Leseprobe »Sicher in unsicheren Zeiten«: Einführung ins Thema – Zeiten des Übergangs

Das erste Kapitel gibt einen Überblick über das Thema Übergangssituationen. Der Leser findet Antworten auf die Fragen: Was zeichnen Zeiten der Übergänge aus? Womit haben wir es zu tun? Was sind die Herausforderungen? Welche Emotionen sind damit verbunden und wie wirken sie sich aus? Zuerst beschreibe ich in einem Überblick die Wesensmerkmale der Übergangssituation, deren anforderungsreichste Form wir als Krise bezeichnen. Die Krise wird in der Psychologie in fünf Phasen unterteilt, welche kurz beschrieben werden. Mit einem Exkurs wird das Phasenmodell auf die Coronapandemie angewendet. Im Weiteren beschreibe ich die individuellen Schwierigkeiten in Übergangs- und Krisenzeiten und lege hier ein besonderes Augenmerk auf das Gefühl der Angst und die Wechselwirkung mit Körper, Verhalten und Gedanken.
1.1 Begriff der Zeit des Übergangs
Der gewohnte Lebensgang wird unterbrochen. Wir werden aus unserem üblichen Trott liebgewonnener Abläufe, eingeschliffenen Denkmustern, Verhaltensweisen und bestehenden Rollen hinausgeworfen. Das sind die Merkmale von Lebensübergängen und Umbrüchen. Wir sind aufgefordert, das Leben neu zu organisieren, unsere Identität neu zu definieren, nach neuen oder veränderten Rollen und Beziehungen zu suchen. Im Moment fühlt es sich an, als ob der Boden unter uns wegbricht. Wir verlieren die Kontrolle und ein Gefühl, in eine Leere zu fallen, kommt auf. Dieser Prozess löst zunächst vor allem Angst aus, wobei diese sich mit anderen Gefühlen wie Wut, Trauer, aber auch Euphorie rasch abwechseln kann. Unsere Sicherheit, in der wir uns einst wiegten, bricht weg und weicht der Erkenntnis, dass nichts sicher ist.
Auslöser für diese Umbrüche sind häufig extern motiviert. Biografisch oder gesellschaftlich. Gesellschaftliche Umbrüche werden durch übergeordnete Ereignisse wie Krieg, 9/11, Pandemie, Industrialisierung, Digitalisierung ausgelöst. Die Gesellschaft als Ganzes unterzieht sich einem fundamentalen Wandel. Betrachten wir das Individuum, muss jedes schließlich auch selbst mit diesem gesellschaftlichen Wandel umgehen und ist mit sich selbst mit Um- und Neudenken gefordert. Biografische Umbrüche betreffen die meisten Individuen in bestimmten Lebensabschnitten: Einschulung, Pubertät, Heirat, Berufseinstieg, Scheidung, Todesfälle, Pensionierung, Krankheit, Altern. Bei individuellen Umbrüchen kann es sich um Gewalterlebnisse, Unfälle, einschneidende körperliche Veränderungen oder Krankheiten, Entlassung, finanzielle Krise, Retraumatisierung handeln. Jene persönlichen Ereignisse, die uns alle irgendwann betreffen, sind normative Übergänge: Einschulung, Geburten, Heirat, Berufseinstieg, Todesfälle, Pensionierung. Sie können wir vorhersehen und uns darauf einstellen oder vorausschauend Kurse besuchen. Unvorhersehbare, also nicht normative Übergänge erwischen uns auf dem »linken Fuß«, sie sind nicht vorhersehbar und lösen deshalb den weitaus größeren Stress aus, welcher sich aufgrund des erlebten Kontrollverlusts bis zur Krise auswirken kann. Beispiele hierfür sind: Unfälle, Todesfälle, Entlassungen, Scheidungen, finanzielle Krisen, plötzlich auftretende Krankheiten.
Heute sind aufgrund der nicht mehr eindeutig standardisierten Lebensläufe die beruflichen Übergänge nicht mehr so klar. Schuldbildung und Lehrberufe sind flexibel gestaltet und Karrierewechsel und Karriereunterbrechungen sind heute üblich. Auch im privaten Bereich wie bei Partnerwechsel und Patchworkfamilien sind wir als Gesellschaft flexibler und mit neuen Denkansätzen unterwegs. Die starren Strukturen weichen unterschiedlichen Lebenskonzepten. Das heißt, dass die normierten Übergänge individualisiert worden sind und jeder Einzelne selbst entscheiden kann, welches Konzept er leben möchte, wann er sich vom einst gelebten Konzept wieder verabschieden und es verändern will. Das bedeutet einerseits, dass das Individuum viel freier in der Lebensgestaltung ist, weil die sozialen Normen durchlässiger sind, birgt aber andererseits eine hohe Anforderung an Gestaltungs- und Selbststeuerungskompetenz. Die Eigenverantwortung, wann und wie es Zeit für einen Lebensübergang – für eine berufliche oder private Veränderung – ist, liegt zunehmend beim Individuum selbst.
In der heutigen durchlässigen und sich schnell verändernden Zeit haben wir mehr Übung darin, Übergänge zu bewältigen, als früher in den starren gesellschaftlichen Strukturen und normierten Abläufen. Frühe Übergangserfahrungen, welche nachhaltig positiv bewältigt worden sind, stärken die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und schaffen Boden für weitere solche Erfahrungen. Die Erfolgserwartung wird gestärkt. Negative Übergangserfahrungen hingegen können den Lebenslauf aus dem Takt bringen und der körperlichen und psychischen Gesundheit schaden. Die Misserfolgserwartung bei nachfolgenden Übergangsereignissen steht dominant im Vordergrund. Wir tun also gut daran, uns mit der Bewältigung von Lebensübergängen sorgfältig auseinanderzusetzen, weil sich diese Ereignisse von der Lebensmitte an bis ins hohe Alter häufen. »Denn Stress ergibt sich keinesfalls automatisch aus schwierigen Ereignissen, sondern ist immer eine Folge ihrer Bewertung bzw. der druckauslösenden Erfahrung fehlender Handlungsmöglichkeiten. Somit wird der Grad der Selbstwirksamkeit zum Dreh- und Angel-Punkt einer mehr oder weniger erfolgreichen bzw. desolaten Lebensbewältigung, zum Maßstab der persönlichen Zufriedenheit« (Wunsch, 2018, S. 18). Die vielzitierte »Gelassenheit« im Alter wird einem nicht geschenkt, sie ist harte Arbeit aufgrund von gemachten Erfahrungen, die reflektiert und bewusst bearbeitet worden sind. Versäumen wir es, Lebensübergänge und damit verbundene Krisen eingehend zu bearbeiten und gut hinzusehen, was mit uns in diesen Momenten passiert, werden die Ängste im Alter eher zunehmen. Verbitterung, Reue, Opferhaltung, Ohnmachtsgefühl, Depression oder andere Krankheiten könnten die Folge von unverarbeiteten schwerwiegenden Ereignissen sein. Von Altersgelassenheit fehlt dann jegliche Spur. Sind also Verdrängung, Schönreden, Ausweichen, Ablenkung und andere Fluchtstrategien vorherrschende Verhaltensstrategien in unangenehmen Situationen, kann dies im Alter zu Realitätsverzerrungen und bizarren Wahrnehmungsmechanismen bis hin zu neurodegenerativen Erscheinungsbildern führen. Damit wird ein Boden für die Vereinsamung geschaffen. Deshalb empfehle ich mit diesem Buch: Schärfen Sie Ihren Blick für sich selbst! Nehmen Sie Ereignisse, die mit Kontrollverlust und Angst und Gefühlschaos verbunden sind, wahr, rennen Sie nicht davor weg, sondern bleiben Sie im Gewahrsein und gehen Sie aktiv und im Mitgefühl mit sich selbst damit um. Trainieren Sie so, sich selbst zu stabilisieren. Eine gute Gelegenheit bieten gerade Zeiten der Verunsicherung, Veränderung, des Übergangs und Umbruchs. Sehen Sie diese mehr als Übungsfelder denn als Schicksalsschläge.
