Leseprobe »Das kleine Handbuch kognitiver Irrtümer«: Selbstüberschätzung

In den ersten vier Kapiteln ist dargestellt,
- dass wir im täglichen Leben ständig Opfer von kognitiven Fehlleistungen werden, ohne es vielfach überhaupt zu bemerken;
- dass diese Überreste aus prähistorischer Vergangenheit zahlreich sind, auf bestimmte Weise geordnet werden können und teilweise nach ihren Entdeckern benannt sind;
- dass menschliche Erinnerung die Vergangenheit nie korrekt abbildet, sondern stets eine verzerrte Sichtweise bietet; und
- dass Emotionen in Zusammenhang mit Irrtümern und Täuschungen eine gewichtige Rolle spielen können.
Ein Effekt tauchte an verschiedenen Stellen des Textes bereits auf, dessen Bedeutung ein eigenes kompaktes Kapitel rechtfertigt: das Problem der Selbstüberschätzung.
5.1 Eine Verzerrung vorwiegend bei Männern
Über die Beurteilung anderer Personen und die möglichen Fehleinschätzungen haben wir in Abschn. 4.3 gesprochen. Im Folgenden soll es um die Einschätzung der eigenen Person, der individuellen Reflexion von Stärken und Schwächen gehen. Und dabei agiert der Mensch meist deutlich zu optimistisch.
Beispiel: Selbstüberschätzer überall
Ein Blick in die Geschichtsbücher ist bekanntlich sehr lehrreich. Napoleon legte Mitteleuropa in Trümmer, Hitler die halbe Welt. Stalin, Mao und Nordkoreas Kim Il-sung regierten mit eiserner Faust und verursachten mit ihren Wirtschaftsreformen Hungersnöte mit Millionen Todesopfern. Und dies ist nur die absolute Spitze des Eisbergs von Selbstüberschätzern, die kläglich versagt haben.
Greifen Sie sich wie ich oft an den Kopf, wenn Sie Zeitung lesen oder die Nachrichten im Fernsehen oder Internet verfolgen? Borniertheit und Überheblichkeit auch heute überall. Autokratisch durchregierende und sogar (mehr oder weniger) frei gewählte Staatschefs führen durch ihre arrogante und beratungsresistente Art Länder in die Katastrophe, nehmen jahrelange bürgerkriegsähnliche Zustände in Kauf, fördern gesellschaftliche Spaltung und Umweltzerstörung, ignorieren Ökokrise und Covid-19. Viele wirtschaften zugleich auf Kosten ihrer Völker in die eigene Tasche und die ihrer Verwandten und Gefolgsleute. Leider, muss ich als Teil dieser Hälfte der Bevölkerung sagen, nahezu ausschließlich Männer.
Einer der schillerndsten von allen ist der selbsterklärte zweitbeste Präsident der USA aller Zeiten gewesen (nach Umfragen allerdings als drittletzter bestätigt) (Wikipedia 2021) – Donald Trump. Er hat für die Welt zwar viel Unterhaltungswert gehabt (und die Republikanische Partei immer noch fest im Griff), jedoch im Land selbst einen Scherbenhaufen hinterlassen, ohne dies (und seine Abwahl) bis heute wahrhaben zu wollen. Dazu nachweislich 30.573 Falschaussagen, glatte Lügen und irreführende Behauptungen (Washington Post 2021). Statt unbewusster Erinnerungsverfälschung oder falscher Erinnerung (Abschn. 3.1) dürfte dabei Vorsatz im Vordergrund gestanden haben. Bestenfalls mag man bei der Bereitstellung »alternativer Fakten« (Abschn. 11.5) die diskutierte Source Confusion als Erklärung gelten lassen. Er wurde – noch ein Novum – im Juni 2020 von vier noch lebenden Expräsidenten nach dem Tod von George Floyd für seine rassistischen Aussagen kritisiert, nachdem sich schon 2017 Bush Jr. und Obama sehr negativ zu Trumps Art der Amtsführung geäußert hatten (Abb. 5.1).
