Leseprobe »Tourismus – Über das Reisen und Urlauben in unserer Zeit«: Eine kurze Geschichte des Reisens und des Tourismus
Die Menschheitsgeschichte ist auch eine Geschichte der Bewegung, der Mobilität, des Hinausschiebens der Horizonte. Waren vorerst hauptsächlich Kreuzfahrer, Soldaten, Boten und Pilger unterwegs gewesen, so nimmt im Zeitalter des Humanismus die Mobilität zu. Im Laufe des 16. Jahrhunderts entstehen Metropolen des Handels und der Wissenschaft, erweitern sich die Geschäftsfelder für Händler. Reisen aus religiösen, pädagogischen oder wissenschaftlichen Motiven machten Rom, Neapel, Paris oder Straßburg zu Fixpunkten vieler junger Adeliger, Scholaren und Künstler. Zwischen diesen Städten entstanden – wie auch in China oder in der arabischen Welt – die ersten befestigten Wege, Vorläufer der heutigen Straßennetze und die dazu gehörigen Kartenwerke. Der systematische Ausbau von Postverkehrsnetzen durch forcierten Straßenbau unter Zuhilfenahme der Techniken der Landvermessung erfolgte in Europa erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts.1
Das übliche Verkehrsmittel während dieser Epoche war die Pferdekutsche, die man eben über die Postrouten benutzte. Wo es keine für Kutschen befahrbaren Trassen gab, etwa auf Passübergängen, wurden Reisende von Einheimischen in Tragsesseln transportiert. Zu Fuß unterwegs waren nur umherziehende Arme, Vaganten, Handwerker auf dem Weg zu einer neuen Arbeitsstelle, Wanderhändler oder Poeten auf der Suche nach Abenteuer und Selbstbestätigung wie der aus Sachsen stammende Johann Gottfried Seume. Seine Alpenüberquerung unter dem Titel »Spaziergang nach Syrakus,« 1802 publiziert, stand wie die zur Sehnsuchtsliteratur verarbeiteten Wanderungen Jean-Jaques Rousseaus am Beginn des Weges zum heutigen naturnahen Tourismus bzw. zum Alpentourismus.
Die Reiseberichte dieser Zeit sind voll von Beschwerden über die Herbergen, die Gasthäuser, aber auch über die anderen Reisenden und deren Manieren bzw. Verhaltensweisen. Mit der europaweiten Verbreitung der »Ordinari-Fahrpost« kamen Anfang des 17. Jahrhunderts die ersten Reisekompendien auf den Markt, die Angaben über Wegenetz, Poststationen und empfehlenswerte Unterkünfte gaben. Unter den vielen Reisenden, die im 18. Jahrhundert zwischen Paris und Moskau, London, Stockholm, Rom, Hamburg und Wien unterwegs waren, können die Musiker wohl auf eine der ältesten Traditionen zurückblicken. Sie waren, schon lange bevor das Reisen zu Bildungs- oder Vergnügungszwecken Mode wurde, als Spielleute durch Europa gezogen und hatten Fürsten, Bischöfe, Könige, Bürger und Bauern unterhalten. Sie taten dies auf Jahrmärkten, Reichstagen, zu Hochzeits- und Krönungsfeierlichkeiten, in Wallfahrtsorten und auf Konzilen. Mozarts Briefe an seine Schwester oder seinen Vater enthalten immer wieder Klagen über die Unannehmlichkeiten auf Reisen, die ihn in dieser Frühzeit globalisierter Konzertkultur quer durch Europa führten. An die »Allerliebste Schwester«, schrieb er etwa im August 1771 aus Mailand, dass er auf der Reise »vielle hiz« ausgestanden hätte und »der staub hat uns beständig impertinent sechiert«. Aus München schrieb er an den »mon très cher Père« nach Salzburg, dass die Reise zwar kurz aber sehr beschwerlich, die Sitze hart wie Stein waren und er hätte keine Minute in der Nacht geschlafen, »dieser Wagen stößt einem noch die Seele heraus«.2 Die Reisen dieser Zeit waren gewiss keine Vergnügungsreisen, sondern erfolgten aus beruflichen Gründen und die bis zum Zielort zu durchfahrende Landschaft – so schön und unberührt sie auch gewesen sein mag – war für diese Reisenden von völlig untergeordneter Bedeutung.
