Leseprobe »Ein Kopf voll Gold«: Neurodivergenz: Ein Begriff mit neuer Perspektive
Wie der Titel bereits vermuten lässt, wird in diesem Buch der Begriff der Neurodivergenz beziehungsweise die Zuschreibung »neurodivergent« eine zentrale Rolle spielen. Es sind verhältnismäßig junge Beschreibungen, aber sie sind bedeutungsvoll aufgeladen. Denn sie stehen für jahrzehntelanges Ringen um gesellschaftliches Inkludieren von Personengruppen, deren Gehirn anders funktioniert, als dies den allgemeinen Erwartungen entspricht. Diskussionen um Begrifflichkeiten sind ein wichtiger Prozess. Wenn es darum geht, neurodivergenten Menschen aufgeschlossen und stärkenorientiert zu begegnen, dann hat die Wahl unserer Worte einen bedeutenden Einfluss. Und so macht es beispielsweise einen Unterschied, dass wir auf Beschreibungen wie »normal« und »nicht normal« verzichten. Sprache formt Denken. Sprache formt Haltung.
Neurodivers oder neurodivergent?
Neurodiversität beschreibt schlichtweg die gesamte Vielfalt neurologischer Gegebenheiten innerhalb einer Gruppe. So wie wir uns im äußeren Erscheinungsbild voneinander unterscheiden, groß oder klein sind, verschiedene Haarfarben haben, so gilt das auch für die Art und Weise, in der unser Gehirn uns wahrnehmen, denken und fühlen lässt. Jeder Mensch zeigt da individuelle Ausprägungen. Dieser Blickwinkel entstand in den 1990er-Jahren. Maßgeblich an dieser Bewegung beteiligt war Judy Singer. Sie wehrte sich als Tochter einer autistischen Mutter entschieden gegen die Pathologisierung von Denkstrukturen und Verhaltensweisen, die nicht der gesellschaftlich festgesetzten Norm entsprachen.1 Zentrale Idee des Konzepts der Neurodiversität ist es, neurologische Vielfalt als gewinnbringende Selbstverständlichkeit zu sehen und nicht als etwas, das mit allen Mitteln angeglichen werden müsse. So ist der Weg geebnet, das Potenzial und die Stärken der jeweils unterschiedlichen Funktionsweisen unserer Gehirne zu erkennen und auch zu nutzen.
Neurodivergenz beschreibt das Phänomen, dass es innerhalb dieser vorhandenen Vielfalt Personen mit abweichenden, also divergenten neurologischen Strukturen gibt, die außerhalb dessen liegen, was als generelle Norm wahrgenommen wird. In unserer Gesellschaft und Kultur wurden beispielsweise über die Jahrhunderte trotz unserer äußerlichen Vielfältigkeit immer bestimmte, sich durchaus aber wandelnde Erscheinungsbilder als »normschön« etabliert. Und ebenso ordnete man auch bestimmte Verhaltensweisen sowie Denk- und deren Wahrnehmungsstrukturen als das Reguläre ein. Alle Menschen, die sich anders verhielten oder wahrnahmen, fielen aus diesem Rahmen und galten als auffällig. Und genau diese Unterscheidung wird seit Anfang der 2000er-Jahre mit den gegenüberstehenden Begriffen »neurotypisch« und »neurodivergent« beschrieben. Neurodivergente Gruppen oder Einzelpersonen entsprechen also in der Funktionsweise ihres Gehirns nicht der neurotypischen Norm. Die autistische Aktivistin Kassiane Asasumasu beschreibt dies so: »Neurodivergent bezieht sich auf neurologisch abweichend von typisch. Das ist alles.«
Gängige Beispiele für neurodivergente Formen sind:
- Autismus-Spektrum
- ADHS
- Legasthenie
- Tourette-Syndrom
- Dyskalkulie
- Hochbegabung
- Dyspraxie
- AVWS (= Auditive Verarbeitung- und Wahrnehmungsstörung)
Auch Hochsensibilität, Synästhesie, Epilepsie, das Downsyndrom, Depression oder Gehirnveränderungen infolge von Trauma werden oft als weitere Formen von neurologischer Divergenz genannt. Es gibt tatsächlich keine klare Trennschärfe, welche Formen sich letztlich unter diesem Begriff sammeln lassen. Wer sein Kind oder seine Schüler*innen in einer dieser Richtungen wiederfindet, darf sich in den Ausführungen und Anregungen dieses Buches repräsentiert fühlen.
