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Leseprobe »Wutkraft«: Entdecke die Kraft der Wut

Seit Kindertagen haben wir gelernt, Wut zu unterdrücken, gilt sie doch als Zeichen der Zerstörung. Das ist fatal, denn Wut ist ein Gradmesser für unser Wohlbefinden. Wer ihr nicht zuhört, läuft Gefahr, den Zugang zu den eigenen Bedürfnissen zu verlieren, krank zu werden und eine Depression zu entwickeln.

Wut im Körper – Fluch und Segen

Unser Körper ist ein wahres Wunderwerk – es laufen in jeder Sekunde des Lebens höchst komplexe Vorgänge in ihm ab, gleichgültig, ob wir gerade einen Marathon laufen, spazieren gehen, bei der Arbeit sind oder schlafen. Unser Körper bewegt uns durch das Leben und macht uns handlungsfähig. Eine seiner weiteren großen Fähigkeiten ist es, uns Botschaften zu senden. Eine schmerzende Druckstelle am Fuß zeigt an, dass die neuen Schuhe zu eng sind. Das Magendrücken nach einer üppigen Mahlzeit signalisiert, dass diese Art des Essens weniger bekömmlich für uns ist. Hormone, die uns durcheinanderwirbeln, informieren uns über Stress und Anspannung. Doch oft überhören wir die Signale des Körpers, sind gerade auf etwas anderes fokussiert oder nehmen seine Botschaften nicht ernst. In vereinzelten Situationen mag das kein großes Problem sein, doch wenn wir diese hilfreiche Instanz generell vernachlässigen oder gar gegen sie operieren, entfernen wir uns auch von uns selbst und laufen Gefahr, wichtige Bedürfnisse zu ignorieren. Ein achtsamer Umgang mit unserem Körper und seinen Signalen verhilft uns dazu, dass wir uns im Hier und Jetzt mit all unseren Sinnen erleben und Entscheidungen für uns, unser Wohlbefinden und unser Miteinander mit anderen treffen können. Auch für unsere Emotionen und Gefühle ist der Körper eine wichtige Schalt- und Meldestelle. Spalten wir Gefühle ab oder unterdrücken sie, kann das weitreichende Konsequenzen für unser Leben haben, nicht zuletzt für unsere Gesundheit und unsere Zufriedenheit.

Dass Menschen, die zu heftigen Wutausbrüchen und Bluthochdruck neigen, ein höheres Herzinfarktrisiko haben, ist lange bekannt. Der Psychoanalytiker und Mitbegründer der Psychosomatik, Franz Alexander, hat schon im Jahr 1939 unterdrückten Ärger in Zusammenhang mit Bluthochdruck sowie mit Depressionen und Bulimie gebracht. Ein Forscherteam um Constanze Leineweber vom Stress Research Institute der Universität Stockholm knüpfte 1992 hieran an und stellte in einer Langzeitstudie fest, dass diejenigen, die in ihrem Beruf regelmäßig Ärger hinunterschluckten, ein doppelt so hohes Risiko aufwiesen, herzkrank zu werden. Peter A. Levine verweist in seinem Buch Sprache ohne Worte auf eine Studie des amerikanischen Universitätsprofessors Timothy Smith aus dem Jahr 2006, mit der er die Folgen von Feindseligkeit bei Ehekonflikten bei 150 Paaren erforschte. Die Teilnehmer waren fast alle über sechzig Jahre alt. Es stellte sich heraus, dass Frauen, die bei einem Ehestreit nicht über die Meinungsverschiedenheit reden konnten, mit einer größeren Wahrscheinlichkeit an Arteriosklerose erkrankten.

Der kanadische Mediziner Dr. Gabor Maté hat wohl eine der bedeutendsten jüngeren Untersuchungen zum Zusammenhang von unterdrückten Emotionen und dem Immunsystem durchgeführt. Er fand heraus, dass bei Frauen, die an Brustkrebs erkrankt sind und die es gewohnt sind, Ärger nicht auszudrücken, die sogenannten natürlichen Killerzellen – eine Gruppe der Immunzellen, die fremdartige Bakterien, Viren sowie bösartige Zellen attackieren  – vermindert aktiv sind. Aktive natürliche Killerzellen beschützen unsere Grenzen. Doch nicht nur Frauen, die ihre persönlichen Grenzen emotional nicht ausdrücken, entwickeln nach Dr. Gabor Maté mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Krankheit. Auch auf Männer trifft dies zu. Gefühle – und ganz besonders unterdrückte  – haben bei Frauen und bei Männern einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Immunsystem.