Sie schwärmen sehr für die Natur
Und heben den Verkehr
Sie schwärmen sehr für die Natur
Und kennen die Umgebung nur
Von Ansichtskarten her
(Erich Kästner, Vornehme Leute 1200 m hoch)
Die Personen- wie die Postbeförderung waren aber stets auch durch kriegerische Ereignisse stark beeinträchtigt. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhunderts etwa war Reisen behindert durch die revolutionären Ereignisse in Frankreich, die politischen Umwälzungen in deren Folge und durch die Eroberungsfeldzüge Napoleons. Erst nach dem Wiener Kongress 1815 investierten die Postverwaltungen wieder in die Weiterentwicklung ihrer Dienste. Vernachlässigte Wege und Straßen mussten verbessert werden und die in Holland und Frankreich schon im Zeitalter des Barocks extra angelegten gepflasterten Landstraßen (frz. Chaussee) zur Beschleunigung des Verkehrs wurden auch in anderen Ländern errichtet. Mit dem sich entwickelnden Eilpostwesen entstand daraus ein Konzept von Fernstraßen, deren Bedeutung über den Komfort im Individualverkehr hinausging und mit militärischem Interesse verbunden wurde. Diese Straßen reduzierten die Reisedauer der Postkutschenfahrt erheblich und wegen der glatteren Oberfläche konnten Pferdefuhrwerke auch eine höhere Last transportieren.
Schon 1754 war etwa zwischen Berlin und Potsdam eine schnellfahrende »Journalière« eingerichtet worden. In England erfolgte die schnellere Personenbeförderung mit den »Mail Coachs« und in Frankreich mit der »Malle-Poste.« Die Geschwindigkeit ging allerdings auf Kosten der Bequemlichkeit, denn man wollte Personen so schnell wie Briefe befördern. Dies gelang nur, weil man die Zahl der Zwischenaufenthalte drastisch verringerte. 1828 bestand eine tägliche Reiseverbindung zwischen Berlin und Paris und drei Mal wöchentlich gab es eine Schnellpostverbindung zwischen Paris und Petersburg. Die Reisezeit auf dieser Strecke konnte von drei auf zwei Wochen reduziert werden.3
Neugier und Erkenntnis
Die Epoche vom Späthumanismus bis zur wissenschaftlichen Revolution – etwa Mitte des 16. bis Mitte des 17. Jahrhunderts – bezeichnet der Kultursoziologe Justin Stagl4 als das Zeitalter der »epistemologischen Neugier«. Es brachte auch die Kulturtechnik einer ausgefeilten Reisekunst, der »ars apodemica,« hervor. Bei der »Apodemik« stand das systematische und methodische Reisen aus wissenschaftlichen Gründen, zur Sammlung der »über die Welt verstreuten Schätze der Weisheit und der Tugend«, im Vordergrund. Zur Unterscheidung des richtigen Reisens (peregrinari) vom nutzlosen Umherschweifen (vagari) zitiert Stagl den aus einer Danziger Gelehrtenfamilie stammenden Samuel Zwicker und dessen Definition aus dem Jahr 1577. »Die Reise ist nämlich ein Ortswechsel, der von einem dazu geeigneten Menschen unternommen wird aus der Begierde und dem Wunsch, auswärtige Orte zu durchwandern, zu besehen und kennen zu lernen, um dort irgendein Gut zu erwerben, das entweder dem Vaterland und den Freunden oder uns selbst nützlich sein könnte.«5
Die Verfeinerung der drei Kulturtechniken Reisen, Umfragen und systematisches Sammeln, die später zum Methodenkanon der Sozialforschung werden sollten, nahm in dieser Zeit ihren Anfang.
Im ausgehenden 18. Jahrhundert verblasste die Fiktion des idealen Gesamtreisenden mit seinem wissenschaftlichen Anspruch, dafür findet eine stärker auf die Empfindungen des Individuums ausgerichtete Reiseform mit der entsprechenden Reiseliteratur eine Fortsetzung.
