehmen kann. Und das gilt ebenso für meine Funktion als Friedhofsboden. Mein aktives Bodenleben hilft dabei, dass du, sobald du zur letzten Ruhe gebettet wurdest, schnell in den Kreislauf der Natur eintreten kannst. Um diesen Übergang zu erleichtern, könnt ihr Menschen viel beitragen. Je besser die Randbedingungen, desto schneller können meine fleißigen Bodenbewohner sich ans Werk machen. Es geht auch auf dem Friedhof nicht anders zu als im irdischen Leben: Je besser die Arbeitsumgebung, desto besser und schneller können die Aufgaben erledigt werden.
Eine wesentliche Randbedingung ist dabei, ob meine Bodenbewohner (in dem Fall die Spezialisten für Verwandlungs- und Dekompositionsprozesse) genug Wasser und Sauerstoff haben. In der letzten Zeit werde ich leider immer öfter mit großflächigen Steinplatten belegt. »Pflegeleicht«, höre ich euch von da oben murmeln. Doch für mich bedeuten diese Platten nichts anderes als eine Abtrennung vom Wetter. Insbesondere der Regen kann unter der steinigen Decke nicht in mich einsickern, und meine Bodenhelfer sitzen irgendwann auf dem Trockenen. Und wer auf dem Trockenen sitzt, hat nur wenig Lust zu arbeiten, oder wenn, dann nur gaaanz langsam … Somit dauert es bei anhaltender Trockenheit auch deutlich länger, bis meine unterirdischen Bewohner euch zu einem guten Teil des Bodens machen können. Die Zeit, die ihr mir dafür gebt, ist manchmal schneller vorbei als gedacht. Häufig wird eine Grabstelle nach 20 bis 25 Jahren aufgegeben und soll anschließend für eine andere Beisetzung verwendet werden. Wenn dann jedoch meine Dekompositionsspezialisten mit ihrer Arbeit noch gar nicht fertig sind, ist das für alle Beteiligten keine optimale Situation.
Doch nicht nur zu wenig Wasser erschwert die unterirdischen Prozesse auf dem Friedhof. Zu viel Wasser führt noch viel öfter zu einer Verlangsamung der Dekomposition. Meine für Friedhofsböden spezialisierten Mikroorganismen brauchen Sauerstoff. Und wenn meine sonst mit Luft gefüllten Poren unter Wasser stehen, können die kleinen Kerlchen zwar eine Zeit lang die Luft anhalten, doch mit angehaltenem Atem arbeitet es sich nun mal deutlich beschwerlicher, als wenn die frische Luft frei strömt. Sauerstoff bewegt sich in Flüssigkeiten zehntausendmal langsamer als durch die Luft. Für den Transport von Sauerstoff im Boden sind meine luftgefüllten Poren somit die Autobahnen, die wassergefüllten Poren eher eine rückwärtslaufende Rolltreppe. Manche Aufgaben, die unter optimalen, sauerstoffreichen Bedingungen vielleicht nur ein paar Monate dauern würden, können bei anhaltend hohem Wasserstand schon mal mehrere Jahre in Anspruch nehmen.
Ein zu hoher Wasserstand kann dabei unterschiedliche Ursachen haben: In der Nähe von Flüssen oder dort, wo das Grundwasser sehr nah unter der Oberfläche fließt, ist es naturgemäß häufig nass. Meine Füße stehen dort fast immer im Wasser, und wenn der Grundwasserspiegel steigt, steht mir das Wasser manchmal auch bis zum Halse. Doch auch in höher gelegenen Regionen kann zu viel Wasser im Friedhofsboden ein Thema werden – immer dann, wenn mitten in mir stark verdichtete Bereiche vorhanden sind, durch die ein Wassertropfen nur ausgesprochen langsam hindurchfließen kann. Wenn von oben mehr und mehr Wasser nachströmt, bildet sich da schnell eine Wasserschicht auf diesem stauenden Horizont, und das Problem des Sauerstoffmangels ist nicht weit. Solche stauenden Schichten entstehen manchmal auf ganz natürliche Weise in meinem Inneren – immer dann, wenn zum Beispiel eine tonigere Schicht von einer sandigeren überdeckt wird. Immer häufiger entstehen solche Verdichtungen allerdings auch durch menschliche Tätigkeiten, wenn der Boden direkt unter dem Sarg vielleicht durch eine Baggerschaufel zu stark belastet wurde und meine Poren dort zusammengedrückt zurückblieben. Was auch immer die Ursachen und Hintergründe für eine Wasserversorgung im Überfluss sind – auf dem Friedhof bewirkt zu viel Wasser ganz einfach eine Einschränkung meiner dort gewünschten Bodenfunktion. Da verweise ich an dieser Stelle auch gerne auf euren Einsatz der Gießkanne. Auch hier liegt der Fokus auf dem Maß der Dinge. Natürlich sollen die Pflanzen auf dem Grab ausreichend mit Wasser versorgt sein. Zu häufiges Gießen kann jedoch auch kontraproduktiv sein, insbesondere dann, wenn ich dort nicht so durchlässig bin und Probleme mit Wasserstau habe.