Doch auch in Deutschland finden sich zahlreiche Beispiele dafür, zu welchen Schäden übertriebenes Selbstbewusstsein und Selbstüberschätzung führen können; denken Sie nur an die CSU-Verkehrsminister und die gescheiterte Pkw-Maut. Auch außerhalb der Politik (teilweise allerdings mit stillschweigender Billigung dieser) findet man leicht Beispiele. Ein Stahlwerk in Südamerika oder die Übernahme eines Giftstoffherstellers in den USA bringen DAX-Konzerne ins Wanken. Die leidige Schummeldiesel-Affäre wurde in Abschn. 1.4 bereits angerissen. Die Liste an Skandalen und Unglücksfällen durch Selbstüberschätzung ließe sich leicht verlängern.
Doch es sind nicht immer nur Kollektive und Leute in Spitzenpositionen, die solch teure und gefährliche Fehlentwicklungen verursachen – manchmal schaffen es auch unscheinbare Einzelpersonen, einen gigantischen wirtschaftlichen Schaden zu produzieren. Ich denke dabei gar nicht an die Patienten 0, die sich zuerst mit AIDS oder (in der aktuellen Pandemie) Covid-19 angesteckt und die Viren ungebremst weiterverbreitet haben. Sondern vielmehr an die Zunft der Investmentbanker, um die es nach diversen Skandalen inzwischen etwas ruhiger geworden ist. Mehr als ein Viertel der Geldmanager fühlt sich durch die Art ihrer Bezahlung unter Druck, Regeln zu brechen. Der wirtschaftliche Schaden riskanter Finanzgeschäfte geht in die zig Milliarden, und ein Ende der teilweise hochriskanten Spekulationen ist nicht abzusehen.
Abschn. 2.3 und 2.4 haben mit zwei illustren Biases eine Einführung in die kognitiven Irrtümer gegeben, die zur Selbstüberschätzung führen:
- der Dunning-Kruger-Effekt (die Tendenz von wenig kompetenten Menschen, das eigene Können zu überschätzen und die Kompetenz anderer zu unterschätzen – die Dummen sind sich so sicher und die Intelligenten voller Zweifel) und
- der Lake-Wobegon-Effekt (die Tendenz der meisten Menschen, sich als überdurchschnittlich einzuschätzen – doch es kann nun mal nicht jeder die hellste Kerze am Leuchter sein).
Diese stehen in Verwandtschaft zu zwei Fehleinschätzungen, die in keinem Lehrbuch über derartige Themen fehlen und die Problematik recht gut auf den Punkt bringen: der Overconfidence-Effekt und der Above-Average-Effekt. Auf diese wollen wir nun etwas genauer blicken.
5.2 Der Overconfidence-Effekt
Der bereits in Abschn. 1.3 eingeführte Overconfidence-Effekt bildet die Grundlage für den Dunning-Kruger-Effekt. Er wird auch kurz als Selbstüberschätzung bezeichnet; weitere deutschsprachige Bezeichnungen sind Vermessenheitsverzerrung, überschätztes Selbstvertrauen, Selbstüberschätzungseffekt und Kompetenzillusion. Es handelt sich um die systematische Überschätzung des eigenen Könnens und der eigenen Möglichkeiten. Einen Grund dafür bietet die WYSIATI-Regel, die in der Verhaltensökonomik zum Oberbegriff der Verfügbarkeitsheuristiken (Availability Heuristic) zählt und sich mit der in Abschn. 4.1 erläuterten Affektheuristik begründen lässt. Das Akronym steht für What You See Is All There Is (»Es zählt nur das, was man gerade vor Augen hat«; auch: voreilige Schlussfolgerungen). Das menschliche Urteil wird davon bestimmt, welche Kombinationen von Ereignissen man gesehen hat, und man denkt nicht an die, die man nicht gesehen oder gerade nicht vor Augen hat (Kahneman 2012, S. 112–116).
Die leichter verfügbare Antwort auf eine einfache Frage ersetzt die schwerer zu findende Antwort auf eine schwierige Frage.
Wahrscheinlichkeiten werden danach beurteilt, wie lebhaft man sich ein Ereignis vorstellen kann. Menschen haben oft vor den falschen Dingen Angst, weil die realen Wahrscheinlichkeiten meist unbekannt oder nicht mit Faustregeln zu fassen sind. Bei Prognosen, Strategien, Entscheidungen usw. richten wir uns nach den Informationen, die wir verfügbar bzw. aktuell vor Augen haben oder die uns spontan einfallen, und konstruieren so eine kohärente Geschichte (als Einführung siehe Kahneman 2012, S. 247–328). Einen Gegenspieler kennt man ebenfalls: der Sadder-but-Wiser-Effekt (Sadder-but-wiser Effect – »trauriger, aber klüger«). Dies ist die Tendenz, dass depressive und ängstliche Menschen ihre Kompetenzen nicht überschätzen, sondern Gefahren höher bewerten und immer damit rechnen, Opfer zu sein (Staw und Barsade 1993). Optimismus hingegen leistet einen wertvollen Beitrag bei der Umsetzung von einmal getroffenen Entscheidungen, da er eine gewisse Widerstandfähigkeit (= Resilienz) gegen Rückschläge verleiht.