Dieses Buch beschäftigt sich mit unvorhergesehenen einschneidenden äußeren Ereignissen, äußeren Umbrüchen, die bei den Menschen große Verunsicherung und Instabilität auslösen können. Einschneidende und nicht planbare Lebensübergänge können auch als Krisen bezeichnet werden, sie stellen die größte Herausforderung für uns Menschen dar, um gesund und psychisch stabil zu bleiben.
1.1.1 Geplatzte Truthahn-Illusion und Definition der Krise
Nun haben wir es uns gerade so wunderbar stabil eingerichtet. Seit dem Zweiten Weltkrieg mussten wir uns in Europa kaum mehr mit größeren Unsicherheiten und Unberechenbarkeiten auseinandersetzen. Und dann kommt eine Pandemie. Die Gesellschaft, welche Wandel und größere Einschnitte und Veränderungen nicht mehr gewohnt ist, fällt in eine Krise. Wir waren einer »Truthahn-Illusion« verfallen. Gerd Gederenzer beschreibt in seinem Buch Risiko die Truthahn-Illusion sehr amüsant und plastisch. Der Bauer kommt und füttert die neugeborenen Truthähne. Zunächst sind sie scheu und fliehen. Mit der Zeit merken sie, dass der Bauer, wenn er zu ihnen kommt, Futter bringt. Mit jedem Tag, an dem dies so geschieht, verlieren die Truthähne ihre Angst ein bisschen mehr und wiegen sich in immer größerer Sicherheit, dass es der Bauer gut mit ihnen meint. Der Bauer, der da kommt, bringt Futter; die Gefahr, dass er mir böse will, nimmt mit jedem Tag ab. So schätzen die Truthähne das Risiko mit zunehmenden Wochen und Monaten immer geringer ein. Just an dem Tag, an dem sie das Risiko am geringsten einschätzen, dass beim Bauer eine Gesinnungsveränderung eintritt, ist Thanksgiving. Doch von Thanksgiving haben die Truthähne noch nie gehört.
Wir lebten also in der Truthahn-Illusion, dass die Welt ein sicherer und planbarer Ort sei. Bis zu dem Tag, als wir zur Kenntnis nehmen mussten, dass ein für uns unsichtbares Virus ganze Länder lahmlegen kann. Strenge Lockdowns sind die Folge, Plan-, Kontrollier- und Berechenbarkeit fallen auf einen Schlag weg. Eine Gesellschaftskrise kann auch auf individueller Ebene, beim einzelnen Individuum, eine Krise auslösen. Denn irgendwo betrifft diese Situation jeden von uns, nur vielleicht an unterschiedlichen Stellen. Wir sind in einer Übergangssituation, der Boden wurde uns unter den Füßen weggezogen und gewisse Steuerungs- und Kontrollmechanismen sind abhandengekommen. Dies ist die anforderungsreichste Übergangssituation, die wir als Krise bezeichnen.
Was bedeutet das altgriechische Wort krisis? Es bedeutet wörtlich Scheidung. Im Theater des antiken Griechenland bezeichnete der Begriff Entscheidung, Trennung und Wende. Es ist die Stelle in der antiken Tragödie, an der sich die Handlung zuspitzt und die Gefahr am größten ist. Die Krise steht für den zentralen Wendepunkt eines Geschehens. Die Handlung geht in eine andere Richtung. Ein Zustand wird in einen anderen übergeleitet, wir befinden uns in einem von außen wahrnehmbaren Umbruch oder Übergang. Das Vergangene ist nicht mehr, doch etwas Neues, Stabiles gibt es noch nicht. Die Krise ist das subjektive Erleben, das damit verbunden ist. Sie ist jedoch kein Dauerzustand, sondern ihr ist der Übergangscharakter eigen. Eigen ist ihr auch, dass betroffene Menschen von Kontrollverlust und Gefühlschaos sprechen. Und sie berichten davon, dass sie beim Eintreten alle ihnen zur Verfügung stehenden Abwehrmechanismen mobilisieren, um möglichst die Normalität aufrechtzuerhalten, und davon, dass sie eine Heidenangst bekommen, wenn sie merken, dass ihnen dies nicht gelingt. Die psychische Herausforderung in Zeiten eines inneren Krisenerlebens aufgrund eines Umbruchs ist hoch.
Der Soziologe Niklas Luhmann (1984, 1986, 2009) macht die Krise an der Anzahl von Möglichkeiten fest, die die Welt zur Verfügung stellt, damit ein System sich erhalten kann. Im Normalfall ist die Welt komplex, weil »sie mehr Möglichkeiten zulässt, als Wirklichkeit werden können« (Luhmann 1986, 2009, S. 5). Das heißt, der Mensch muss zwischen Möglichkeiten entscheiden. Er bildet damit seine eigene Verhaltensstruktur, mit der er sich identifiziert, und erlebt auf diese Weise seine subjektive Ichhaftigkeit und Realität, weil er sich von den anderen, die sich für andere Möglichkeiten entscheiden, unterscheidet und abgrenzt. Stellt die Welt nun aber weniger Möglichkeiten zur Verfügung als die, »auf die das System sich erhaltend reagieren kann«, spricht Luhmann von einer Krise (S. 6).
Die Handlungskontrolle kommt also subjektiv abhanden. Keine der bisherigen Strategien, um die Kontrolle zu behalten oder wiederzuerlangen, reichen noch aus. Wer in eine Krise gerät, fühlt sich als Spielball des Schicksals. Die Berechenbarkeit von Ereignissen und die Möglichkeit, sie zu steuern, sind nicht mehr gegeben. Die Zusammenhänge zwischen dem, was sich ereignet, werden nicht mehr verstanden, was bei vielen Betroffenen dazu führt, dass die eigene Existenz und damit der Lebenssinn infrage gestellt wird.
Gerade in der Akutphase einer Krise ist die Angst das vorherrschende Gefühl.
Nehmen wir das Beispiel Pandemie oder »Coronakrise«. Dieses Ereignis ist einschneidend, also ein Umbruch, und es hat die Menschheit global getroffen. Die reale Furcht vor Krankheit, körperlicher Bedrohung oder Vulnerabilität durch das Virus vermischt sich nicht selten mit psychologischen irrealen Ängsten vor Kontamination. Eine reale Bedrohung durch das Virus ist klar vorhanden. Schutzmaßnahmen wie Händewaschen, sozialer Abstand, Maskentragen sind angezeigt und entsprechen einem normalen vernünftigen Verhalten. Psychologische Ängste, die jedoch vorher schon bestanden, nämlich die Angst vor Kontamination, vor Keimen, das heißt auch vor nützlichen Bakterien und Viren, können durch die akute Bedrohung von Covid-19 noch verstärkt werden. Das hat die Auswirkung, dass Masken beim Autofahren allein, im Wald allein beim Spazieren oder Radfahren getragen werden, die Hände über Gebühr desinfiziert werden, bis Ekzeme und Schuppenflechten auftreten. Aus übertriebenem Schutzverhalten werden gesundheitsschädigende Maßnahmen getroffen oder Ängste vor anderen Menschen übertrieben geschürt, sodass sich Menschen bis zur vollständigen Vereinsamung isolieren. Ein bedrohliches Virus, über das man nicht viel Wissen hat und über das deshalb unterschiedliche und widersprüchlichen Informationen kursieren, macht deshalb Angst, weil wir es nicht sehen und weil wir noch keinen Umgang damit gefunden haben. Wir wissen nicht, wie krank es uns im Einzelfall macht. Ebenso wenig können wir es kontrollieren oder gänzlich eindämmen. Statistische Zahlen, dass die große Mehrheit der Betroffenen leichte oder keine Krankheitssymptome zeigt, nützen uns nichts, weil wir uns als Individuum auf die Statistik nicht verlassen können. Im Gegenteil, wir schauen uns Bilder und Aufnahmen an, die uns aufzeigen, wie krank wir werden könnten. Wir sind verunsichert, weil wir keine Kontrolle über den Krankheitsverlauf haben und uns letztlich auch nicht hundertprozentig davor schützen können. Die Kontrollmöglichkeit ist uns in dieser Hinsicht entzogen. Wir befinden uns auf unsicherem Terrain des Nichtwissens und des Unplanbaren. Früher konnten wir Ferienreisen, Feste, Zusammenkünfte aller Art auf Jahre hinaus planen. Jetzt ist uns schmerzlich bewusst, dass wir die Zukunft nicht so vorherbestimmen können, wie wir das für unser Sicherheitsgefühl bräuchten. Dieser Virus bedeutet für uns einen Umbruch, eine Umwälzung der Gesellschaft, was beim Einzelnen eine Krise auslösen kann.