Die richtige Menge an Wasser und Sauerstoff im Untergrund ist also entscheidend, damit meine Mikroorganismen fleißig ihrer Arbeit nachgehen können. Stimmen die Arbeitsbedingungen jedoch nicht, wird die Stimmung da unten angespannter – meine kleinen Spezialisten für die unterirdischen Verwandlungsprozesse treten dann gerne mal in den Streik. Und Streik bedeutet auch unter der Oberfläche nichts anderes, als dass alle Arbeiten eingestellt werden. Ein beerdigter Körper, ein Sarg oder eine Urne bleiben in dem Fall weitgehend, wie sie sind. Die Prozesse der Dekomposition werden eingestellt und weichen einer Konservierung. Was in dem Fall bleibt, sind sogenannte Fettwachsleichen oder Mumien. Beides sind Folgen von Mangelerscheinungen. Die Fettwachsleichen sind das Ergebnis von Sauerstoffmangel. Ohne den notwendigen Luftaustausch wird das Fett im menschlichen Körper zu einer wachsähnlichen Schutzschicht verwandelt, die eine weitere Dekomposition behindert. Ein Mangel an Wasser im Untergrund hinterlässt hingegen Mumien. Diese konservierende Funktion ist viele Hundert Jahre später meist nur bei euren Archäologen beliebt.
Du siehst also, dass jeder Job nur unter guten Bedingungen auch gut erledigt wird, meine Aufgabe als Friedhofsboden ist da keine Ausnahme. Daher kann ich nur empfehlen, dass ihr eure Friedhöfe dort anlegt, wo das Grundwasser fern und meine Bodenart möglichst locker und somit durchlässig für Luft und Wasser ist. Prinzipiell kann ich zwar immer als Friedhofsboden genutzt werden, doch je nachdem, ob ich ein sandiger oder lehmiger Boden bin, oft nasse Füße habe oder verdichtet wurde, dauert es mal länger oder geht schneller, bis ich meine Aufgabe erledigt habe. Es ist eure Wahl, wie viel Zeit ihr mir geben möchtet und welcher Ort als Friedhof von euch genutzt werden soll.
Unter besten Bedingungen, also in einem lockeren Boden mit genug (aber nicht zu viel) Wasser und Sauerstoff für meine Bodenbewohner dauert es etwa 10 bis 15 Jahre, bis die Grenzen zwischen Mensch und Boden verschwunden sind – das nenn ich mal schnell! Doch häufig sind meine unterirdischen Arbeitsbedingungen nicht so optimal, und so dauert es deutlich länger, die menschlichen Bausteine in einen Teil des Bodens zu verwandeln. Aus vielen Teilen dieser Welt höre ich von der Oberfläche die Friedhofsmitarbeiter, die unzufrieden sind mit meiner Leistung – insbesondere dann, wenn eine Grabstelle neu belegt werden soll, obwohl die unterirdischen Prozesse noch nicht abgeschlossen sind. Nicht nur der Wohnungsmarkt für euch Menschen wird immer knapper, auch die Räume im Untergrund werden durch solche Verzögerungen zur Mangelware.
Damit solche schwierigen Situationen erst gar nicht entstehen, hilft frühzeitig der Blick nach unten, wenn ein neuer Friedhof angelegt werden soll. Falls du also zufällig jemand bist, der darüber entscheidet, wo ein neuer Friedhof seinen Platz findet, schau am besten vorher, welche Böden dort im Untergrund vorhanden sind. Wenn du die Wahl hast, entscheide dich für ein möglichst sandiges Mitglied meiner bodenkundlichen Familie, bei dem das Grundwasser nicht so hoch steht und keine Verdichtungen meine Funktion für die Dekomposition erschweren.
