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Leseprobe »Die Welt autistischer Frauen und Mädchen«: Irgendwie anders – was ist Autismus?

Das Buch bietet umfassende Informationen über Autismus, seine Symptome, die Unterschiede zwischen männlichem und weiblichem Autismus, und die Herausforderungen, die autistische Frauen und Mädchen im Alltag und in verschiedenen Lebensphasen erleben. Es geht auch auf Begleiterkrankungen, Ressourcen und Stärken, Diagnose und Therapie sowie Selbsthilfe ein. Das Buch betont, dass autistische Frauen oft später diagnostiziert werden und ihre Symptome anders zeigen als Männer. Eine Leseprobe
Asiatisches Kin vor diffusem grauem Hintergrund mit geschlossenen Augen, sein Gehirn ist von außen in leuchtenden Strukturen dagestellt.

Autistische Frauen und Mädchen sind in vielerlei Hinsicht anders: Sie sind anders als ihre nicht autistischen Verwandten, Kolleginnen oder Mitschülerinnen. Sie sind aber auch anders als autistische Jungen und Männer. Trotz typischer autistischer Symptome machen Autistinnen Tag für Tag ganz andere Erfahrungen als Autisten und wissen dabei oft nicht einmal, dass sie autistisch sind. Oder sie wissen es, aber in ihrem Umfeld ahnt es niemand. In unserer Gesellschaft wird von Frauen und Mädchen ein anderes Verhalten als von Jungen und Männern erwartet und ihr Verhalten wird dementsprechend auch anders bewertet. So ist es nicht verwunderlich, dass es ganz eigene Herausforderungen mit sich bringt, Autistin zu sein.

Um zu verstehen, was es bedeutet, eine autistische Frau oder ein autistisches Mädchen zu sein und damit anders zu sein als die Frauen und Mädchen um dich herum, müssen wir zunächst darüber nachdenken, was eigentlich als »normal« gilt und was von »normalen Frauen und Mädchen« erwartet wird. Und das ist ein weites Feld. Vielleicht interessieren dich deshalb beim ersten Lesen gar nicht alle Abschnitte in diesem Kapitel. Du darfst diese Teile natürlich überspringen.

Außerdem findest du in diesem ersten Kapitel grundlegende Informationen über Autismus. Es ist für alle, die sich noch nicht so gut auskennen oder ihr Wissen erweitern möchten. Und auch wenn du dich schon intensiv mit dem Thema beschäftigt hast, lohnt es sich. Denn trotz – oder gerade wegen – der zahlreichen Informationsmöglichkeiten ist es oft gar nicht so leicht, den Wahrheitsgehalt der Quellen zu beurteilen. Wir haben uns alle Mühe gegeben, dir die wichtigsten Informationen zum Thema zusammenzufassen.

Ist normal, was die anderen normal finden?

Viele Menschen sind irgendwie anders. Aber anders als was? Anders als die übrigen Leute im Dorf? Anders als die Mehrheit der Bevölkerung? Anders als das, was deine Großeltern angemessen fanden? Anders als das, was auf Instagram oder TikTok die meisten Kommentare und Likes bringt?

Das lateinische Adjektiv »normalis« bedeutet »nach dem Winkelmaß, nach der Regel gemacht«. Es geht also darum, etwas möglichst Ähnliches herzustellen oder zu beschreiben. Vielleicht musstest oder durftest du im Kindergarten diese lustigen Girlanden basteln, die entstehen, wenn man ein Papier ganz oft im Zickzack faltet und dann eine Form hineinschneidet? Alle Formen, die du da produziert hast, sind beinahe identisch, abgesehen von ein paar kleinen Zipfeln und Knittern.