Die Gegenüberstellung »neurotypisch« im Gegensatz zu »neurodivergent« wird aber durchaus auch kritisch gesehen. Denn neurotypisch ist letztlich ja kein tatsächlicher Zustand der Normalität, sondern eben eine kulturell und gesellschaftlich konstruierte Norm, die es zu überdenken gilt. Bisweilen ermöglichen diese Begriffe aber erst mal einer neurologischen Minderheit, sich selbst besser beschreiben zu können und das Reden über ihr Leben und ihre Erfahrungen zu erleichtern, ohne dabei die stark urteilenden Bezeichnungen »normal« oder »nicht normal« benutzen zu müssen.
Woher kommt’s?
Bei den meisten neurodivergenten Formen ist eine endgültige Klärung der genauen Ursachen noch nicht komplett abgeschlossen. Was mittlerweile aber als gesichert gilt, ist die genetische Komponente. Darum ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass neben dem Kind auch weitere Familienmitglieder neurodivergent sind. Im Bereich des Autismus-Spektrums stehen außerdem die Einnahme verschiedener Medikamente sowie bestimmte Krankheiten der Mutter während der Schwangerschaft (z. B. Röteln, oder auch Diabetes) und einige Geburtskomplikationen im Verdacht, Risikofaktoren für Kinder zu sein. Impfungen sind heutzutage als Ursache für Neurodivergenz ausgeschlossen.
Ein recht neues Forschungsfeld, das derzeit deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommt, ist die Kommunikation und Wechselwirkung zwischen Darm und Gehirn. Konkret wird dabei untersucht, welcher Zusammenhang zwischen Darmbakterien und Erscheinungsformen wie zum Beispiel Autismus bestehen kann. Auch wenn sich noch keine fundierten Aussagen ableiten lassen, so verstärken sich Vermutungen, dass hier Wechselbeziehungen bestehen, die wiederum Türen für neue Therapie- und Unterstützungsmöglichkeiten öffnen würden.
Und letztlich haben natürlich auch Umweltfaktoren und psychosoziale Faktoren Einfluss auf neurodivergentes Verhalten, auch wenn sie nicht als direkte Ursache gelten. Erziehungsansätze sind also ausdrücklich nicht der Grund für eine Neurodivergenz. Ungünstige Entwicklungsbedingungen können allerdings herausfordernde neurodivergente Merkmale deutlich verstärken, während günstige Voraussetzungen im Umfeld eine Potenzialentfaltung fördern.
Störung, Krankheit, Behinderung?
Neurodivergenz ist eine gleichwürdige, aber eben nicht neurotypische Variante menschlicher Denk- und Wahrnehmungsstrukturen. Die Frage ist bislang aber noch, wie wir die zugeordneten Formen (ADHS, Autismus-Spektrum, Legasthenie etc.) kategorisieren. In der momentanen Diagnostik werden viele dieser Varianten off iziell mit dem Begriff der Störung umschrieben (z. B. »AutismusSpektrums-Störung«). Diese Bezeichnung wird von neurodivergenten Menschen meist abgelehnt, weil eine negative Bewertung mitschwingt: »Da stört etwas. Da ist etwas nicht so, wie es für uns sein soll. Das muss behoben werden.« Darum wird in der alltäglichen Sprache auf den Zusatz »Störung« eher verzichtet und gesagt: »Das Kind liegt im Autismus-Spektrum«. Gleichzeitig steckt in dem Begriff eine Perspektive, die ich als selbst neurodivergente Person durchaus wahrnehme. Denn manchmal stört mein Gehirn mich sehr wohl bei der Durchführung von Aktivitäten oder Vorhaben. Ich möchte etwas wirklich gerne umsetzen, aber die Art, wie ich denke und fühle, macht es mir schwerer, das auch zu tun. Ein Leidensdruck, den ich von vielen neurodivergenten Menschen kenne. Allerdings braucht es für mich dafür nicht den ständigen Zusatz »Störung« in der Bezeichnung meiner Neurodivergenz. Ich kann diese Anstrengung einfach beschreiben.