Da tragen rationale Argumente wie »Das Leben hat schon immer aus Unsicherheit bestanden, die Zukunft war noch nie wirklich planbar, Krankheit und Gesundheit gehören wie Leben und Tod zusammen und sind Teil unserer Existenz« nicht viel zur Beruhigung bei. Natürlich können wir nur im »Hier und Jetzt« denken, das war schon vor der Pandemie so. Doch lebten nun mal die meisten von uns in der Truthahn-Illusion einer recht sicheren Planbarkeit des Lebens. Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg konnten wir uns den Luxus erlauben, unser Leben in die Zukunft zu verschieben: »Jetzt muss ich noch Karriere machen, Leistung zeigen, Erfolge ausweisen und später dann lerne ich Klavierspielen, mache ich eine Weltreise oder beginne mit einer bestimmten Sportart.« Diese Illusion der zukünftigen Lebensform ist uns genommen worden. Wir werden auf den Boden der Realität im »Jetzt« zurückgeworfen. Erkrankungen und Tod sind offene Diskussionsthemen geworden, wir können diese Themen nicht mehr beiseiteschieben. Diese Pandemie hat unserer Gesellschaft eine Illusion genommen und uns radikal die Realität vor Augen geführt. Eine geplatzte Illusionsblase schmerzt und verunsichert. Verunsicherung und Angst sind Begleiter einer jeden Krise. In den folgenden Abschnitten wird der Ablauf einer Krise beleuchtet. So können wir verstehen, was mit uns in unsicheren Zeiten, wenn wir diese subjektiv als Krise erleben, passiert. Später werden Fragen beantwortet, wie wir nützlich damit umgehen können und was uns helfen könnte, innerlich stabil und gesund zu bleiben, oder wie wir die Krise sogar als Chance nutzen können.
1.1.2 Ablauf einer Krise: Fünf Phasen
Phasenmodell nach Kast und Cullberg
Jede Krise läuft auf ihre eigene Art ab, keine ist wie die andere. Und doch hat die psychologische Forschung im Krisenverlauf Phasen oder Zustände ausgemacht, die sich in jeder Krise identifizieren lassen. Ich lehnen mich an die Phasenmodelle von Verena Kast (2013, 2014, 2015) und Johan Cullberg (1978) an. Zur Vertiefung dieser Lektüre verweise ich auf den diesem Buch vorausgehenden Ratgeber »Krisen erfolgreich bewältigen« (Enzler Denzler & Schuler, 2018).
- Die Akutphase zeichnet sich aus durch das Eintreten eines schwerwiegenden Ereignisses, das sich der Kontrolle der Betroffenen entzieht. Der Lebenssinn, der Selbstwert und damit die Existenz insgesamt sind infrage gestellt. Als Folge davon erleben Betroffene ein Gefühlschaos aus Angst, Panik und Verzweiflung. Sie reagieren mit Widerstand, Verleugnung, allenfalls mit dem Abbrechen sozialer Kontakte.
- In der Phase der inneren Krisenarbeit bemerken die Betroffenen, dass die Welt nie mehr sein wird wie zuvor. Das Alte gibt es nicht mehr und das Neue noch nicht. Die Betroffenen befinden sich somit in einem Zustand der Leere. Es ist ein Schwebezustand, den es auszuhalten gilt – einerseits, indem sie sich für die innere Verarbeitung in sich selbst zurückziehen, anderseits aber auch, indem sie vom Umfeld oder von professioneller Seite, einem Psychologen oder Coach, getragen und gestützt werden.
- In der Phase der Akzeptanz und Einsicht wird die neue Situation akzeptiert. Die Betroffenen erahnen das Licht am Ende des Tunnels. Neue Erkenntnisse aus dem Krisengeschehen werden allmählich mit alten Einsichten abgeglichen und mit der neu entstehenden Identität in Einklang gebracht.
- In der Phase der Kreativität und Evaluation werden die neu gewonnenen Erkenntnisse überprüft, um- und neu formuliert, bis sie so prägnant ausgedrückt werden können, dass sie als Wegweiser für das weitere Handeln taugen. Es wird geprüft, ob diese neu gewonnene Erkenntnis und das neue Wertesystem zum neuen Selbstbild passen.
- Die Phase der Integration und Anwendung ist durch das Austesten der neuen Strategien gekennzeichnet. Die Betroffenen machen ihre erneuerte oder ergänzte Identität nach außen hin sichtbar.
Die geschilderten Phasen folgen allerdings nicht fahrplanmäßig eine auf die andere. Sie können sich überlagern und zum Teil auch wiederholen. Grundsätzlich können Phasen auch parallel ablaufen. Ängste, die in der Akutphase aufgekommen sind und überwunden geglaubt waren, können unvermutet wieder zu schlaflosen Nächten führen, umgekehrt ist es möglich, dass schon in der Akutphase ein Licht am Ende des Tunnels aufleuchtet – was sich dann auch wieder als trügerisch erweisen kann.
Phasen im Krisenverlauf zu erkennen, sie zu unterscheiden und sich darüber bewusst zu werden, welche Phase man gerade durchläuft oder durchleidet, ist in der Regel nützlich und erlaubt es, eine innere Distanz zum Krisenthema zu gewinnen, weil Gefühle und Verhaltensweisen eingeordnet werden können. Das bedeutet im günstigen Fall, dass man die Krise in ihrer Auswirkung realitätsnah einzuschätzen lernt. Und das wiederum kann der erste Schritt zu ihrer erfolgreichen Bewältigung sein.
1.1.3 Exkurs: Konkrete Anwendung des Phasenmodells auf die Coronakrise
Ich versuche nun den Ablauf des Phasenmodells anhand der Coronakrise aufzuzeigen.