Aufgestaute Emotionen wie Wut können uns krank machen. Jahrtausendealte fernöstliche Heilmethoden, wie die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), das indische Ayurveda und die schamanische Medizin, sind ganzheitlich ausgerichtet und haben immer auch die Emotionen im Blick. Unsere westliche Medizin tut sich nach wie vor schwer mit der Auflösung ihrer selbst konstruierten Trennung von Körper und Psyche. In der Öffentlichkeit überwog viele Jahre der Streit zwischen Schul- und alternativer Medizin, als ginge es um die Entscheidung zwischen Chemie und Natur, Wissenschaft und Altbewährtem, schneller Apparatemedizin und geduldigem Einfühlungsvermögen. Inzwischen bieten viele Schulmediziner auch komplementäre und alternative Heilmethoden in ihren Praxen an. Wer sich heute mit Magenproblemen zum Hausarzt begibt, wird in der Regel auch gefragt, ob er denn Stress habe. Ebenso etablieren sich unter den Verfechtern ganzheitlicher Medizin und Heilverfahren Arbeitsgruppen, die international Forschung betreiben.

In meiner beruflichen Praxis erfahre ich den Zusammenhang zwischen Körper, Psyche und Emotionen immer wieder, hier ein Beispiel:

Alina ist Mitte vierzig, Grundschullehrerin und Mutter dreier Kinder zwischen zehn und sechzehn Jahren, mit denen sie seit fünf Jahren alleine lebt. Ihre Stimme war sanft, als sie das erste Mal von sich und ihren Beschwerden erzählte: »Ich hatte in den letzten Jahren immer wieder starke Rückenschmerzen, sodass ich an manchen Tagen kaum laufen konnte. Ich dachte manchmal, ich breche einfach auseinander und konnte nur noch heulen.« Sie sei in guter ärztlicher Behandlung, mache Rückenübungen und gehe seit einem halben Jahr auch zweimal die Woche joggen, aber die Schmerzen kämen in Schüben immer wieder. Sie hatte es sich nach eigener Aussage in der Rolle der Helferin und Gebenden eingerichtet: »Ich weiß, dass ich in meinem Leben viel stemme. Drei Jungen allein aufzuziehen und berufstätig zu sein, ist eine ständige Herausforderung.« Ich fragte sie nach Freunden und Hobbys, und sie erklärte, dass dafür in den letzten Jahren einfach keine Zeit geblieben sei: »Jetzt muss sich aber etwas ändern; wenn der Rücken nicht mehr mitmacht, bricht alles zusammen«, sagte sie und ihre Verzweiflung war nicht zu übersehen. Alina begann, ihren Körper und ihre Gefühle zu beobachten und bewusster wahrzunehmen. Sie stellte fest, dass sie in ihrer normalen Körperhaltung so gut wie keine Körperspannung fühlt. Indem sie sich bewusst aufrichtete, spürte sie seit Langem so etwas wie Kraft und auch Zuversicht. »Mir war gar nicht klar, wie deprimiert und freudlos ich bin, ich funktioniere ja eigentlich nur«, erkannte sie für sich. Und mit dieser Einsicht konnte ihre Arbeit an ihren unterdrückten Gefühlen und Emotionen richtig beginnen.

Alina war Einzelkind gewesen, hatte einen cholerischen Vater und eine zur Depression neigende Mutter. Sie hatte es sich als Kind schon früh abgewöhnt, ihre Bedürfnisse zu äußern und ihre wahren Gefühle zu zeigen, zum einen aus Angst vor dem aggressiven Vater und seinen Brüllattacken und zum anderen, weil sie erfahren hatte, dass sie sowieso nicht gehört wurde. Wenn die Mutter ganze Tage schwermütig im Bett verbrachte, hielt das Mädchen den Familienhaushalt am Laufen. Wie jedes Kind wollte sie von den Eltern geliebt werden. Würde sie dem Vater trotzen und der Mutter nicht helfen, fürchtete sie, die Liebe und Versorgung der Eltern zu verlieren. So geprägt ging Alina ins Leben – ihre Wut und Traurigkeit tief in sich vergraben. Erst ihre schmerzende Körpermitte brachte sie auf die Spur, sich ihren unterdrückten Gefühlen und Emotionen zu stellen. Als ich ihr erklärte, wie nützlich gefühlte Wut für uns ist, weil sie uns mit unseren Bedürfnissen in Kontakt bringt, sagte sie erstaunt: »Für mich war Wut immer negativ. Wütend war nur mein Vater, wenn er mal wieder böse auf mich oder meine Mutter war und herumbrüllte. Dann war sein Gesicht ganz hässlich. So wollte ich nie werden.«

Die Annahme, dass es positive und negative Gefühle gibt, herrscht vor. Gefühle haben eine bestimmte Aufgabe. Durch unsere Prägung schieben wir sie in eine bestimmte Schublade. Dabei sind Gefühle neutral und jedes dient uns auf eine spezielle Weise.

Gefühle sind neutral. Auch Wut ist nicht negativ.

In der Kindheit haben jedoch viele von uns vermittelt bekommen, dass Freude etwas Positives ist. Frauen dürfen ihre Traurigkeit zeigen, wobei bei Männern eher der Wutausdruck anerkannt ist. Angst ist unerwünscht und zeugt von Schwäche oder kindlicher Reaktion. Vielleicht hast du selbst in deiner Kindheit Sätze wie diese gehört: »Ein Indianer kennt keinen Schmerz«, »Reiß dich mal zusammen« oder »Stell dich nicht so an«.