Tipp
Bewahren Sie trotz aller noch folgenden Mahnungen Ihren Grundoptimismus, denn dieser stärkt – wie Humor, Empathie und Verantwortungsbewusstsein – Ihre Resilienz.
Allerdings ist es mit dem Optimismus ähnlich wie mit Medikamenten, bei denen »viel hilft viel« ebenfalls nicht gilt: Wer allzu blauäugig in die Zukunft hineinmarschiert und sein Können und seine Fortune deutlich überschätzt, tappt in die erwähnte Falle des Überoptimismus. Dem sind kognitive Effekte nachgeordnet, denen auch unser Pendler Heinz-Walter Nelles in Kap. 1 zum Opfer gefallen ist, etwa Planungsfehlschluss, Kontrollillusion, Verzerrungsblindheit, Spielerfehlschluss und Vernachlässigung von Wahrscheinlichkeiten.
Schädliche Auswirkungen des Overconfidence-Effekts findet man überall, im Kleinen wie im Großen. Und die Lernfähigkeit der Planer, Entscheider, Kontrolleure, Unternehmen und Staaten ist – um es vorsichtig auszudrücken – begrenzt.
Nachfolgend zur Illustration dieses Punkts einige Katastrophen, von denen nahezu jeder gehört hat und die auf eine mangelhafte, durch den Overconfidence-Effekt bestimmte Sicherheitskultur zurückgeführt wurden:
- Untergang der Titanic (siehe auch Abschn. 9.5)
- Absturz der Spaceshuttles Challenger und Columbia
- Atomreaktorkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima
- Ölkatastrophe durch den Brand der Plattform Deepwater Horizon
Ein fiktives Beispiel aus der Wirtschaft – stellvertretend für viele im realen Leben – soll den Denkfehler näher erläutern.
Beispiel: Akquisition in Japan
Die WAFAG, die »Wafer AG«, ist ein Unternehmen aus der Halbleiterbranche mit Hauptsitz in Dresden, das in meinen Seminaren und Büchern relativ regelmäßig auftaucht. Momentan hat man in Sachsen und an den weiteren Standorten rund um den Erdball angesichts der Knappheit an Halbleiterbauelementen viel zu tun und befindet sich finanziell in recht gutem Fahrwasser – obwohl signifikante Engpässe am Beschaffungsmarkt zu überwinden sind.
Das war nicht immer so. Die Halbleiterindustrie hat sich seit ihrem kometenhaften Aufstieg in den 1970er-Jahren in Wellen aus ausgesprochen profitablen Jahren und dazwischenliegenden wirtschaftlichen Dellen mit Verlusten, Übernahmen und Insolvenzen entwickelt. Diese »Schweinezyklus« genannten Intervalle waren früher mit 5–6 Jahren Dauer einigermaßen berechenbar, zeigen aber seit der Dotcomkrise nach der Jahrtausendwende durch neue Technologien vor allem im Automotive- und Energiesektor ein oft erratisches Verhalten, das darüber hinaus in den einzelnen Disziplinen der Wertschöpfungskette variiert.
Herbert Langwasser (41), Diplom-Kaufmann, ist Gruppenleiter im Strategischen Einkauf der WAFAG und für den internationalen Erwerb von Großequipment im Heißprozess- und Messgerätesektor zuständig. Er hatte Glück, in einem Aufschwung eingestellt worden zu sein, und auch die Verwerfungen nach der Qimonda-Insolvenz 2009 waren für die WAFAG eher Chance als Risiko. Doch seine älteren Kollegen erzählen gerne von mehreren Zeiträumen, in denen sich die WAFAG in massiven finanziellen Schwierigkeiten befand, die teilweise existenzbedrohlich waren.