Die Akutphase war am 16. März 2020, als folgende Medienmitteilung des Bundesrates erschien:
»Bern, 16.03.2020 – Der Bundesrat hat heute, 16. März 2020, in einer außerordentlichen Sitzung die Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung weiter verschärft. Er stuft die Situation in der Schweiz neu als «außerordentliche Lage» gemäß Epidemiegesetz ein. Alle Läden, Restaurants, Bars sowie Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe werden bis am 19. April 2020 geschlossen. Ausgenommen sind unter anderem Lebensmittelläden und die Gesundheitseinrichtungen. Er führt zudem ab Mitternacht Kontrollen auch an den Grenzen zu Deutschland, Österreich und Frankreich ein. Zur Unterstützung der Kantone in den Spitälern, bei der Logistik und im Sicherheitsbereich hat der Bundesrat den Einsatz von bis zu 8000 Armeeangehörigen bewilligt.«
Aus anderen Ländern mit ähnlichen Maßnahmen der Regierung wissen wir, dass die Menschen regelrecht in Landesteile geflüchtet sind, in denen die Maßnahmen entweder nicht oder nicht so restriktiv gegolten haben. In der Schweiz war dies nicht nötig, weil in allen umliegenden Ländern einschneidendere Regeln gegolten haben und der Bundesrat für die ganze Schweiz entschieden hat. Eine Flucht in andere Kantone hätte sich als sinnlos erwiesen. In Italien, insbesondere in der Region Mailand/Bergamo, sind Menschen zu Verwandten in den Süden geflüchtet und haben dort das Virus verbreitet. Dies als Zeichen des Widerstandes und Verleugnung: »Das kann und darf doch nicht wahr sein! Diese Situation ist doch ähnlich zur Vogel- und Schweinegrippe und damals ist auch nichts passiert!« In der Schweiz haben die Menschen gestaunt ob so viel Durchsetzungskraft des Bundesrates und der raschen Aussetzung der Demokratie. Hier war eine Schockstarre spürbar. Eine lähmende Ruhe hat sich ausgebreitet, die Städte – was auch gewollt und sinnvoll war – sind verweist. Die Menschen zu Hause mit der Organisation des neuen Alltags beschäftigt. Wir wollten möglichst Normalität erhalten. Zahllose Mails über »fit at home« grassierten über YouTube-Videos mit Fitnessübungen, die zu Hause statt im Fitnessstudio gemacht werden konnten. Sofort waren Webseminarangebote initiiert und Menschenmassen strömten in den Wald mit ihren neu gekauften E-Bikes oder versammelten sich in Großgruppen um die Picknickplätze. Wir machen Sport einfach anders, wir arbeiten weiter, einfach anders, wir erhalten möglichst unsere Normalität, einfach anders. Die Stimmung war zunächst teilweise sogar euphorisch, weil etwas Neues geschehen ist und wir das Ende absehbar wähnten. Dann wurden wir in die Verlängerung gerufen. Der Lockdown wurde bis zum 26. April verlängert. Der Bundesrat sprach von einem Marathon, den wir absolvieren sollten. Dann kam die teilweise Lockerung im Frühling und Sommer, dann die erneute Welle im Herbst und spätestens jetzt war klar, wir müssen noch länger mit Einschränkungen und der Unsicherheit, die das Virus mit sich bringt, leben. Im Winter Februar/März 2021 war eine Phase der Leere ansatzweise spürbar. Uns wurde schmerzlich bewusst, dass sich die Welt verändert. Die Maskenpflicht wird ständig verschärft, Homeoffice ist Standard geworden und es könnte sein, dass solche Maßnahmen noch lange beibehalten werden. Wir begegnen uns vorsichtig und mit Abstand, treffen die Leute in kleinen Gruppen oder lieber gar nicht. Die Unsicherheit, wie wir uns noch begegnen können, nimmt zu. Wir warten auf ein Heil bringendes Medikament oder eine Impfung oder bis die meisten von uns endlich geimpft sind. Rückzug, Lähmung, Unsicherheit, aber auch Widerstand und Aufbruchstimmung wechseln sich ab.
Was wir bis heute – Ende 2020/erste Hälfte 2021 – wohl noch nicht gelernt haben, ist, mit Unsicherheit und Unplanbarkeit zu leben. Wir versprechen uns mit der Impfung – also mit einer äußeren Beendigung der Situation – das Ende der Krise und hoffen, dass wir zurück zur Normalität gehen können. Ich meine, dass wir zum Teil noch in der Akutphase und da und dort ansatzweise in der inneren Krisenarbeit stecken. Tod, Krankheit, Unsicherheit und Unplanbarkeit des Lebens wird aus meiner Sicht noch etwas wenig diskutiert. Der Fokus liegt klar auf dem Kampf gegen das Virus und dessen Beseitigung.
Hin und wieder liest man von Einsichten, dass das Leben, wie es bis Ende 2019 war, nicht gleich weitergehen könne. Zoom-Meetings und digitale Vorstellungsgespräche zum Beispiel bringen bereits ein erstes Umdenken hervor. Vor- und Nachteile werden abgewogen. Reisezeiten verkürzen sich, die Spitzenzeiten im Straßenverkehr weichen einem Trapez, sind also geglättet, und der Mobilitätsradius ist viel kleiner geworden. Menschen arbeiten gemäß ihrem Biorhythmus, schlafen mehr, und der gesamte Lärmpegel hat abgenommen, sodass das Vogelgezwitscher deutlich hörbarer wird. Auf der anderen Seite behindern beengte Räume zu Hause, womöglich mit herumtollenden Kindern, die Konzentration. Die Vermischung von Arbeit und Freizeit ist für viele eine Schwierigkeit und zum Stress geworden. Führungskräfte klagen, sie wüssten nicht, was ihre Mitarbeitenden zu Hause arbeiteten, und sie hätten zu wenig Kontrolle über sie. Andere vermissten die Sozialkontakte bei Kaffee und Mittagessen in der Kantine. Vor allem klagen darüber alleinstehende Personen. In den Firmen werden bereits neue Ansätze diskutiert, wie mit Homeoffice künftig umgegangen werden soll, wie die diesbezüglichen Vorteile genutzt und Stressfaktoren abgebaut werden könnten. Ferienreisende entdecken die Schweiz und merken, dass die weiten Reisen anstrengend gewesen sind und es auch hier viel Neues zu entdecken gibt. Die Kreativität von neuen Ferienmodellen ist bereits spürbar. Auch neue Wohnformen werden aufgrund des Lockdowns diskutiert. Clusterwohnen erhält mehr Zuspruch. Das Wohnen im kleinen Verbund mit gegenseitiger Unterstützung und mit guter Durchmischung von Alter, Beruf, Geschlecht und Interessen steht vermehrt im Fokus. Hotels wurden für solche Wohn- und Arbeitsgemeinschaften umgenutzt. Weiter musste ein Wertewandel vollzogen werden. Freiheit – Versammlungsfreiheit, Meinungsäußerungsfreiheit – ist in der Schweiz ein sehr wichtiger Wert. Während der Pandemie wurde sie zugunsten der Sicherheit und Gesundheit zurückgestellt. Die Bevölkerung hat das bereitwillig mitgetragen. Weite Kreise der Bevölkerung nahmen die massive Einschränkung der Freiheit (Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit), die Mobilisierung der Armee, die Schließung von Schulen, Restaurants, Läden und die Verbote von Events und Restriktionen bei Treffen in privaten Kreisen weitgehend diskussionslos zur Kenntnis. Diese Werteanpassung ist in Zeiten großer Angst um die Gesundheit möglich, weil der Bundesrat den Notstand ausgerufen hat. Das soziale und wirtschaftliche Leben tritt in den Hintergrund und lässt dem biologischen und körperlichen Leben den klaren Vorrang. An Kollateralschäden kann dabei in der Akutphase nicht gedacht werden. Es gilt zuerst den Brand zu löschen und dann zu sehen, was danach die Probleme sind, die dann angegangen werden müssen. Was dieses Beispiel zeigt, ist, dass diese massive Werteverschiebung, die nicht ohne Folgen für die Zukunft sein wird, rasch vonstattengegangen ist und teilweise weit über ein Jahr schon anhält. Ein »Zurück zur Normalität« wie vor der Krise ist schon allein aus diesem Grund gar nicht möglich, weil wir anschließend mit den Kollateralschäden umgehen müssen. Der Wunsch, den Stressor – in casu das Virus – aus der Welt zu schaffen und danach weiterzumachen wie bisher, ist eine gängige Denkweise und typisch für die Akutphase einer Krise. Die Gesellschaft lernt nur aufgrund eines Traumas, sagt der Publizist und Historiker Philipp Blom in einer Sendung im Schweizer Fernsehen. Darum ist es noch verfrüht zu