Wer später dann Ethik in der Schule hatte, erinnert sich vielleicht noch daran, dass es einen deskriptiven (»wie etwas ist«) und einen normativen (»wie etwas sein soll«) Normalitätsbegriff gibt. Es ist ein großer Unterschied, ob wissenschaftlich beschrieben wird, dass ein Ball immer zu Boden fällt, wenn man ihn in Richtung eines Basketballkorbs wirft (es also »normal« ist, dass der Ball runterfällt), oder ob man Aussagen der Art trifft, dass die Familie mit Mutter, Vater und Kind die einzige »normale« Variante des Zusammenlebens sei (bzw. »bitte schön zu sein hat«).

Und so ist oft gar nicht ganz klar, ob bei dem Begriff »normal« oder »nicht normal« schon eine moralische Bewertung mitschwingt oder ob es sich um eine neutrale Beschreibung einer Abweichung von einem Durchschnittswert handelt. Allerdings ist »nicht normal« in der Alltagssprache häufig abwertend gemeint, wenn nicht sogar beleidigend (»Die Alte ist doch nicht normal im Kopf!«). Also ist es nicht verwunderlich, dass jede Debatte um Normalität und Abweichung ein sensibles Thema berührt.

Normalität ist nichts Stabiles. Das hat uns allen die Coronapandemie gezeigt: Ganz plötzlich war es nicht mehr normal, ohne Maske herumzulaufen, sich die Hände zu schütteln oder einen bestimmten Abstand zum Gegenüber zu unterschreiten. Auch in die Schule zu gehen oder zur Arbeit, war nicht mehr normal. Diese neuen Vorgaben wurden also nach einer neuen Regel gemacht, ein anderes »Winkelmaß« wurde angelegt. Und obwohl die Pandemie vorbei ist, sind einige dieser neuen Normalitäten geblieben. Zumindest herrscht jetzt auch unter Nichtautistinnen gelegentlich Verwirrung darüber, ob ein Händedruck noch sozial angemessen ist oder aufgrund des Infektionsrisikos vermieden werden sollte.

Nach aktuellen epidemiologischen Daten sind etwa ein Prozent der Menschen autistisch. Die restlichen 99 Prozent sind es demnach nicht. Wenn es andersherum wäre, würdest du vielleicht in diesem Augenblick ein Buch über die Herausforderungen von nicht autistischen Frauen und Mädchen lesen. Die statistische Mehrheit bestimmt, was wir als normal erachten. Wer deutlich anders aussieht oder tickt, stellt eine statistische Abweichung von der Norm dar. Mit deiner Hautfarbe bist du in manchen Ländern Teil der Mehrheit, in anderen eine Minderheit. Deine Hautfarbe ist nicht besser oder schlechter, wenn du das Land wechselst und sie jetzt nicht mehr mit vielen Mitmenschen gemeinsam hast, sondern nur mit ganz wenigen. Aber es prägt deine Lebensrealität ganz entscheidend, ob du mit deinem Erscheinungsbild der breiten Masse oder einer Minderheit angehörst.

Welches Verhalten und welche Einstellungen in deinem Umfeld als normal empfunden werden und welche als abweichend, hängt davon ab, was die Gesellschaft, in der du lebst, diesbezüglich »ausgehandelt« hat. Deine Großeltern fanden es (na ja, kommt darauf an, wie alt du bist) nicht unbedingt normal, vor der Ehe in einen gemeinsamen Haushalt zu ziehen (»Wilde Ehe!«). Solches Verhalten konnte ein ganzes Dorf zu anhaltender Tuschelei verleiten – wobei sich die Ortsansässigen stets gegenseitig versicherten, dass »das ja wirklich nicht normal« ist.

Du siehst regelmäßig die Geister deiner verstorbenen Verwandten? In westlichen Kulturen des 21. Jahrhunderts würdest du damit wahrscheinlich als psychisch auffällig gelten, während du mit solchen Erfahrungen in anderen Kulturkreisen nicht weiter für Verwunderung sorgst. Du wurdest als Kind dafür kritisiert, dass du anderen Menschen zur Begrüßung nicht in die Augen siehst? In unserem Kulturkreis gilt Augenkontakt tatsächlich als essenzieller Bestandteil höflichen Verhaltens in Unterhaltungen. In vielen anderen Ländern hingegen, zum Beispiel in nordafrikanischen oder asiatischen, gilt direkter Augenkontakt als unhöflich oder zu dominant. Und wusstest du, dass es in Japan als höflich gilt, nach dem Essen am Tisch zu rülpsen? Das war vor einigen Hundert Jahren auch in Deutschland nichts Ungewöhnliches.