Eine dieser Unternehmenskrisen war einer nicht sehr erfolgreichen Akquisition in Japan nach der Jahrtausendwende zu verdanken. Damals herrschte in WAFAG-Vorstand und -Aufsichtsrat die Meinung, man müsse unbedingt einen Standort in Japan betreiben, um die dortigen Marktanteile zu steigern. Da nach einer Konsolidierungswelle kaum noch mögliche Joint-Venture-Partner verfügbar waren, begnügte man sich mit dem, was übrig war. Entgegen dem erklärten Rat der Technologie- und Finanzfachleute drängte der Hauptanteilseigner auf die enge Kooperation mit einem mittelmäßigen Unternehmen mit marodem Standort in der japanischen Provinz, und so geschah es.
Mehr als zehn Jahre lang versuchten die Experten der WAFAG, mit ihrem Know-how Fertigung, Entwicklung, Qualitätswesen und kommerzielle Prozesse aufzupäppeln, was mehr schlecht als recht gelang. In dieser Zeit gewann Herbert Langwasser zwar neue Freunde unter den japanischen Kollegen, jedoch wenig Vertrauen in das Gelingen der Operation. Nach ein paar Jahren übernahm die WAFAG die Anteile des japanischen Unternehmens am Joint Venture und hatte damit den vollständigen Durchgriff.
Es half alles nichts: Ausbeuten und Qualität der dort hergestellten Halbleiterprodukte blieben ebenso überschaubar wie der technologische Zugewinn. Anteile am japanischen Markt ließen sich mit dieser Akquisition durch einen westlichen Konzern nicht wie gehofft »erkaufen« – japanische Kunden bestellen bevorzugt bei japanischen oder zumindest asiatischen Lieferanten: Es gilt das Prinzip »buy local«. Und gute lokale Mitarbeiter verließen die nun deutsch geführte Tochtergesellschaft. Völlig entnervt entschieden Anteilseigner und Topmanagement nach einigen Jahren, den Stecker zu ziehen und die Fertigungsstelle komplett zu schließen.
Glücklicherweise waren in diesem Fall weder Tote und noch hohe Umweltschäden wie bei den oben genannten Katastrophen zu beklagen. Insgesamt hat dieser durch massive Selbstüberschätzung und Fehlanalyse der lokalen Gegebenheiten verursachte Schaden jedoch mit allen Nebenkosten (etwa gesetzlich festgelegte komfortable Abfindungen für die dort Beschäftigten) die WAFAG weit mehr als 1 Mrd. € gekostet, die letztlich als Sunk Costs, als »versunkene Kosten« (siehe Abschn. 6.2) abzuschreiben waren. Geld, das für andere Entwicklungs- und Investitionsvorhaben dringend benötigt worden wäre.
Der ehemalige US-Präsident George W. Bush wurde bereits erwähnt. Unter seiner Führung (maßgeblich getrieben von »Falken« wie Dick Cheney und Donald Rumsfeld) begannen die militärischen Interventionen 2001 in Afghanistan (mit UN-Mandat) und 2003 im Irak (in völkerrechtlich fragwürdiger Weise mit einer »Koalition der Willigen«, wozu der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder damals »nein« sagte). Beide Abenteuer waren durch Überheblichkeit und Selbstüberschätzung getrieben, und die offiziellen und inoffiziellen Kriegsziele konnten durch gravierende Fehleinschätzung der Voraussetzungen und Rahmenbedingungen nicht erreicht werden. Durch den »Krieg gegen den Terror«, wie es die US-Regierung nannte, starben im Mittleren Osten über 800.000 Menschen. Das US-Militär hatte im Irak fast 4500 und in Afghanistan 1700 Gefallene zu beklagen – die 9/11-Terroranschläge kosteten 3000 Menschen unmittelbar das Leben.Footnote 1 Der Hals-über-Kopf-Abzug aus Afghanistan im August 2021 hat Erinnerungen an die Flucht der US-Truppen im April 1975 aus dem früheren Saigon geweckt.
Eine weitere Beobachtung, die in Verbindung mit dem Overconfidence-Effekt steht und die Brücke zum in Abschn. 5.3 beschriebenen Above-Average-Effekt bildet, ist der Hard-Easy-Effekt (Hard-easy Effect; »Schwer-leicht-Effekt«). Dieser kognitive Irrtum manifestiert sich in der Tendenz, die eigenen Fähigkeiten zur Erledigung einer schwierigen Aufgabe zu überschätzen und leichterer Aufgaben zu unterschätzen. Anfangs in einigen Publikationen angezweifelt, scheint sich das Phänomen in neueren wissenschaftlichen Untersuchungen zu bestätigen (Bordley et al. 2014).