Erwachsene, die sich früh in ihrer Kindheit Gefühle wie Wut, Trotz und Ärger verboten haben, taten dies meist aus Angst vor Bindungsverlust, Konflikten und Liebesentzug. Wer seine Gefühle unterdrückt, missachtet die eigenen Bedürfnisse und stellt die Erwartungen der anderen an erste Stelle. Dass die unterdrückten Gefühle uns irgendwann zu schmerzen beginnen, weiß ein Kind natürlich nicht. Es verhält sich aus einer Notlage heraus und sorgt zu dem Zeitpunkt bestmöglich für sich. Eine automatische Vorrichtung, die diese Gefühlshemmung wieder löst, gibt es nicht. Und wenn wir den Eltern entwachsen sind, wissen wir meist nicht einmal, was uns plagt. Die Zuwendung zu den alten Emotionen ist häufig ein schmerzvoller Schritt und erfordert unseren Mut.

Alinas Körper etwa hatte ihr all die Jahre Botschaften geschickt, doch erst als die Schmerzen nicht mehr zu ignorieren waren, hörte sie auf ihn und begab sich auf die Suche nach Heilung. Da ihr die Schulmedizin zwar Linderung, aber keine Heilung brachte, suchte sie nach weiteren Möglichkeiten, sich selbst zu helfen. Erst als sie begann, ihre Traurigkeit und die darunter verborgene Wut mehr und mehr zuzulassen und sie im Körper und in ihren Gedanken nachzuspüren, stellte sich eine nachhaltige Veränderung ein. Nicht nur ihre Rückenschmerzen traten immer seltener auf, Alina empfand auch, dass sie sich zum ersten Mal wohl mit sich selbst fühlte. Seit sie einen Zugang zu ihrer Wut hat, kennt sie ihre Ressourcen und weiß, wie sie für sich eintreten und sorgen kann.

Das Beispiel von Alina zeigt zum einen, wie sich die seit der Kindheit unterdrückte Angst und Wut in körperlichen Schmerzen ausdrückt. Es zeigt auch, welche Konsequenzen ihr Verhalten auf der Beziehungsebene hat. Alina geht seit Kindertagen Konflikten aus Angst vor Liebesentzug aus dem Weg. Dies führte dazu, dass sie den Kontakt zu ihren Eltern verloren hat, denn als Erwachsene und Mutter von drei Kindern konnte sie die Erwartungen der Eltern an eine brave und fleißige Tochter nicht länger erfüllen. Dem längst überfälligen Konflikt wich sie durch Kontaktabbruch aus.

An dieser Stelle möchte ich noch mal darauf eingehen, was Alina den Anstoß gab, sich mit ihren Gefühlen und Emotionen zu beschäftigen: ihr Körper. Als sie zum ersten Mal nach dem Bereich im Körper suchte, der ihre Wut hielt, erinnerte sie sich daran, dass sie als Kind oft wie erstarrt dagesessen hatte. Das war immer dann, wenn der Vater herumgetobt und geschrien hatte. Diese Erstarrung war ihre natürliche Angstreaktion. Auch dann noch, wenn er sich beruhigt hatte, konnte sie sich nicht bewegen. Wie eingefroren habe sie sich gefühlt, der Rücken ganz steif, erzählte sie unter Tränen. Ihre Tränen waren Ausdruck für ihre Traurigkeit und Angst. Als Kind hätte ihr eigener Wutausdruck im Kontakt mit ihrem Vater Gefahr für sie bedeuten können. In diesen Momenten des intensiven emotionalen Ausdrucks war es wichtig, dass jemand bei ihr war, der ihr zur Seite stand, sodass sie die Emotionen aus Kindertagen noch einmal im geschützten Rahmen erleben konnte.

Wut und Körper agieren bei jedem Menschen auf individuelle Art und Weise miteinander. Wer zu Wutausbrüchen neigt, kann die Energie, die damit einhergeht, im Körper deutlich fühlen: Das Herz schlägt schneller und der Blutdruck steigt, die Pupillen werden weiter, Hitze flutet den Körper, Schweißperlen zeigen sich auf der Haut. Auch scheinbar friedfertige Menschen erleben Ärger oder Wut und haben körperliche Reaktionen, spüren zum Beispiel Anspannung und Enge. Bei ihnen sind die Empfindungen gegebenenfalls weniger heftig und deutlich. Es gibt keine allgemeingültige Ausdrucksform von Wut, auch nicht von anderen Gefühlen. Wie sich Wut, Zorn und Ärger ausdrücken, hängt davon ab, welcher Typ wir sind, ob uns diese Gefühle in der Kindheit erlaubt wurden und wie unsere Eltern und andere Bezugspersonen damit umgegangen sind.

Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Wutkraft« bietet den Rest des Kapitels und mehr.

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