sagen, welche neuen Verhaltensmuster und Erkenntnisse sich nach dieser einschneidenden Krisenerfahrung etablieren werden. Wird die Solidarität unter uns Bürgern größer? Wird die immer häufiger zu beobachtende Spaltung der Gesellschaft in unterschiedlichen Themen wie Klimawandel, Pandemiebekämpfung, Umgang mit Krankheit und Sterben, Kapitalismus, Umweltschutz, Menschenrechte, Reichtum und Armut größer oder wachsen wir eher zusammen? Werden sich neue Verhaltensmuster bezüglich beruflicher Reisezeitverkürzung durch Nutzung der neuen Technologie oder das private Reiseverhalten nachhaltig verändern? Neue Wohn- und alternative Freizeitbeschäftigungsformen etablieren? Auch ist es wohl noch zu früh, um feststellen zu können, ob wir uns vermehrt mit psychologischen oder philosophischen Themen wie »Umgang mit Krankheit und Tod«, »Spiritualität«, »Transzendenz«, »Kontemplation« und »Minimalismus« beschäftigen wollen. Wäre dem so, würden durch diese Krise neue Identitäten gebildet, indem zum Beispiel Nationalstolz oder Solidarität unter den Bürgern wachsen und sich neue Formen des Zusammenlebens entwickelt haben, und wir hätten ein höheres Bewusstsein dafür, dass das Leben kein »Rummelplatz« ist, sondern aus der Stille inneres Wachstum erfolgt. Wir würden vielleicht gelernt haben, dass wir nicht getrennt von der Natur sind, sondern ein Teil davon. Dass wir nicht in die Welt geworfen worden sind, sondern aus ihr hervorgegangen und mit ihr verbunden sind. Sicher ist nur, dass wir heute die Möglichkeit haben, uns grundlegend zu verändern und ein gänzlich neues Menschenbild zu entwickeln. Wir könnten ansatzweise das dualistische Menschenbild, das von Descartes (»Ich denke also bin ich«) und der Newtonschen Mechanik (Philosophiae Naturalis Principia Mathematica) seit dem 17. Jahrhundert bis heute geprägt wird, hinter uns lassen. Das mechanistische Menschenbild, das davon ausgeht, dass das Universum berechenbaren Gesetzmäßigkeiten folgt. Eines, in dem Geist und Materie getrennt sind. Für die Materie ist die Naturwissenschaft zuständig und für den Geist die Religion. Eckhart Tolle bezeichnet diese Haltung als einen Irrtum. Er geht davon aus, dass der Verstand ein Instrument darstellt, welches wir bei Bedarf einschalten und nach dem jeweiligen Gebrauch wieder ausschalten können. Ich gebe ihm recht: Natürlich gibt es uns noch, auch wenn wir nicht denken! Ich gehe später im Buch eingehender auf diese Thematik ein. An dieser Stelle nur so viel: Wir könnten am Ende der Krise gelernt haben, dass wir alle vernetzt sind und unsere Entscheidungen direkte und sichtbare Konsequenzen haben. Wir sind weder getrennt voneinander noch von der Natur, weil wir Natur sind. Auch könnte es sein, dass wir vermehrt erkennen, was es bedeutet, dass wir im Informationszeitalter angekommen sind. Dass wir nämlich viel weniger die Materie selbst beachten sollten, die nicht mal ein Prozent ausmacht, sondern vielmehr ihren größeren Bestandteil, nämlich das Vakuum, die Energie beziehungsweise die Information. Das betrifft uns selbst auch. Außerdem ist der Mensch ein Ökosystem und kein Einzelwesen. Wir bestehen aus unzähligen Mikroorganismen, wie Viren, Bakterien und Pilzen. Zudem erneuern sich alle unsere Zellen alle sieben Jahre vollständig. Das heißt, wir sind ständig im Wandel. All dies wird uns durch die Pandemie mehr und mehr bewusst. Welches Menschenbild werden wir neu entwickeln, wenn wir erkennen, dass wir eher aus Geist beziehungsweise Energie denn aus Materie bestehen, wenn wir mit unzähligen Mikroorganismen ein Ökosystem bilden und uns ständig erneuern? Können wir uns dann noch als Krönung der Schöpfung ansehen? Wer ist dann dieses »Ich«, das meint, etwas Spezifisches zu sein? All dies sind grundlegende Fragen, die uns diese Pandemie aufzeigt und zu einem gänzlich neuen Menschenbild führen könnten. Auf das spezifische »Ich«, das wir meinen zu sein, gehe ich später in diesem Buch ein.
Zunächst beschreibe ich nachfolgend die Herausforderungen, mit denen wir es alle in Zeiten des Übergangs und Krisen zu tun haben.
1.2 Allgemeine individuelle Schwierigkeiten und Folgen in Zeiten von Übergängen und Krisen
In Zeiten von Übergängen – und sind diese unvorbereitet und einschneidend, dann nennen wir diese spezielle Form Krise – haben wir es zunächst mit Kontrollverlust, einem Gefühl der Ohnmacht zu tun. Unsere Rollen-/Selbstbilder, Werte und unser Weltbild werden infrage gestellt, was mit einer emotionalen Achterbahn einhergeht. Nachfolgend gehe ich auf die einzelnen Faktoren ein.
1.2.1 Kontrollverlust
Für unsere innere Stabilität brauchen wir gemäß Antonovskys Konzept von »sence of coherence« (Kohärenzkonzept, 1997) ein starkes Gefühl von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit. Wir möchten verstehen, was um uns herum passiert. Wir wollen Ereignisse einordnen und erklären können. Anforderungen sind dann günstig für uns, wenn wir sie als lösbar ansehen, sie uns weder über- noch unterfordern. Weiter beinhaltet dieses Konzept, dass wir unsere täglichen Tätigkeiten weitgehend als sinnvoll und bedeutsam ansehen und unsere Anstrengung als lohnend einschätzen. Dieses Konzept »sence of coherence« kommt in unsicheren Zeiten des Übergangs unter Druck. Uns wird das Heft aus der Hand genommen und wir sind nicht mehr im »drivers seat«. Was um uns herum passiert, ist für uns nicht mehr versteh- noch handhabbar. Die Herausforderungen, die an uns gestellt werden, überfordern uns, weil wir noch keine Strategie entwickelt haben, um damit umzugehen. Der Austritt aus der Komfortzone führt nicht langsam Schritt für Schritt in die Lernzone. Wir fühlen uns meist geradewegs in die Panikzone geworfen. Die Ereignisse überstürzen sich. Lernen in einem Zustand der Panik ist fast nicht möglich. Daher reagiert der Mensch im Normalfall mit Abwehr und Widerstand. Die Angst ist in diesen Akutsituationen das vorherrschende Gefühl. Der Stoiker Epiktet (1926) beschreibt Ängstlichkeit in abgeschwächter Form ganz plastisch. Ist die Angst auch weniger intensiv als akute Panik, so weist sie generell auf einen erlebten Kontrollverlust hin: »Sehe ich einen Menschen ängstlich sein, so sage ich: Was hätte der wohl gern? Gewiss etwas, das nicht in seiner Gewalt steht; sonst dürfte ihm nicht angst sein. Einem Kitharaspieler ist nicht angst, wenn er für sich allein vorträgt, wohl aber, wenn er auf seiner Schaubühne auftritt, egal, wie schön seine Stimme ist und wie fein er die Kithara spielt. Denn er will nicht nur gut vortragen, sondern auch Beifall erhalten. Letzteres aber steht nicht in seiner Gewalt« (S. 120). Es geht in dieser kurzen alltäglichen Episode ebenfalls um Kontrollverlust. Wenn eine Produktion vor Publikum Ängste hervorruft, die nach dem Vortrag wieder abklingen, sofern das Publikum mindestens einigermaßen gnädig applaudierte, um wie viel schwieriger und angsteinflößender muss also eine Situation sein, bei der über einen langen Zeitraum der Boden unter den Füßen fehlt. Dies wäre dann der Fall, wenn das Publikum den Kitharaspieler von der Bühne buht und er von da an »persona non grata« ist und keine Engagements mehr erhält. Ihm wäre dann die Existenzgrundlage entzogen. Die auftretende Existenzangst wäre – anders als in unserem Sozialstaat, im antiken Griechenland – real.
Kontrollverlust in der Coronakrise
Das Virus haben wir nicht unter Kontrolle und wir können erkranken und im schlimmsten Fall gesundheitliche Schäden davontragen oder sogar sterben. Wir könnten aber auch durch die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in finanziell existenzielle Nöte kommen oder durch die sozial einschränkenden Maßnahmen psychische Erkrankungen wie Depression, Burnout und Angststörungen davontragen. Wir haben nur wenig Einfluss darauf, was geschehen wird und welche Folgen uns treffen werden.