Galt für die »peregrinatio academica,« die Gelehrtenreise, die niederländische Universitätsstadt Leiden als unentbehrliche Reisestation, so war die Kaiserstadt Wien eine solche für die Adelsreise im Zeitalter des Absolutismus. Die »Grand Tour« der jungen Stammhalter alteingesessener und grundbesitzender Adelsgeschlechter erfolgten zum Zwecke der Einpassung in die standesgemäße Lebensart und Umgangsformen der europäischen Aristokratie. Diese Reisen dienten der umfassenden Bildung wie der Einübung in das Vergnügen der gehobenen Kreise. Die Reisetätigkeit der jungen Kavaliere erfolgte unter der Obhut eines Hofmeisters und zwischen den wichtigsten Städten, Schlössern sowie Universitäten bewegte man sich mit der Kutsche. Frankreich bereiste man wegen der galanten Sitten, der modischen Eleganz und des geselligen Umgangs, in Italien war das Augenmerk auf die baulichen Zeugnisse der Antike, die höfische Kunst der Oper und die vergleichende Staatenkunde gerichtet. Für den katholischen Adel war Rom der Höhepunkt der Reise, die Niederlande und England besuchte man wegen ihres höherrangigen wirtschaftlich-technischen Entwicklungsstandes und Wien war ein unentbehrlicher Zielort, weil die Kaiserstadt für die jungen Adeligen zugleich Bewährungsprobe des bisher Erlernten und Sprungbrett für die zukünftige Verwendung in Herrscherdiensten war. Hofleben und Weltstadterfahrung, zwei Hauptzüge adeliger Reiseerfahrung, trafen hier eng verbunden aufeinander.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt sich als frühe Form des heutigen Wandertourismus die Fußreise, jene langsame, den Raum gleichsam abtastende Fortbewegung durch Landschaft und Gesellschaft. Sie diente als Mittel zur Sammlung körperlicher und sinnlicher Erfahrung durch eigene Anschauung, folgend dem Ideenhorizont der Aufklärung. Durch Festhalten und Niederschreiben wurde das Gesehene geordnet und in ein System von Erfahrung gebracht. Damit beginnt die große Zeit der Reiseliteratur, die die Selbstfindung des eigenen Ich in der Fremde als wichtige Schule bürgerlicher Charakterbildung in den Vordergrund rückt. Die Fußreise hatte aber auch einen antifeudalen Aspekt und verkörperte eine Haltung, die sich symbolisch von der lebemännischen Grand Tour der jungen Adeligen unterschied. Der aufrechte Gang war insbesondere in den deutschen Landen, den damaligen Fürstentümern und Königreichen, ein Element des bürgerlichen Oppositionsgeistes gegen die Adelsprivilegien des Spätabsolutismus, drückte er doch eine soziale Parteinahme für das Volk aus.
Formen und Phasen des Tourismus
Versucht man den Tourismus zu systematisieren, in eine chronologische Ordnung der Entwicklung zu bringen, so geht mit den adeligen und später großbürgerlich geprägten Individualreisen eine erste Epoche des Reisens zu Ende. Wenngleich insbesondere die Grand Tour primär aus anderen Motiven unternommen wurde, so sind doch deutlich Elemente eines frühen Bildungs- und Kulturtourismus darin festzustellen. Die besuchten Orte waren die antiken Kunststätten, Kirchen, Klöster, Schatz- und Kunstkammern und ähnliche Sehenswürdigkeiten in ganz Europa. Die mit der Aufklärung entstehende bürgerliche Bildungsreise diente der Horizonterweiterung in jeglichem Sinn und orientierte sich an den gleichen und ähnlichen Orten in Italien und später in Griechenland. Das Reisen wird zu dieser Zeit eine neue Form adäquater Welterfahrung, inspiriert durch die Lektüre großer Schriftsteller (wie etwa die Italienreisen Goethes im ausgehenden 18. Jahrhundert), die eine Italien-Sehnsucht nördlich der Alpen auslösten.6 Die üblichen Reisemittel dieser Zeit waren die Kutsche und das Segelschiff. Das Straßennetz war von geringer Dichte, die Straßen schlecht, die Reisegeschwindigkeit niedrig.
Schon im 15. Jahrhundert erfolgen die ersten Weltreisen der von Krone und Kaufleuten finanzierten Entdecker, Soldaten und Wissenschaftler, dringen Europäer auf die anderen völlig unbekannten Kontinente vor, nehmen sie in Besitz und unterwerfen die lokale Bevölkerung. Seit dem 16. Jahrhundert reisen Jesuiten wie die Händler entlang der Seidenstraße an den Hof des chinesischen Kaisers. Erst acht Jahre nach seinem Aufbruch berichtete der Linzer Pater Grueber seinem Auftraggeber, dem Papst, von den Lebensumständen am Hof des chinesischen Kaisers und von den Waffenarsenalen im Reich der Mitte.7 Die Entstehung wie die Ausdehnung der Kolonialreiche in Übersee und die Erzählungen von exotischen Inseln und wundersamen Gegenden weckten das Interesse breiter Gesellschaftskreise. Abenteurer durchquerten zu Pferd oder mit Kamelen die Wüsten und Gebirge der Welt, machten sich auf die Suche nach den Quellen des Nil und fanden einen florierenden Sklavenhandel quer über den dunklen Kontinent. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wächst die Reiselust des Bürgertums durch Weltausstellungen in europäischen Hauptstädten ins Unermessliche. Sie zeichnen ein operettenhaftes Asien oder Afrika mit kolonialer Propaganda, die von zwei Elementen lebt – von fremden Landschaften und weißen Kolonialherren, die in den Tropen ihre höchst privilegierte Lebensart kultivieren. Auch die damalige Reiseliteratur ist von der Überlegenheit der europäischen Zivilisation geprägt, wie Edward Saids Schriften »Orientalismus« und »Kultur & Imperialismus« vor Augen führen.