In welchem Kulturkreis du auch lebst – ob du die dort geltenden Normen nachvollziehen kannst, hängt von vielen Faktoren ab. Viele Autistinnen fühlen sich wie ein Alien auf dem Planeten Erde. Wenn es dir so geht, wirst du hoffentlich früher oder später die Erfahrung machen, dass du damit nicht allein bist. Menschen, die deine Ansichten zu »Normalität« teilen, tummeln sich vielleicht nicht in deiner Schulklasse oder auf deiner Arbeitsstelle, aber du findest sie womöglich in einer Online-Community, einer Selbsthilfegruppe oder einem Verein, der sich einem Thema widmet, für das du brennst.

Ganz normale Mädchen – ein Definitionsversuch

Die Genderforschung beschäftigt sich unter anderem mit Geschlechtsstereotypen und Rollenerwartungen – also den Vorstellungen und Vorurteilen darüber, wie Männer und Frauen oder Jungen und Mädchen »sind« oder laut ihrer Umgebung »sein sollten« (wir erinnern uns: deskriptiv vs. normativ). Diese Vorstellungen bilden sich aus all unseren sozialen und kulturellen Einflussfaktoren (also Familie, Lehrerinnen, Gleichaltrige, Filme, Internet, Bücher, Musik usw.), und interessanterweise sind sie über die Zeit und verschiedene Kulturen hinweg relativ stabil. Das heißt, dass es überall ziemlich klare Vorstellungen davon gibt, wie ein Mädchen oder ein Junge »zu sein hat«. Und zwar ab der frühen Kindheit: Schon vor dem Grundschulalter versuchen Jungen und Mädchen, ihr Verhalten den erlernten Vorstellungen anzupassen.

Auch wenn man wiederholt Beispielen begegnet, die den stereotypen Vorstellungen widersprechen, sind diese Annahmen ziemlich veränderungsresistent. Es genügt also nicht, wenn du einen männlichen Erzieher in deinem Kindergarten hattest oder die Mutter eines Freundes Polizistin war, um diese Voreingenommenheit aufzuheben.

Sex und Gender – die zwei Arten von Geschlecht

Die deutsche Sprache hat leider nur ein Wort für Geschlecht. In der Forschung wird jedoch zwischen den englischen Begriffen Sex und Gender unterschieden. Und diese Unterscheidung ist wichtig. Sex beschreibt das biologische Geschlecht, das sich teils an sichtbaren Merkmalen (äußere Geschlechtsorgane), teils an messbaren (hormonelle oder chromosomale Unterschiede) festmachen lässt. Gender wiederum bezeichnet die soziale Dimension von Geschlecht, die all die Erwartungen und Annahmen über die Geschlechter umfasst. Das biologische stimmt oft mit dem sozialen Geschlecht überein (»cis«), aber nicht immer (»trans«).

Wenn ein Mädchen oder eine Frau gegen die geltenden Stereotype verstößt, entsteht in ihrem Umfeld nicht etwa die Sorge, dass sie zu Unrecht von ihrem Umfeld abgelehnt werden könnte. Oder dass man sie einmal psychologisch untersuchen lassen sollte. Oder etwa der Impuls, sie dahin gehend zu unterstützen, ihre Individualität auszuleben. Nein, in der Regel reagiert das Umfeld auf Verstöße gegen erwartetes Verhalten entweder mit Überraschung (»Was soll das denn jetzt?«), Ablehnung (»So was macht ein Mädchen nicht!«) oder Bestrafung (»Wer sich so verhält, fliegt aus dem Klassenzimmer!«). Diese Reaktionen sind ganz unwillkürlich und die Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen oder Männern und Frauen geschieht sicher in den allermeisten Fällen unbewusst. Und doch haben sie weitreichende Konsequenzen für die Identitätsentwicklung der betroffenen Mädchen und die spätere Selbstwahrnehmung betroffener Frauen.