Jüngst gab es diesbezüglich eine spannende Bestätigung aus Fachkreisen. An der Robert Gordon University in Aberdeen fand Adam Abdulla in Versuchen heraus, dass sich die Verwendung des Wortes »Schwäche« vor allem bei Menschen mit geringer Selbstwirksamkeitserwartung negativ im Lernprozess auswirken kann. Der Ausdruck »Schwäche« wird hierzulande derzeit bei der Bezeichnung »Lese-Rechtschreib-Schwäche« oder der »Rechenschwäche« explizit verwendet. Ein weiterer Anhaltspunkt, solche Begrifflichkeiten zeitgemäßer zu gestalten.
Für bestimmte neurodivergente Formen kann offiziell ein Grad der Behinderung festgestellt werden. Das trifft dann zu, wenn Teilhabebeeinträchtigungen vorliegen. Ein konkretes Beispiel dafür ist etwa die eingeschränkte Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Manche neurodivergente Menschen sind mit der dortigen Reizfülle (Geräusche, Gerüche, Nähe zu anderen Personen) stark überfordert und können sich dieser Situation nur schwer bis überhaupt nicht stellen.
Über die Frage, ob Neurodivergenz prinzipiell eine Behinderung darstellt, wird innerhalb der Community neurodivergenter Menschen stark diskutiert. Die ADHSlerin und Bestsellerautorin des Buches Kirmes im Kopf Angelina Boerger schreibt dazu: »Nicht nur offizielle Stellen und Außenstehende erkennen ADHS nicht als Behinderung an, auch vielen ADHSlerinnen fällt es schwer, sich als behindert zu sehen, obwohl sie in einer Welt leben, die sie permanent be-hindert.« Eine Begründung dafür sieht sie im Begriff selbst und seiner gesellschaftlich negativen Wahrnehmung. Sie zitiert dazu die Antidiskriminierungsaktivistin Luisa L’Audace, die in einem ihrer Instagram-Posts schreibt: »Viele Menschen neigen dazu, den Begriff ›behindert‹ zu umgehen, weil er auch als Schimpfwort missbraucht wird. Sie nutzen lieber sogenannte Euphemismen wie ›Handicap‹ oder ›besondere Bedürfnisse‹ […]. Die Folge: Der Begriff, der eigentlich eine neutrale Selbstbezeichnung ist, wird weiterhin tabuisiert und macht es behinderten Menschen schwerer, sich damit zu identifizieren.«
Für Eltern neurodivergenter Kinder würde an dieser Begrifflichkeit vermutlich auch eine andere Identifikation mit der eigenen Elternschaft hängen. Eltern von behinderten Kindern bezeichnen sich deutlich selbstverständlicher als pflegende Eltern. Und damit geht durchaus eine bewusste Wahrnehmung der vielen zusätzlichen elterlichen Anforderungen einher. Diesen auch begrifflich ganz bewusst zu begegnen, wäre eine wertvolle Ausgangslage, um sich selbst als Eltern auf diesem Weg zu verstehen und zu unterstützen.
Während also erst mal abzuwarten bleibt, wie mit der Begrifflichkeit einer Behinderung in Bezug auf Neurodivergenz künftig umgegangen wird, wird die Einordnung als Krankheit klar abgelehnt. Dieser Begriff ist negativ behaftet, pathologisierend und sorgt damit in der Begleitung neurodivergenter Personen für einen defizitären Blick. So ging es viele Jahre oft nur darum, neurodivergente Verhaltensweisen zu therapieren, anzugleichen oder abzuschwächen. Verbunden mit der durch den Krankheitsbegriff geformten Einstellung: »Das ist nicht richtig, das muss weg«. Genau dieser Ansatz verändert sich merklich, und es wird eher über verschiedene Formen des menschlichen Seins gesprochen, die an machen Stellen Herausforderungen und Unterstützungsbedarf mit sich bringen, aber auch ein deutliches Potenzial. Das eröffnet neue Richtungen im Umgang mit neurodivergenten Ausprägungen und ebnet den Weg für die so wichtige stärkenorientierte Begleitung.