Was tun, wenn der Boden wankt? Mögliche Fragen und Sichtweisen während der Coronakrise
Wir atmen ein und atmen aus. Und wir stellen fest: Wir sind immer noch da. Und wer noch da ist, kann meistens irgendwann wieder etwas tun. Was wäre ein erster Schritt, eine kleine, vielleicht unbedeutende Handlung, die ich jetzt in diesem Moment verrichten könnte? Was wäre etwas Neues, etwas Unbedeutendes, aber Neues, was ich jetzt in diesem Moment tun könnte, was mir Freude bereitet? Ich bin vielleicht allein, doch bin ich wirklich einsam? Könnte ich vielleicht in den Wald spazieren gehen und die Blumen, die Bäume, die Steine und Vögel beachten? Was sehe ich? Was tun sie, wovon leben sie, was ist ihre Bestimmung? Wäre es möglich zu erkennen, dass wir alle Lebewesen sind und Bewusstsein haben? Ist es möglich, dass das Leben dazu bestimmt ist, einfach zu sein? Eine Blume hat keinen anderen Zweck als zu blühen, der Baum wächst und macht vielleicht Blätter, die er im Herbst wieder abwirft, und die Steine am Weg sind dazu da, damit wir darüber gehen können. Wie kommt es, dass wir meinen, etwas anderes als ein lebendiger Organismus sein zu müssen? Ist es möglich, dass alles mit allem verbunden ist? Hören wir in uns hinein, folgen unserem Atem, ist diese Verbundenheit spürbar? Was könnten wir aus dieser Situation lernen? Welche Erkenntnisse werden wir wohl dazugewonnen haben, wenn wir in einem oder zwei Jahren auf diese Situation zurückblicken? Welche Erkenntnisse gewinnen wir als Gesellschaft möglicherweise aus dieser einschneidenden Situation? Wie können wir unser lebendiges Interesse an den sich jetzt bietenden Themen aufrechterhalten und vertiefen? In welche neuen Themenfelder könnten wir uns vertiefen und uns neue Kompetenzen aneignen? Können wir als Gemeinschaft in einer kleineren sozialen Zelle gemeinsam lernen?
1.2.2 Veränderung des bisherigen Rollen- und Selbstbildes
Etwas nicht mehr unter Kontrolle zu haben, was früher unter Kontrolle war, verändert auch das Selbstbild. Wir fühlen uns schwach, schutz- und nutzlos. Der Eintritt in eine solche Phase kann – wie wir gesehen haben – durch unterschiedliche Ereignisse hervorgerufen werden. Sei es durch Krankheit, Burnout, Entlassung, Tod im engsten Familien- oder Freundeskreis, Scheidung oder ein anderes schwerwiegendes Ereignis. In diesem Moment sind wir mit unseren Grenzen konfrontiert. Unsere Existenz, wie sie früher war, wie wir uns selbst definiert und gelebt haben, sehen wir als bedroht an. Wir fühlen uns schwach und sind kaum mehr fähig, an andere Dinge als dieses Ereignis zu denken oder über etwas anderes zu sprechen. Haben wir uns früher als erfolgreicher Arbeitnehmer und Berufsperson gesehen, gerät dieses Selbstbild bei einem Burnout oder bei einer Entlassung ins Wanken. Wer sich in der Rolle als Ehemann, Ehefrau, Tochter oder Sohn klar definiert hat, der wird beim Versterben eines Angehörigen oder bei einer Scheidung sich fragen, welches nun seine neue Rolle oder Identität sein wird. Liebgewonnene Verhaltensmuster brechen weg, die Normalität weicht einem Chaos von Fragen und Anforderungen, die so rasch nicht bewältigt oder eingeordnet werden können. Zunächst steht das Wegbrechen einer Identität, einer Rolle oder des Selbstbildes im Vordergrund.
Während der Coronakrise sind vielleicht folgende Rollen ins Wanken geraten
Berufsmänner und Berufsfrauen, die nicht arbeiten durften und möglicherweise untätig daheimbleiben mussten. Angehörige, deren Lebensinhalt es gewesen ist, Enkel zu betreuen, oder umgekehrt Töchter und Söhne, die ihre Eltern pflegten und dies nicht mehr durften. Reisende, die nicht mehr reisen konnten. Künstler und Musiker, die nicht mehr vor Publikum auftreten konnten.
1.2.3 Veränderung von Werten und Weltbildern
Als Werte bezeichne ich hier die Grundwerte, die ein Mensch tief verinnerlicht hat und die er durch sein Denken, Handeln und Sprechen zum Ausdruck bringt. Im Innern sind sie als Motiv für die Handlung zum Teil bewusst oder auch unbewusst vorhanden. Die eigenen Werte betrachten wir meist als erstrebenswert, gut, und sie beinhalten oft eine moralische Komponente. Wir fühlen uns in sozialen Systemen, die unsere Werte teilen, wohl und verstanden. Wir sprechen dieselbe Sprache und gehen von denselben Motivationsfaktoren für unser Verhalten aus. Das gibt uns Sicherheit, dass alle ungefähr dasselbe wollen, aus denselben Absichten handeln und in ungefähr denselben Kategorien und Mustern denken. Wir vertrauen einander. In Zeiten des Übergangs können unsere Werte jedoch durcheinandergeraten. Gehen wir davon aus, dass eine Ehe ein Leben lang halten muss, weil wir uns das so versprochen haben, dann wird der Wert »Zugehörigkeit und Verantwortung« bei einer Scheidung arg verletzt. Meinen wir, dass sich Fleiß und Arbeitseinsatz immer auszahlen, dann gerät der Wert »Leistung« bei einer Entlassung aus den Fugen. Glauben wir, dass wir das Recht immer auf unserer Seite haben, weil wir uns stets regelkonform verhalten haben, dann gerät der Wert »Recht haben« dann unter Druck, wenn wir einen Prozess verlieren.
In allen Fällen müssen wir schmerzlich erkennen, dass unsere Werte und Weltbilder vielleicht von anderen Menschen nicht oder nicht mehr geteilt werden oder dass sie durch äußere Ereignisse aus den Fugen geraten und wir gehalten sind, unsere Grundwerte neu zu überdenken.
Beispiele von Werten, die in der Coronakrise unter Druck kamen
Leistungserbringung aufgrund des Berufsverbots. Soziale Zugehörigkeit wegen Kontakteinschränkung und Versammlungsverbot. Positionierung als Chef wegen Homeofficepflicht. Soziale Anerkennung wegen Arbeitsverbot, Homeoffice, Einschränkung sozialer Kontakte, Verbote von Auftritten und der Durchführung von Festen. Meinungsäußerungsfreiheit durch Versammlungsverbot. Bewegungsfreiheit durch Reiseeinschränkungen. Planbarkeit und Sicherheit aufgrund wechselnder Regelungen.
1.2.4 Emotionale Achterbahn
Angst ist das Gefühl, dass bei einem Akutereignis, welches unser Leben durcheinanderwirbelt, als Erstes aufkommt. Sie ist manchmal so stark, dass sie in die intensive Form, in die Panik übergeht. Anfänglich findet deshalb kaum Lernen statt. In dieser Phase ist es sinnvoll, möglichst einen Fuß vor den anderen zu setzen. Keine Entscheidungen von größerer Tragweite zu treffen. Denn mit den Emotionen geht es drunter und drüber. Angst als vorherrschendes Gefühl wechselt sich ab mit Wut, Trauer und vielleicht auch Euphorie. Es ist nicht möglich, in dieser Phase die Zukunft zu planen; zu verschleiert ist der Blick, zu unstet die Meinung. Es ist möglich, dass Überzeugungen sich binnen Minuten ins Gegenteil verkehren. Ich empfehle also, nur alltägliche Entscheidungen zu treffen, den Tag ganz einfach zu strukturieren mit kleineren Einkäufen, Haushalt erledigen, kochen oder mit administrativen Routinearbeiten. Es ist Ruhe angesagt. Aushalten. Sich gut beobachten und die Gefühle wahrnehmen. Körpertherapien, Meditation, Waldspaziergänge, Heilkräuter können helfen, den Körper und den Geist etwas zu entspannen. Ein Coaching kann in dieser Zeit helfen, diesen Zustand besser auszuhalten und zu lernen, dass es anderen Betroffenen ähnlich geht.