Aber was sind denn überhaupt die verbreitetsten Stereotype über Frauen und Mädchen und die an sie herangetragenen Rollenerwartungen? Wenn du dir die Tabelle ansiehst, erkennst du, dass besonders viele Kompetenzen, die von Frauen und Mädchen erwartet werden, im zwischenmenschlichen Bereich liegen.

»Typisch weiblich«»Typisch männlich«
freundlich, angepasstdominant, selbstbewusst
empathisch, herzlich, fürsorglichstark, emotional unnahbar, unabhängig
kreativ und sprachbegabtgut in Mathe und Technik
inkompetent in praktischen Dingen (z. B. einparken)inkompetent im Umgang mit Emotionen (z. B. spricht nicht über Gefühle)
»falsch und intrigant«»direkt und ehrlich«

Die gängigen geschlechtsspezifischen Stereotype und Rollenerwartungen lassen vermuten, dass es für autistische Frauen und Mädchen besonders schwierig ist, sich anzupassen. Denn diese liegen weit von ihrem Naturell entfernt. Die »typisch weiblichen« Eigenschaften stehen zu einem nicht unerheblichen Teil in Konflikt mit den autismusbedingten Eigenheiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation. Und die Tatsache, dass schon kleine Kinder sich unbewusst an diese Rollenerwartungen anzupassen versuchen, könnte mit dazu beitragen, dass Mädchen schwerer als autistisch zu erkennen sind.

Körperlich gibt es zwischen Jungen und Mädchen bzw. Männern und Frauen einige markante und recht offensichtliche Unterschiede. Weniger sichtbar, aber immer noch messbar sind Unterschiede im Chromosomensatz (Männer haben anstatt zweier X-Chromosomen ein X- und ein Y-Chromosom), im Hormonsystem (Männer produzieren mehr Testosteron und Frauen mehr Östrogen) und im Stoffwechsel (bei Männern und Frauen werden z. B. Alkohol und einige Medikamente unterschiedlich schnell verstoffwechselt).

Wie sehr sich Männer und Frauen von Geburt an im Denken und Fühlen unterscheiden, lässt sich nicht so einfach sagen. Es gibt zwar Studien, die von Unterschieden zwischen Männern und Frauen in bestimmten psychologischen Tests berichten und den Schluss nahelegen, dass Männer tatsächlich besser navigieren können und Frauen besser in sprachlichen Dingen sind. Allerdings müssen diese Forschungsergebnisse kritisch betrachtet werden. Sie lassen keine Rückschlüsse auf das Ausmaß der »Angeborenheit« dieser Unterschiede zu. Deshalb hat man auch Babys und Kleinkinder auf geschlechtsspezifische Unterschiede hin untersucht und beispielsweise festgestellt, dass Mädchen ihre Aufmerksamkeit im Säuglingsalter länger auf Gesichter richten, während Jungen lieber ein Mobile anschauen. Was die Geschwindigkeit der Sprachentwicklung angeht, liegen Mädchen vorne. Allerdings ist weitere Forschung vonnöten, um die strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Geschlechter wirklich sicher zu verstehen.

Verzerrte Sicht

Der englische Begriff »Bias« bedeutet so viel wie »Verzerrung« oder »Voreingenommenheit«. Unsere Wahrnehmung ist oft verzerrt, und unsere Gehirne haben diese Verzerrungen aus gutem Grund entwickelt: um im Ernstfall schnell und einwandfrei entscheiden zu können, wer Freund ist und wer Feind. Unser Frontalhirn kann diese Automatik zwar umgehen, das ist aber ein langsamerer Prozess, der viel mehr Energie kostet. Es gibt verschiedene »Bias«-Sorten.