Bei diesen Tests zum Hard-Easy-Effekt erhalten die Teilnehmer Fragen, bei denen sie zwischen zwei möglichen Antworten zu wählen haben, und anschließend werden sie gebeten, zu schätzen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie korrekt geantwortet haben. Die Bewertungen betreffen so unterschiedliche Themenbereiche wie Nobelpreise, Hochschulen, das Vermögen reicher Personen oder den Abstand zwischen zwei Orten. Dabei ist das Paradox statistisch eindeutig nachgewiesen worden: Schwierige Aufgaben führen zu Überoptimismus, leichte Anforderungen zu Unteroptimismus – praktisch das Gegenteil zum Overconfidence-Effekt. Der Grund liegt in einem subjektiven Gefühl für die Selbsteinschätzung, das auch ins Gegenteil umschlagen kann – unabhängig von der Persönlichkeit der Probanden (Burson et al. 2005).
5.3 Der Above-Average-Effekt
Der Lake-Wobegon-Effekt ist wie erwähnt eine spezielle Form der Selbstüberschätzung. Er wird in der psychologischen Fachsprache auch Above-Average-Effekt (Above Average Effect; Überlegenheitsirrtum) genannt. Diese verzerrte Selbsteinschätzung trägt ebenso die englischsprachigen Bezeichnungen Better than Average Effect (»Besser als der Durchschnitt«), Illusory Superiority und Leniency Error (Milde-Effekt, »Fehler der Kronzeugenregelung«; Leniency = mildernde Umstände).
Wie bei der Verurteilung eines Kronzeugen gerne Nachsicht waltet, was nach dem Schuldprinzip problematisch ist, werden beim Above-Average-Effekt zu positive Maßstäbe an die Bewertung von Personen gelegt. Man bewertet z. B. seine Mitarbeiter nach abteilungsübergreifenden Maßstäben übermäßig gut – des lieben Friedens willen. Oder schreibt sich selbst eine überdurchschnittlich hohe Leistungsfähigkeit zu und geht davon aus, dass man über mehr Talent und bessere Möglichkeiten verfügt als Konkurrenten – ein Zeichen von Vernachlässigung der Konkurrenz. Trotz der Verwandtschaft mit dem Hard-Easy-Effekt grenzt sich der Above-Average-Effekt von diesem ab (vgl. Burson et al. 2005). Das folgende (reproduzierbare) Umfrageergebnis bringt das Thema dieses Abschnitts auf den Punkt:
90 % der Autofahrer glauben, überdurchschnittlich gut zu fahren.
Es existieren viele weitere Beispiele, die in dieselbe Richtung weisen. Aktieninvestoren denken regelmäßig und fälschlicherweise, sie können den Markt schlagen. Doch sie werden dabei möglicherweise Opfer der verzerrten Wahrnehmung, bei der leider nur die Erfolgsgeschichten und nicht der Durchschnitt des Anlageertrags zählen. Den psychologischen Befund, dass Menschen über ihre Erfolge deutlich öfter sprechen als über ihre Misserfolge (und die Medien gerade diese Success Stories gerne aufgreifen), nennt man übrigens Self-enhancing Transmission-Bias (»Fälschliche Selbstaufwertung«), ein Fehlschluss in Zusammenhang mit sozialer Interaktion (Han und Hirshleifer 2015). Es gehört meiner Ansicht nach wenig Fantasie dazu, auch außerhalb des Finanzbereichs anschauliche Anwendungsfelder und Beispiele für diese kognitive Fehlleistung zu finden, die auf einer asymmetrischen Darstellung bzw. Berichterstattung beruht.