Achtsame Sprachwahl
Aufgrund dieses Bewusstseinswandels, Neurodivergenz nicht mehr einseitig defizitär zu betrachten, werde ich in diesem Buch auch umsichtig mit diesbezüglichen Begriffen umgehen. So verzichte ich auf das Wort »Betroffene«, wenn ich über neurodivergente Kinder und ihre Familien spreche. Von etwas betroffen zu sein, wird nämlich oft mit Aspekten wie Ohnmacht, (Mit-)Leid oder negativem Schicksal aufgeladen.
Auch die offizielle Forschung beschäftigt sich mittlerweile mit der Bedeutung von Kommunikation über Neurodivergenz. So sollten etwa Aussagen wie »Ein Kind ›leidet‹ an Autismus« eher ersetzt werden durch die simple Beschreibung von Auswirkungen eines Lebens mit Autismus: »Meine Tochter ist Autistin, darum braucht sie in Stresssituationen ein Fidget Toy.« Auch Worte wie »Symptome«, die eben häufig eher im Kontext von Krankheitsbildern fallen, lassen sich gut gegen Begriffe wie »Anzeichen«, »Züge« oder »Merkmale« austauschen.
Ein weiterer Diskussionspunkt ist die konkrete Benennung der Neurodivergenz eines Menschen. Häufig wird dabei auf Formulierungen wie »Mensch mit Autismus« zurückgegriffen. Die darin enthaltene Trennung und Abkopplung der eigenen Person von ihrer Neurodivergenz wird aber in diesem Fall von Autist*innen selbst nicht als positiv wahrgenommen. Viele bevorzugen eher die Bezeichnung »autistische Person« oder »Autist*in«. Auch darauf werde ich in diesem Buch, so weit wie möglich, Rücksicht nehmen.
»Aber die ist doch so lieb«: über Geschlechterrollen
Ein weiterer besonders wichtiger Aspekt darf in diesen einführenden Worten nicht fehlen – das Thema Geschlecht und Neurodivergenz. Denn die Forschung hat sich in diesem Bereich viele Jahre, mal salopp ausgedrückt, wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Sehr prominentes und aktuelles Beispiel ist das Gebiet der ADHS. Über Jahrzehnte wurde dieses neurodivergente Verhaltensspektrum nahezu allein Jungen zugeschrieben. Auch die Forschung bezog sich fast ausschließlich auf Beobachtungen und Werte junger männlicher Patienten. Dementsprechend wurden bis zuletzt in den ADHSBewertungsskalen Verhaltensweisen hervorgehoben, die tendenziell häufiger bei Jungen auftreten. Seit einigen Jahren weiß man, dass eine ADHS bei Mädchen und Jungen gleichermaßen vorkommen kann und dabei verschiedene Ausprägungsformen durchaus vom Geschlecht abhängig sein können.
Während Jungen oder Männer in ihren Verhaltensweisen häufig »nach außen« (z. B. aggressives Verhalten) gehen, agieren Mädchen oder Frauen oft nach innen gerichtet (z. B. depressive Stimmungen, Schamgefühl). Dr. Florence Mowlem, Spezialistin im Gebiet der ADHS-Forschung, erkennt bei vielen Mädchen stärker ausgeprägte soziale Kompetenzen als bei Jungen, aufgrund derer sie es oft schaffen, ihre ADHS-spezifischen Verhaltensweisen lange zu kompensieren. Sie ordnen sich unter, tauchen ab und passen sich an. Je nach Quelle variierend sind Jungen daher im Schnitt vier- bis sechsmal häufiger diagnostiziert als Mädchen.11 Sehr ähnlich ist die Lage auch bei weiblich sozialisierten Personen im Autismus-Spektrum.
Da zeitgemäße Forschungsergebnisse erst nach und nach in die diagnostischen Abläufe finden, werden Mädchen bis heute im Kindesalter seltener diagnostiziert. Viele bekommen, wenn überhaupt, erst im Erwachsenenalter ihre Diagnose. Eine Entwicklung, die sich derzeit ganz konkret beobachten lässt, da aktuell immer mehr Frauen öffentlich von ihrer späten Diagnose berichten. Es stellt sich oft die Frage, ob eine solch verzögerte Diagnostik denn so problematisch sei, schließlich hätten doch eben viele Mädchen bis dahin nach außen meist sehr kompetent »funktioniert«. Was es sie gekostet hat, wird oft erst auf den zweiten Blick klar. So haben viele Frauen bis zu ihrer Diagnose nicht selten unterschiedlichstes Suchtverhalten, psychische Erkrankungen, eine Neigung zu Selbstverletzungen oder Essstörungen entwickelt, die ihre Lebensqualität erheblich einschränken. Darum ist es besonders wichtig, hier bereits in Kinderjahren sehr genau hinzuschauen.