Der »Confirmation Bias« (»Bestätigungsverzerrung«) besagt, dass wir bevorzugt Informationen berücksichtigen, die zu unseren Annahmen passen. Informationen, die auf etwas anderes hinweisen und weniger gut zu unseren Annahmen passen, fallen gerne mal – unbewusst – unter den Tisch. Wer z. B. Fan einer Serie ist, wird negative Besprechungen eher als Aussagen von »Trotteln, die keine Ahnung von Filmen haben« abtun.

Der »Perception Bias« (»Wahrnehmungsverzerrung«) lässt uns bestimmte Erwartungen gegenüber Mitgliedern verschiedener Gruppen haben, z. B. religiösen Gruppen, Ethnien oder den Geschlechtern. (Wusstest du, dass Personen, die dem gängigen Schönheitsideal entsprechen, für kompetenter gehalten werden? Auch ein Perception Bias! Denn die Annahme über die Kompetenz ist nicht die Folge schlauer Äußerungen oder immenser Arbeitsleistung, sondern sie basiert auf dem Äußeren.)

Die Verzerrungen, die unser Wahrnehmen, Denken und Urteilen beeinflussen können, verdeutlichen, warum das gleiche Verhalten oder die gleichen Symptome bei einem Mädchen oder einer Frau anders bewertet werden als bei einem Jungen oder einem Mann.

Und auch wenn Unterschiede zwischen den Geschlechtern in bestimmten Fertigkeiten nachgewiesen werden konnten: Sie lassen noch keine Rückschlüsse auf das individuelle Können von einzelnen Frauen und Mädchen zu. Dennoch werden sie stereotyp als zutreffend für jede einzelne Person angenommen, obwohl die Unterschiede innerhalb der Geschlechtergruppen viel größer sind als diejenigen zwischen männlichen und weiblichen Individuen. Der »Confirmation Bias« sorgt obendrein dafür, dass individuelles Können oder individuelle Schwierigkeiten oftmals ganz übersehen werden.

Frauen und Männer haben viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede und nur der kleinste Teil der Unterschiede ist angeboren. Und trotzdem unterscheiden sich die Reaktionen auf männliches und weibliches Verhalten sehr stark.

Was Autismus (nicht) ist

Um zu verstehen, was autistische Mädchen und Frauen anders macht und ihr Leben prägt, haben wir uns zunächst damit befasst, wie man Normalität definieren kann und was die Erwartung an »normale Mädchen« in der Wahrnehmung der Gesellschaft ausmacht. Und damit kommen wir zum Autismus.

Fachleute sprechen von sogenannten Autismus-Spektrum-Störungen, wenn bei Menschen tiefgreifende Entwicklungsstörungen mit Einschränkungen in der Kommunikation und der sozialen Interaktion vorliegen sowie stereotype, sich wiederholende Interessen und Verhaltensweisen festzustellen sind.

Du fragst dich vielleicht, warum von einem Autismus-Spektrum die Rede ist. Der Begriff wurde in der fünften Ausgabe des »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM) eingeführt, das von der Amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft herausgegeben wird und das führende Klassifikationssystem für psychische Störungen in den USA ist. In Europa wird ein anderes Klassfikationssystem verwendet: die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD). In der neuesten Ausgabe, der ICD-11, ist der Autismus-Spektrum-Begriff ebenfalls übernommen worden. Noch wird in Deutschland allerdings die Vorgängerversion ICD-10 verwendet. Dort tauchen unter dem Kapitel »Tiefgreifende Entwicklungsstörungen« Begriffe wie frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und atypischer Autismus auf. Da sich all diese verschiedenen Unterformen nicht zuverlässig unterscheiden ließen, werden sie in Zukunft unter dem Oberbegriff »Autismus-Spektrum-Störungen« zusammengefasst.