Nachfolgend gehe ich auf ein spezifisches Gefühl vertieft ein, das der Hauptbegleiter in Zeiten des Übergangs ist, und schildere auch dessen Auswirkungen im und auf den Körper.
1.3 Emotionen und Körperreaktionen in Zeiten von Übergängen und Krisen
Emotionen sind bewegte Energie. Verschiedentlich wird der Begriff des Gefühls anders verwendet. Die Gefühle Wut, Trauer, Angst, Freude und Ekel sind angeboren und überlebenswichtig, während Emotionen zusammengesetzte Gefühle sind und meist in einem späteren Alter durch Sozialisierung antrainiert werden. Sie sind für das Überleben jedoch nicht von Bedeutung. Ich mache diese begriffliche Unterscheidung in diesem Buch nicht. Denn die Körperreaktion und die Verschaltungen im Gehirn unterscheiden sich nicht, ob es sich um ein angeborenes Gefühl oder um eine Emotion handelt, auf die unser System reagiert. Ich wähle die Begriffe, wie sie für mich sprachlich besser passen und den Lesefluss nicht stören. In diesem Kapitel wird der Wechselwirkung von Gefühlen und Körperreaktionen besonders Beachtung geschenkt.
1.3.1 Grundbegriff der Angst
Ängste sind unvermeidlich und gehören zu unserem Leben. Wir sind uns der Angst nicht immer bewusst, doch ist sie ein steter Begleiter und eine Grundbedingung für unsere Lebensfähigkeit. Die Angst ist wie Wut, Trauer, Ekel, Freude ein angeborenes Gefühl. Sie ist also wichtig für unser Überleben. In der Kindheit hält sie uns davon ab, heiße Herdplatten anzufassen, und später lässt sie uns beim Autofahren entsprechend vorsichtig sein, um uns und andere nicht zu gefährden. Die Angst macht uns auf Gefahren aufmerksam, damit wir uns rechtzeitig in Sicherheit bringen können, oder sie lässt uns regelmäßig mit Seife die Hände waschen, um uns vor einem krank machenden Virus zu schützen. Streng genommen nennen wir dieses Gefühl einer realen Bedrohung Furcht. Sie ist die Reaktion der Psyche auf eine gegenwärtige oder vorausgeahnte Gefahr. Diese Gefahr ist rational begründbar und konkret und kann auch als »Realangst« bezeichnet werden. Es ist die Furcht vor dem Angriff eines Tigers, der jederzeit in der Wildnis auftauchen kann, die uns heute noch aus archaischen Zeiten unbewusst begleitet. Angst hingegen ist ein ungerichteter Gefühlszustand, der sich meist nicht real begründen lässt. Die Angst ist diffus und beinhaltet keine reale Bedrohung und ist deshalb psychologisch von Interesse. In diesem Buch verwende ich das Wort Angst und verzichte auf den Begriff, der uns weniger geläufigen »Furcht«. Ob Angst oder Furcht empfunden wird, der biochemische Prozess ist derselbe. Unser Gehirn interpretiert eine Situation als lebensbedrohlich, ob sie es nun tatsächlich ist oder auch nicht. Der biochemische Prozess läuft sogar dann ab, wenn wir uns eine Angst auslösende Situation nur vorstellen, indem wir zum Beispiel an ein vergangenes oder zukünftiges Ereignis denken. Im Akutfall eines ganz plötzlich eintretenden Ereignisses schüttet der Körper automatisch – also reflexartig und ohne Beteiligung und Beurteilung der Großhirnrinde – über das sympathische Nervensystem Adrenalin und Noradrenalin in der Nebennierenrinde aus. Auf diese Weise wird unser Körper in Bruchteilen von Sekunden auf Kampf oder Flucht vorbereitet (»preparedness«). Die überlebenswichtigen Funktionen werden sofort unterdrückt und die gesammelte Energie wird für die Kampf- oder Fluchtbereitschaft zur Verfügung gestellt. Das verwundete Tier oder der Mensch bekämpfen die Gefahr oder bringen sich sofort in Sicherheit und fliehen. Es handelt sich um die angeborene »flight-or-fight-response« aller Lebewesen in einer akuten Bedrohungslage. Bereits nach rund 20 min baut sich das Adrenalin ab und das langfristige Stresshormon Kortisol wird auf Befehl des Hypothalamus im Gehirn – aufgrund einer Bewertung der Situation – ebenfalls über die Nebennierenrinde ausgeschüttet. Kortisol steht uns als langfristige Stressbekämpfung zur Verfügung. Sowohl bei der kurzfristigen wie auch bei der langfristigen Stressreaktion erhöhen sich unser Herzschlag, Blutdruck, Temperatur, die Pupillen weiten sich, damit wir besser sehen, die Atmung geht rascher und wir sind hellwach. Im Blut wird Glukose freigesetzt, damit wir mehr Energie zur Verfügung haben. Die Aufmerksamkeit ist hoch und konzentriert auf die Gefahr, die Skelettmuskeln sind stärker durchblutet, die Bronchien weiten und der Stoffwechsel beschleunigt sich. Blutzucker und Cholesterin steigen an. Reduziert werden die übrigen lebenswichtigen Funktionen wie Hunger, Speichelfluss, sexuelle Appetenz, Harn- und Stuhldrang, Schmerzempfinden, Wundheilung, Schlafbedürfnis und das Immunsystem wird unterdrückt. Letzteres bedeutet, dass wir tatsächlich eine Grippe haben könnten, wir aber keine entsprechenden Symptome zeigen, obwohl die Entzündung gleichwohl im Körper ist. Das Blut weicht vom Stirnhirn ins Hinterhirn. Das heißt, der Frontallappen, der für die Ratio und das vorausschauende und vernetzte Denken zuständig ist, wird eingeschränkt. Das Stammhirn hingegen wird stärker durchblutet, um instinktives, rasches Reagieren zu ermöglichen. Wir befinden uns im Überlebensmodus. Gibt das Gehirn Entwarnung, veranlasst das parasympathische Nervensystem die Normalisierung der Körperfunktionen, und Adrenalin und Kortisol werden abgebaut. Nun könnte es sein, dass sich die Grippe zeigt und Symptome auftreten. Krank werden wir also oft erst nach einer akuten Stressperiode. Gibt das Gehirn keine Entwarnung, was bei diffuser Angst passieren kann, wird über längere Zeit das Stresshormon Kortisol ausgeschüttet. Dies kann zur chronischen Stresserkrankung führen, was wiederum Auswirkungen auf den Körper haben kann. Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Bluthochdruck, erhöhte Cholesterinwerte, Nervosität, Gereiztheit, Zittern, Schwitzen, Erregbarkeit, Nervosität, Aggressivität, erhöhter Muskeltonus, Vergesslichkeit, Merkfähigkeitsstörungen, geschwächtes Immunsystem und die damit verbundene erhöhte Krankheitsanfälligkeit, Muskel- und Rückenschmerzen, Burnout, Depression und Angststörungen können die Folge einer zu lange andauernden Stressreaktion im Körper sein. Zudem ist ein Übermaß an ausgeschüttetem Kortisol über eine längere Zeitdauer schädlich für den Hippocampus. Dieser Gehirnteil liegt im Mittelhirn und gehört zum limbischen System. Er ist wichtig für die Überführung neuer Gedächtnisinhalte ins Langzeitgedächtnis. Wird dieser Teil des Gehirns durch eine erhöhte Kortisolausschüttung beschädigt, führt das zu einer Verschlechterung der Gedächtnis- und Konzentrationsleistung. Kurzzeitig können wir alle mit widrigen Umständen umgehen, indem wir den bedrohlichen Stressfaktor bekämpfen oder vor ihm fliehen. Wir können kurzfristig damit fertig werden. Denn wenn alles vorbei ist, wird der Körper binnen weniger Stunden sein Gleichgewicht wiederherstellen und seine lebenswichtigen Funktionen wieder in Betrieb nehmen. Allerdings ist kein