In den Jahren zwischen den Weltkriegen unternahmen Draufgänger die ersten Fernreisen mit Motorrädern und Autos, zogen Expeditionen in die Hochgebirge Südamerikas und Asiens. Ihre Reiseberichte und Fotos fesselten das Publikum ebenso wie das Ringen der Alpinisten um die Gipfel und mit dem Tod. Die enorme Sehnsucht nach Welterfahrung, nach Mobilität und friedlicher Begegnung mit anderen Völkern sowie nach unterhaltsamen Formen der Ablenkung führten nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren letztlich zu einem globalen Reisemarkt, der sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem der weltweit größten Wirtschaftszweige entwickelte. Aber Reisen als selbstverständlicher Bestandteil von Kultur bzw. einer Lebensweise blieb bis heute ein Privileg der Wohlhabenderen in der westlichen Welt. Die schönsten Ecken der armen Länder des globalen Südens wurden zwar im Laufe der Diversifizierung des Marktes zu exklusiven Destinationen des Ferntourismus, aber außer den lokalen Eliten können sich dort bis heute nur kleine Segmente der Bevölkerung Urlaubsreisen leisten.
Meeresküsten- und Badetourismus
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt zunächst in Großbritannien, gegen Ende des Jahrhunderts auch auf dem europäischen Kontinent, der Bädertourismus bzw. die Hinwendung zum Meer. In Scarborough startete der Badetourismus bereits im 17. Jahrhundert und vom Baden im Meer wird schon in den 1720er Jahren berichtet. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden an der englischen Südküste im kleinen Fischerdorf Brighton die Grundlagen zum Modebad der feinen englischen Gesellschaft gelegt. Kurpromenaden und Meereswasser-Badehäuser entstanden und der Ort erfuhr seine Aufwertung durch die Pläne des englischen Königshauses, sich hier eine Sommerresidenz zu errichten. Auf dem Festland entstanden die ersten Seebadeanstalten an der französischen Atlantikküste und am Ärmelkanal, etwas später an der Ostsee.
Das Fräulein stand am Meere
und seufzte lang und bang,
es rührte sie so sehre
der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein! Sein Sie munter,
das ist ein altes Stück;
hier vorne geht sie unter
und kehrt von hinten zurück.
(Heinrich Heine, Das Fräulein stand am Meere)
Dem Meer, der unbändigen Natur, wurden Kräfte zugeschrieben, um im Menschen Harmonie zwischen Körper und Seele wieder herzustellen, dem Verlust von Lebensenergie und der verbreiteten Melancholie und Unruhe entgegenzuwirken. Die von derart erwartungsvoller Neugier stimulierte Meereslust – so Alain Corbin8 in seiner umfassenden Studie über das Abendland und die Entdeckung der Küste – drängte die elitäre Gesellschaft zur Reise ans Meer, weil es die schon damals als schädlich empfundenen Auswirkungen der urbanen Zivilisation, den »Spleen« und die ungesunden Folgen der Bequemlichkeit zu beheben imstande sei. Man war überzeugt, dass ein Meeresaufenthalt den vom Denken überanstrengten Geist wieder gesund werden lässt, denn der Strand härtet Individuen ab, die sich von der Bequemlichkeit so haben versklaven lassen, dass sie nur noch auf dem Teppich laufen könnten. Die Ozeane verkörpern im Kontrast dazu die ungebändigte Natur, die keine Lüge duldet. Daraus entsteht das Paradox, auf dem die damalige Mode des Strandaufenthalts beruht – das Meer wird eine Zuflucht, es gibt Hoffnung, weil es Angst einflößt. Das wachsende Verlangen nach Meeresküste war insbesondere im niedrigen Adel, bei den Mitgliedern der »gentry,« verbreitet und galt zudem als »très chic«.