Autismus gilt als angeboren und zeigt sich ab der frühen Kindheit, spätestens ab dem dritten Lebensjahr. Die Besonderheiten verändern sich im Laufe des Lebens nicht wesentlich, aber selbstverständlich verändern sich viele andere Dinge, zum Beispiel die äußeren Anforderungen und die eigenen Fähigkeiten, mit diesen umzugehen. Daher kann es bei Autistinnen im Laufe des Lebens verstärkt zu sozialen Schwierigkeiten kommen, wenn die Art und Weise des sozialen Miteinanders komplizierter wird (mehr dazu in Kap. 2 und 3). Eltern berichten häufig von Auffälligkeiten ab dem Kindergartenalter, die jedoch oftmals erst in der Rückschau als Zeichen für Autismus erkannt werden.

Der Symptombeginn und -verlauf muss bei Frauen und Mädchen oft nachträglich rekonstruiert werden, weil sie insgesamt erst später die Autismus-Diagnostik durchlaufen als Jungen und Männer. Häufig wird die Aussage zitiert, dass sich Autismus bei Mädchen und Frauen erst später zeigen würde (z. B. in der Pubertät). Diese Aussage kann leicht falsch verstanden werden. Denn damit ist nicht gemeint, dass Autismus bei Mädchen wirklich später beginnt als bei Jungen.

Nicht autistisch = neurotypisch?

Mit dem Begriff »neurotypisch« werden Menschen mit einer »normalen« Gehirnentwicklung beschrieben. Er wird in Abgrenzung zum Begriff »neurodivergent« gebraucht, der für eine abweichende neurologische Entwicklung (z. B. Autismus) steht. In der autistischen Community wird der Begriff »neurotypisch« zumindest von einigen abwertend gegenüber nicht autistischen Menschen gebraucht. Er hat sich umgangssprachlich trotzdem etabliert, um – in Abgrenzung zu autistischen – nicht autistische Personen zu beschreiben. Du findest den Begriff daher auch hin und wieder in diesem Buch. Wir schließen, wenn wir neurotypisch schreiben, übrigens auch Frauen und Mädchen mit anderen Entwicklungsstörungen (z. B. AD(H)S) ein.

Damit du etwas konkretere Vorstellungen davon bekommst, was die Besonderheiten von Autistinnen sind, wollen wir sie dir im Folgenden erklären und einige Beispiele nennen:

1. Schwierigkeiten in der Kommunikation und sozialen Interaktion

Kommunikation und soziale Interaktion können in die folgenden Fertigkeiten untergliedert werden: gesprochene Sprache, nonverbale Signale, Reaktion auf andere Personen, Interaktion mit anderen Personen, Blickkontakt, Gesten, Ideen und Vorstellungskraft. Es sind also eine ganze Reihe von Bereichen, in denen es zu Schwierigkeiten kommen kann. Vieles, was wir in der Kommunikation und der sozialen Interaktion tun, setzt sich aus mehreren dieser Bereiche zusammen. Es handelt sich insofern um komplexe Anforderungen, die an die Beteiligten gestellt werden.

Endgegner: Small Talk

Sprache ist ein grundlegendes Kommunikationsmittel der Menschen. Sind die sprachlichen Fähigkeiten eingeschränkt, führt das zu erheblichen kommunikativen Hürden. Die Sprachentwicklung kann bei Autismus beeinträchtigt sein, muss sie aber nicht. Das Autismus-Spektrum ist diesbezüglich sehr breit aufgestellt und reicht von Menschen, die gar nicht mit Worten kommunizieren, bis hin zu sprachlich überdurchschnittlich begabten Personen. Mädchen mit Sprachentwicklungsverzögerung und bzw. oder zusätzlichen intellektuellen Einschränkungen werden in der Regel früher diagnostiziert, da diese Auffälligkeiten kaum zu übersehen sind.