Organismus fähig, über lange Zeit diesen Notfallmodus auszuhalten, ohne Schaden zu nehmen. Die Fähigkeit eines Menschen, mit Angst und unterschiedlichen Stressoren nützlich umzugehen, nennen wir Resilienz. Resilienz ist eine angeborene Fähigkeit, Hindernisse zu überwinden und Stresssituationen zu bewältigen. Die genetischen Grundvoraussetzungen hierfür sind unterschiedlich. Wesentliche Faktoren, die die Stressresistenz mitbeeinflussen, sind Umwelt-, soziale und personelle Faktoren. Umwelteinflüsse, wie zum Beispiel Lärm oder Luftbedingungen, stehen mit Stressbewältigung in Zusammenhang. Soziale Faktoren wie ein starker Gruppenzusammenhalt und eine unterstützende soziale Umgebung wirken sich positiv aus. Persönliche Faktoren wie finanzielle Möglichkeiten, Bindungs-, kognitive, selbstregulative Fähigkeiten wirken sich ebenso günstig aus wie Problem-/Lösungsfixierung oder der Zugang zur Spiritualität und Transzendenz. Wir können aber einen nützlichen Umgang mit Angst und damit verbundenem Stress auch lernen und unsere Fähigkeit zur Stressresistenz entsprechend trainieren. Es ist uns möglich, uns Ressourcen – im Sinne von Bewältigungsstrategien – im Umgang mit Stressfaktoren anzueignen oder sie zu erweitern. Einsicht in unsere menschliche Natur ist der erste Schritt in diese Richtung, wie der Stoiker Epiktet dies in seinem Handbüchlein der Moral sehr schön ausdrückt: »Über das eine gebieten wir, über das andere nicht. Wir gebieten über unser Begreifen, unseren Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort, über alles, was von uns ausgeht; nicht gebieten wir über unseren Körper, unseren Besitz, unser Ansehen, unsere Machtstellung, und, mit einem Wort, über alles, was nicht von uns ausgeht« (S. 1). Es gilt also zuerst anzuerkennen, dass es Dinge gibt, die wir beeinflussen können, und es gibt solche Situationen, auf die wir keinen Einfluss haben. Dabei ist es wichtig, dass wir das eine vom anderen unterscheiden können. Das, was von uns ausgeht, können wir beeinflussen, es gilt jedoch anzuerkennen, dass wir auf äußere Dinge keinen Einfluss haben, auch wenn es uns oft so vorkommt, als ob wir einen Einfluss hätten.
Bezogen auf die Coronapandemie können insbesondere drei verschiedene Angstthemen ausgemacht werden: die Angst vor dem Virus, die Angst vor Armut und die Angst vor Diktatur. Drei unterschiedliche Ängste, die grundsätzlich als Realängste gelten können, doch oft auch eine zu hohe Intensität an Angst und Vorsichtsmaßnahmen auslösen, womit wir wieder bei der psychologischen Angst sind. Die Diskussion über die aktuelle Situation der Pandemie kann aufgrund der unterschiedlichen Standpunkte und Angstthemen zu heftigen Konflikten führen. Trifft jemand, der große Angst vor gesundheitlichen Problemen aufgrund des Virus hat, auf jemanden, den diese Angst nicht betrifft, sondern der eher mit der Angst vor zu massiven Einschränkungen seitens der Regierungen oder mit der Angst, die Existenzgrundlage zu verlieren, kämpft, kann dies zu einer Spaltung und zu Zerwürfnissen führen. Es ist wichtig, die Angstthemen zu klären, damit ein Perspektivenwechsel erfolgen kann. Bevor wir also in eine hitzige Debatte einsteigen über den Sinn und Zweck des Maskentragens, der frühzeitigen Öffnungen der Restaurants und kulturellen Veranstaltungen oder die Zulassung von Demonstrationen, ist es nützlich, wenn die Diskutierenden zu Beginn klären, wo beim Einzelnen die Achillesferse liegt. Wie gehen wir dabei vor?
Bei der Diskussion über die Coronamaßnahmen oder generell über die Situation in der Pandemie könnten folgende Verhaltensweisen hilfreich sein
Beginnen Sie mit den Fragen: »Wie betrifft dich persönlich die Coronasituation? Steht bei dir die Erkrankungsmöglichkeit, die finanzielle Situation oder eher die staatlichen Einschränkungen unserer Freiheitsrechte im Vordergrund?« Dabei ist ein aktives Hinhören und Mitfühlen wichtig. Ängste können bedrohlich wirken und einen zentralen Nerv des Gegenübers treffen. Es ist wichtig zu verstehen, dass Ängste zwar übertrieben sein können, dass sie jedoch in den meisten Fällen akuten Stress auslösen und rationales Denken oder das Annehmen einer Gegenposition verunmöglichen. In dieser Situation ist es nicht günstig, den Diskussionspartner oder die Diskussionspartnerin vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Also vermeiden Sie Sätze wie: »Das Virus stellt in deiner Situation statistisch kaum eine Gefahr da, Du bist ja jung und gesund!« Oder: »In der Schweiz verhungern wir nicht und hatten uns schon immer erfolgreich gegen Obrigkeiten und Diktaturen gewehrt.« Hören Sie stattessen aufmerksam hin und stellen Sie Fragen wie zum Beispiel: »Was hast du unternommen, um mit deiner Angst umzugehen? Wie ist die Situation gerade zum jetzigen Zeitpunkt? Hast du mit Freunden und Freundinnen schon darüber gesprochen, denen es ähnlich geht? Wie gehen sie damit um? Ich kann mich in deine Situation zwar hineinfühlen und erkenne deine Schwierigkeiten an, doch habe ich mit anderen Themen zu kämpfen. Möchtest du auch meine Situation anhören?«
1.3.2 Wechselwirkung von Emotionen, Gefühlen, Verhalten und Körperreaktionen
Der Mensch ist – anders als das Tier – in der Lage, über seine Probleme nachzudenken. Dies bringt uns Vorteile und auch viele Nachteile. Der Nachteil ist, dass er Stressereignisse immer wieder in seinem Kopf durchspielen kann. Der Frontalkortex ist in Verbindung mit der gesamten Großhirnrinde (graue Substanz des Gehirns) hierfür zuständig. Der Körper unterscheidet dabei nicht, ob das Ereignis in der Realität nochmals stattfindet oder ob es nur Gedanken sind. Er geht erneut in den Überlebensmodus und schüttet die entsprechenden Stoffe aus, insbesondere die Stresshormone Adrenalin und Kortisol. Erleben wir das Stress auslösende Akutereignis immer und immer wieder, täglich, fast zu jeder Stunde, und werden auch die damit zusammenhängenden Emotionen immer wieder aufgerufen, dann können solche Muster einfrieren und der chemische Prozess im Körper läuft immer und immer wieder ab. Diese Erinnerung brennt sich damit neuronal im Gehirn ein. Die Neuronen feuern immer wieder im selben Muster und bilden eine starke Verkettung, die schwierig zu durchbrechen ist. Immer und immer wieder kommen dieselben Bilder, Erinnerungen und Gefühle hoch. Obwohl aktuell keine Bedrohung vorliegt, ist es möglich, dass wir biologisch in einem vergangenen Ereignis feststecken und immer wieder dieselben Muster im Gehirn und damit auch immer wieder dieselben Körperreaktionen und schließlich immer wieder dieselben Gedanken, Gefühle, Worte und Verhaltensmuster replizieren. Wiederholt stürmen die damit verbundenen Emotionen auf uns ein, wie Angst, Schmerz, Wut, Trauer, Ekel, Scham, Hoffnungslosigkeit.
Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Sicher in unsicheren Zeiten« bietet den Rest des Kapitels und vieles mehr.
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