Zurück zum Above-Average-Effekt und zwei klassischen Beispielen aus der Verhaltensökonomik: Über die Hälfte der Studenten eines Universitätsseminars geht davon aus, nach dessen Abschluss zu den besten 20 % der Teilnehmer zu gehören. Und 94 % der Hochschullehrer sind davon überzeugt, dass sie besser als der durchschnittliche Professor lehren und forschen – nur sehen das ihre Studenten teilweise gravierend unterschiedlich. Mit aktuellem Bezug lässt sich anführen: »Covid-19 bekommen die anderen, aber nicht ich – und wenn schon, dann symptomlos und ohne die Beschwerden von Long Covid.« (Geschätzte 5–10 % überzeugte Impfverweigerer in Deutschland riskieren mit ihrer Ignoranz nicht nur ihre eigene Gesundheit, sondern vor allem die ihrer Mitmenschen.) Ein weiterer gerne auch für den Above-Average-Effekt verwendeter Begriff lautet übrigens Vermessenheit.
Derartige statistisch absurde Fehleinschätzungen trifft man in den verschiedensten Bereichen des täglichen Lebens an, im professionellen wie im privaten Bereich. Menschen schätzen ihre relative Leistungsfähigkeit für jede Aktivität, in der sie einigermaßen passabel sind, in ihrem Optimismus als überdurchschnittlich gut ein. Sie vergleichen sich mit einem Mittelwert der Bevölkerung, ohne jemals über die Konsequenz nachgedacht zu haben (Kahneman 2012, S. 320–322). Die systematische Untersuchung dieses Phänomens begann Anfang der 1990er-Jahre, und es ist leicht nachzuvollziehen, dass alle hier und in Abschn. 5.2 genannten Effekte scheinbarer Überlegenheit in teils enger Beziehung zueinander stehen (Hoorens 1993).
In Abschn. 2.1 sowie an anderen Stellen ist bereits von Gegenspielern die Rede gewesen: kognitive Verzerrungen, zu denen ein Antagonist existiert, der das exakte Gegenteil davon ausdrückt. Zum Above-Average-Effekt existiert – naheliegenderweise – ein Below-Average-Effekt(Below Average Effect; auch: Worse than Average Effect). Dies ist die menschliche Neigung, die eigenen Leistungen und Kompetenzen im Vergleich zu denen anderer als zu gering einzuschätzen (Kruger 1999). Wer kennt nicht selbst manche Duckmäuser, die sich nichts zutrauen aus Angst, in bestimmten Disziplinen, Tätigkeiten und Kompetenzen nicht gut genug zu sein, um mit dem Mainstream mithalten zu können. Doch wie immer hält das Leben mit dem Below-Average-Effekt wiederum einen geeigneten Mittelweg zwischen den Extrema bereit.
Tipp
Seien Sie sich darüber im Klaren, dass auch Sie ein Teil der statistischen Normalverteilung sind. Zweifeln Sie nicht an Ihren Fähigkeiten, überschätzen Sie diese allerdings auch nicht.
Anders als in Lake Wobegon, wo alle Kinder überdurchschnittliche Fähigkeiten besitzen, muss das nicht notwendigerweise für Ihre Kinder gelten – und tut es wahrscheinlich auch nicht. Sehen Sie also nicht in Ihrem Sprössling krampfhaft den nächsten Mozart oder Messi: Die Chancen stehen extrem gegen Sie (und den Nachwuchs). Im Englischen hat sich für dieses übertriebene Anspruchsdenken vorwiegend von chinesischstämmigen Amerikanern den eigenen Kindern gegenüber, denen dadurch vielfach die Jugend oder zumindest Teile davon gestohlen werden, der Begriff Tiger Parenting (»Tiger-Elternschaft«) durchgesetzt – nach dem Buch Battle Hymn of the Tiger Mother der Rechtswissenschaftlerin Amy Chua (2011).
Hier sind einige weitere kognitive Irrtümer aufgelistet, die in inhaltlicher Verbindung zum Above-Average-Effekt stehen.
- Unter dem Self-serving-Bias (Self-serving Bias, auch Self-attribution Bias; »Selbstwertdienliche Verzerrung«) versteht man in der Sozialpsychologie den Trugschluss, Erfolge sich selbst und seinen eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten zuzuschreiben, Misserfolge jedoch anderen oder den begleitenden Faktoren (der Situation, dem Zufall oder dem Versagen anderer) (Miller und Ross 1975). Der Bezug zur in Abschn. 3.2 beschriebenen Egozentrik liegt auf der Hand. Illustre Beispiele finden sich leicht sowohl bei Spitzenpolitikern und Wirtschaftsvertreten als auch im beruflichen oder sportlichen Kollektiv. »Wie habe ich das wieder hinbekommen« und »An mir hat’s nicht gelegen« sind in diesem Zusammenhang typische Aussagen. Die Rolle von CSU-Chef Markus Söder und seiner Kollegen im Bundestagswahlkampf 2021 war ein sehr gutes Beispiel: Freund – Feind – Parteifreund.