Doch auch bei einer altersgerechten Sprachentwicklung kann es Auffälligkeiten in der Art und Weise geben, wie gesprochen wird. Oft ist die Stimmmelodie, genannt »Prosodie«, weniger variantenreich, oder es gibt Schwierigkeiten beim Verstehen nicht wörtlich gemeinter Sprachelemente (z. B. Redewendungen, Scherze). Auch neigen viele autistische Kinder und Erwachsene dazu, wie ein kleines Echo nachzusprechen, was ihr Gegenüber gesagt hat (»Echolalie«), anstatt selbst Formulierungen zu finden. Echolalie ist ein Teil der normalen Sprachentwicklung, tritt aber im Regelfall als vorübergehende Phase auf.

Und dann ist da noch dieser Small Talk: eine Gewohnheit neurotypischer Menschen, die etwa ab dem Jugendalter einsetzt und sich später in so ziemlich allen anderen Bereichen sozialen Miteinanders abspielt. Autistinnen äußern häufig Unverständnis gegenüber dieser Gepflogenheit, oberflächliche Floskeln und irrelevante Informationen auszutauschen. Die Probleme mit dem Small Talk reichen von nicht können bis nicht wollen:

»Ich verstehe den Sinn von Small Talk nicht. Ich finde das nicht wichtig. Ich habe mir inzwischen ein paar Fragen und Themen zurecht gelegt. Meistens lasse ich aber die anderen reden. Um nicht ohne echtes Interesse nach dem Befinden anderer Leute fragen zu müssen, denn das wäre eine Lüge, habe ich mir angewöhnt, stattdessen zu sagen: ›Hey, na?‹«.

Du sagst A und dein Gesicht sagt B?

Die intuitive Kommunikation durch Mimik und Gestik ist bei Autistinnen deutlich reduziert. Schon kleine autistische Kinder zeigen weniger auf Dinge, um auf diese aufmerksam zu machen, und lächeln seltener spontan zurück, wenn sie angelächelt werden. Dieses Weniger an mimischem Ausdruck führt bei ihren Mitmenschen oft zu Irritation und wird zu Unrecht als Desinteresse interpretiert.

Die Mutter einer Autistin berichtete, man habe oft nicht erkennen können, ob eine Information bei ihr »angekommen« sei. Auch habe man nicht sehen können, in welchem Gefühlszustand sie sich befinde. Sie habe diese fehlenden Rückmeldungen als Desinteresse oder fehlende Manieren gewertet. Die Autistin selbst merkte dazu an, ihr werde noch heute oft gesagt, dass sie ein »Resting Bitch Face« habe.

Besonders unangenehm ist es, wenn die Mimik nicht nur reduziert ist, sondern überhaupt nicht zur Situation passt. Grinsen auf einer Beerdigung ist ein extremes, aber nicht erfundenes Beispiel für unpassende und für die Mitmenschen sehr irritierende Mimik (»Findet sie das lustig? Oder ist sie so kaltherzig?«, »Tickt sie nicht richtig?«).

Schau mir in die Augen, Kleines!

Viele autistische Frauen und Mädchen empfinden Augenkontakt als sehr unangenehm, irritierend, ablenkend oder einfach »zu viel«. In der Kindheit wird fehlender Blickkontakt unter Umständen als Zurückhaltung oder Schüchternheit interpretiert. In manchen Fällen wird er auch als unhöflich gedeutet. Durch die wiederholten Aufforderungen der Erwachsenen, ihnen gefälligst »in die Augen zu schauen, wenn ich mit dir rede«, lernen die allermeisten Autistinnen im Laufe ihres Lebens, so auszusehen, als würden sie tatsächlich Blickkontakt halten. Nur den wenigsten Menschen dürfte auffallen, dass ihr Blick nicht direkt auf die Augen, sondern häufig zwischen die Augen oder auf den Mundbereich gerichtet ist. Vielfach bleiben dennoch subtile Auffälligkeiten bestehen, zum Beispiel Schwierigkeiten beim Blickwechsel in Situationen mit mehreren Personen oder auch, dass der Augenkontakt zu lange und »starrend« geschieht. Oft genug bemerkt das ungeschulte Umfeld aber nichts von der ganzen Anstrengung.

Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Die Welt autistischer Frauen und Mädchen« bietet den Rest des Kapitels und vieles mehr.

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