Ein Kopf voll Gold: Neurodivergenz als Stärke
Der Titel dieses Buches holt nun etwas in den Fokus, das viele Jahre im defizitären Blick auf Neurodivergenz entschieden zu kurz kam – das Potenzial neurodivergenter Wahrnehmungs- und Denkstrukturen. Schon Kinder sollen unbedingt erkennen dürfen, welche Stärken in ihrer Neurodivergenz liegen. Sie sollen erleben, dass ihre Art, die Dinge zu verstehen und wahrzunehmen, nicht nur Herausforderungen, sondern auch sehr positive Fähigkeiten mit sich bringt. Kinder mit ADHS beispielsweise verfügen nicht selten über einen herausragenden Gerechtigkeitssinn, den sie mit der entsprechenden Begleitung gewinnbringend für sich und die Gemeinschaft nutzen können. Autistische Kinder etwa enttarnen Unehrlichkeit mit ziemlicher Treffsicherheit. Eine Kompetenz, die später in bestimmten Berufszweigen von großem Wert sein kann. Und Kinder mit einer auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung haben beispielsweise oft einen Blick für Details, die anderen verborgen bleiben.
Es ist für neurodivergente Kinder unheimlich wichtig, dass ihre Bezugspersonen nicht mehr nur einen sorgenvollen, sondern auch einen ebenso stärkenorientierten Blick auf sie richten. Sie sind auf diese Perspektive angewiesen. So haben sie langfristig die Chance, ihrer Neurodivergenz positiv zu begegnen, eigene Fähigkeiten zu entdecken und ein möglichst gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen. Und darum ist es mir wichtig, die Gesamtbreite an Ressourcen und wunderbarem Potenzial ebenso deutlich aufzuzeigen wie die an Herausforderungen. Wir brauchen die Kenntnis beider Seiten, um neurodivergente Kinder auf Augenhöhe sicher und entwicklungsförderlich zu begleiten.
Neurodivergenz als evolutionärer Vorteil?
Und wenn wir beim Thema Stärken sind, dann möchte ich unbedingt noch aktuelle Forschungsergebnisse aufgreifen, die ebenfalls einen positiven Blick auf Neurodivergenz richten. Ein Team aus Forscher*innen der University of Pennsylvania kommt beispielsweise in einer jüngst veröffentlichten Studie zum Thema ADHS zu dem Schluss, dass entsprechende Merkmale in der menschlichen Evolutionsgeschichte sogar ein Vorteil gewesen sein könnten. Denn wären diese Merkmale wirklich negativ gewesen, dann sollte man laut David L. Barack, Leiter der Forschungsgruppe, meinen, dass sie durch die Evolutionsprozesse hätten aussortiert werden müssen. Nicht nur das Fortbestehen von ADHS oder ADHS-ähnlichen Zügen, sondern auch ihre bis heute andauernde starke Verbreitung lässt darauf schließen, dass diese Merkmale zu einem früheren Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte eine wertvolle Rolle gespielt haben. Insbesondere gilt das laut der Studie für den Bereich der Nahrungsbeschaffung. Menschen mit einer erhöhten Impulsivität und einem höheren Bewegungsdrang waren tendenziell viel eher dazu bereit, neue Gebiete und damit neue Nahrungsquellen zu erschließen. Ein Umstand, der eventuell unser Überleben gesichert hat. Mit dem sesshaften Lebenswandel der Menschen veränderte sich das alltägliche Anforderungsprofil, und ihre einst so hilfreichen Eigenschaften wurden für Menschen mit ADHS-Merkmalen plötzlich mehr und mehr zu einem Hindernis in der Alltagsbewältigung. Ein sehr eindrucksvolles Beispiel dafür, dass es oft einfach der Rahmen ist, der über die Bewertung neurodivergenter Verhaltensweisen entscheidet.
Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Ein Kopf voll Gold« bietet den Rest des Kapitels und mehr.
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