Doch nicht nur bei der Planung neuer Friedhöfe könnt ihr positiv auf meine Funktion als Friedhofsboden einwirken – jede/r Einzelne kann einen Beitrag dazu leisten, angefangen bei der Kleidung: Um ehrlich zu sein, ist es mir am liebsten, wenn das letzte Gewand nicht aus Kunststofffasern besteht. Diese langen Gebilde aus Polyester, Polyacryl, Polyamid oder sonst einem Poly schmecken meinen kleinen Bodenhelfern einfach nicht und werden wie unliebsame Überbleibsel auf dem Speiseteller liegengelassen. Im Boden verbleiben diese Fasern daher sehr, sehr lange unverändert.
Oft höre ich auch Diskussionen von oben darüber, woraus der Sarg bestehen sollte. Da kann ich aus rein praktischen Gründen nur ein Material empfehlen, dass den kleinen Bodenbewohnern schmeckt und somit schnell in seine Bestandteile zerlegt werden kann. Alles, was natürlichen Ursprungs ist, kann auch recht schnell wieder Teil der natürlichen Kreisläufe werden. Holz ist da so ein klassisches Beispiel. Auf spezielle Beschichtungen oder gar Särge aus Kunststoff kann ich da, ganz in eurem Sinne, sehr gut verzichten. Vor Kurzem wurde sogar eine Person in einem Sarg aus Pilz-Geflecht in mir beerdigt. Das war wirklich mal eine positive Überraschung, schließlich macht es solch ein Sarg aus Bodenbestandteilen meinen Dekompositionsspezialisten deutlich einfacher, ihre Aufgaben zu erledigen. Das Gleiche gilt natürlich auch für eine Urne. Je nach Material dauert es seine Zeit, bis die Hülle der Asche im Boden zersetzt wird. Bei einer Urne aus Holz erfolgt dieser Prozess schneller, als wenn sie aus Metall oder Keramik besteht.
Ihr Menschen seid ebenfalls meist zu 100 % natürlichen Ursprungs und besteht aus organischer Materie, die im Laufe der Zeit zu Boden umgewandelt wird. Klar, es gibt Ausnahmen: Ich beherberge einige von euch, die deutlich höhere nicht natürliche oder anorganische Bestandteile enthalten. So bleibt dann mancher Goldzahn oder Herzschrittmacher neben einer künstlichen Hüfte liegen. Doch im Großen und Ganzen bleibt der Mensch ein Teil der Natur, der auf dem Friedhof lediglich seine äußere Form verändert.
Bis zu deinem Lebensende und darüber hinaus bleibe ich an deiner Seite. Und nach hoffentlich vielen spannenden und glücklichen Jahren auf meiner Oberfläche nehme ich dich irgendwann auf in meine bodenkundliche Familie.
Literatur
- entera Ingenieurgesellschaft (2015): Bodenkundlich-hygienische Grundlagen der Friedhofsnutzung, Information für Friedhofsverwaltungen und Mitarbeiter; Hannover
- Fiedler S., Graw M. (2003): Decomposition of buried corpses, with special reference to the formation of adipocere; Naturwissenschaften 90, 291–300, https://doi.org/10.1007/s00114-003-0437-0
- Hessisches Landesamt für Umwelt und Geologie (2007): Bodenkundliche Anforderungen an das Anlegen und Erweitern von Friedhöfen; Umwelt und Geologie, Böden und Bodenschutz in Hessen, Heft 8, Wiesbaden
- Särge aus Pilzmaterial, von Loop Biotech B.V., Niederlande: https://www.loop-of-life.com/ (abgerufen am 27.03.2022)
- Zimmermann. I., Fleige, H., Horn, R. (2014): Kartierung von Friedhofböden und Bewertung ihrer Verwesungs- und Filterleistung; in: Die Bodenkultur 65 (1)
- Zentralverband des Deutschen Baugewerbes (2004): Bodenkundliche und Umweltprobleme auf Friedhöfen in Deutschland; Endbericht zur Projektstudie, mit dem Kooperationspartner Universität Kiel, Institut für Pflanzenernährung und Bodenkunde und der Gütegemeinschaft Friedhofsysteme e. V., gefördert durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt
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