- Ebenfalls aus der Sozialpsychologie kommt die Bezeichnung Spotlight-Effekt (Spotlight Effect; »Rampenlichteffekt«). Diesem Phänomen zufolge neigen Menschen dazu, die Aufmerksamkeit ihres sozialen Umfelds zur eigenen Person, im positiven wie im negativen Sinn, zu überschätzen (Gilovich et al. 2000). Doch man ist in vielen Fällen keineswegs so beliebt, interessant und gefragt, wie man meint. Tröstlicherweise gilt das aber auch für das Gegenstück: Fehler und negative Verhaltensweisen werden oft erst dann von anderen bewusst wahrgenommen, wenn sie wiederholt beobachtet werden oder wegen ihrer Heftigkeit nicht übersehen werden können. Allerdings haftet dieses Stigma dem Betreffenden dann meist länger an.
- Der Third-person-Effekt (Third-person Effect; »Effekt der dritten Person«) ist ein medienpsychologisches Phänomen verzerrter Wahrnehmung. Er beschreibt die Tendenz zu glauben, dass die Massenmedien andere stärker beeinflussen als sie selbst, und tritt bei negativem oder unerwünschtem Medieneinfluss auf (etwa bei Gewaltdarstellungen). Davison (1983) geht davon aus, dass der Third-person-Effekt verschiedene Aspekte des Sozialverhaltens erklären kann, unter ihnen die Angst religiöser Führer vor häretischer Propaganda und die Angst autoritärer Staatsführungen vor abweichenden Meinungen (hierzu Abb. 5.2).
- Bleiben noch zwei Effekte zu erwähnen, die mit Naivität zu tun haben. Naiver Zynismus(Naïve Cynicism) ist der Fehler zu glauben, dass andere egozentrischer sind als der Wirklichkeit entspricht oder als man selbst ist (Kruger und Gilovich 1999). Unter der Kombination Naiver Realismus(Naïve Realism) wird die menschliche Fehlannahme verstanden, dass wir die Welt um uns herum objektiv wahrnehmen und dass Leute, die nicht mit uns übereinstimmen, uninformiert, irrational oder voreingenommen sind. Der Naive Realismus bildet die Basis für eine Reihe weiterer systematischer kognitiver Irrtümer zum Denken und zu Entscheidungsfindungen. Diese schließen Verzerrungsblindheit (Abschn. 1.3), Attribution-Bias (Abschn. 4.3) und Übereinstimmungsverzerrung (Abschn. 6.6) mit ein (Ross und Ward 1996).
Tipp
Sehen Sie sich als Teil eines Sozialgefüges, dessen Mitglieder über teils bessere und teils schlechtere Kompetenzen als Sie verfügen. Nutzen Sie die sich bietenden Chancen vor allem in den Bereichen, in denen Sie über dem Durchschnitt liegen, vergessen Sie jedoch auch nicht, an Ihren Schwächen zu arbeiten.
Die wichtigsten kognitiven Effekte in Kap. 5
Der bereits zuvor erläuterte Overconfidence-Effekt bedingt schädliche Selbstüberschätzung; Dunning-Kruger-Effekt und Lake-Wobegon-Effekt tun ihr Übriges.
Hard-Easy-Effekt: Die eigenen Fähigkeiten für eine leichte Aufgabe zu unterschätzen ist nicht gerade karriereförderlich, sich bei einer schwierigen Anforderung zu überschätzen kann jedoch hochgradig gefährlich werden.
Der Overconfidence-Effekt bedingt den Above-Average-Effekt; doch nur etwa die Hälfte ist besser als der Durchschnitt.
Self-serving-Bias: Ich habe alles richtig gemacht, schuld sind stets nur die anderen.
Fußnoten
- 1. Allerdings leiden viele der rund 100 000 Helfer noch immer unter den eingeatmeten giftigen Dämpfen sowie den psychischen Begleiterscheinungen, und die Spätfolgen haben zahlreiche weitere Todesopfer gefordert. Doch man kann Tote nicht gegeneinander »aufrechnen«.
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