Bis in die Gegenwart erwarten sich Urlauber von Aufenthalten am Meer wohltuende Auswirkungen für ihre Gesundheit, wo Himmel und Wasser den Horizont formen wird ein Stück Freiheit vermutet und Sonne getankt, in den profanen Tempeln der ausgelassenen Unterhaltung auch andere Elixiere, und zusammen bilden sie ein Paket, das seit gut 50 Jahren für viele Menschen zum Inbegriff eines erfolgreichen Urlaubs geworden ist.9 Auf die sogenannten »Warmwasserziele« entfällt die große Mehrheit aller Urlaubsreisen, was sich in der beinahe lückenlosen Verbauung sämtlicher Küstenlandschaften niederschlägt, die damit zu monokulturellen Tourismuslandschaften wurden.10
Etwa gleichzeitig zur Entdeckung der Meeresküsten werden die Reisen zu Heilquellen im Binnenland modern, die ersten Kurorte entstehen, wo Heilquellen sprudeln und für viele Leiden Linderung versprechen. Auch diese Kuraufenthalte waren zunächst ein Privileg des Adels und des vermögenden Bürgertums, gegen Ende des 19. Jahrhunderts können sich auch die sozial mittleren Schichten derartige Aufenthalte leisten. Etliche der berühmtesten Kurstädte haben bis heute ihr charakteristisches Ortsbild bewahren können. Beispielhaft zu nennen sind Bath in England mit seiner auf die Antike verweisenden Architektur, ein Welterbe bereits seit 1987, Karlsbad in der heutigen Tschechischen Republik, sowie Bad Gastein und Bad Ischl in Österreich. Alle diese Orte waren europaweit gefragt und profitierten von den Aufenthalten gekrönter Häupter sowie berühmter Musiker und Schriftsteller, die diesen Kleinstädten ein intellektuelles und künstlerisches Flair verliehen. Mit dem Siegeszug der »Trinkkur« erhielten ihre Ortsbilder ihr unverwechselbares und charakteristisches Aussehen. Brunnen- und Wandelhallen, Spielbanken, Luxushotels aber auch der Kurpark kamen zu jener Zeit auf und sind bis heute unverzichtbar für den klassischen »Kurort.«11 2021 wurden elf bedeutende europäische Kurorte als transnationales und serielles Welterbe »Great Spa Towns of Europe« in die Liste der UNESCO aufgenommen.12
Eine gewisse Ähnlichkeit zu dieser Art von Gesundheitstourismus hat die Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommende »Sommerfrische.« Es handelt sich dabei um einen mehrwöchigen oder noch längeren Aufenthalt vermögender Familien des Bürgertums in einer Villa oder Pension in ländlichen Regionen, um der sommerlichen Hitze in den Städten zu entgehen. Zur Zeit der österreich-ungarischen Monarchie – insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – weilten die Aristokratie und kaiserliche Beamte während der Sommermonate in der Nähe »Seiner Kaiserlichen Majestät,« die sich in Kurorten im Salzkammergut bzw. in den Wiener Alpen um den Semmering aufhielt. Die im Zuge des Klimawandels auch in den gemäßigten Breiten immer häufiger auftretenden Hitzesommer bescheren dem Sommerfrische-Tourismus und der Sommersaison in den Alpen seit einigen Jahren erhebliche Zuwachsraten.13
Phasen der Tourismusentwicklung
Die »erste Phase des modernen Tourismus« ist in die Zeit von 1835 bis 1880 zu datieren und beginnt mit dem Zeitalter der Eisenbahn. Sie erlaubte es, eine größere Zahl von Menschen zu transportieren und vom Unternehmergeist getrieben entstanden erste Ansätze einer touristischen Infrastruktur. Kurorte und Seebäder expandierten, Hotels und Pensionen wurden gebaut, Reisebüros entstanden, um das Reisegeschäft und die Buchungen abzuwickeln. Tourismus als Phänomen der Moderne geht von der industriellen Transformation aus. Touristische Nachfrage entsteht in industriellen Zonen der Weltwirtschaft und nimmt damit in England seinen Ausgang, später erfasst sie den gesamten westeuropäischen Industriekern. Aber nicht die Arbeiterschaft reist zuerst, sondern das städtische Bürgertum, die neue wohlhabendere Schicht leistet sich Reisen und fährt in den Urlaub, wobei sie sich an den Verhaltensweisen des Adels orientiert, der seinerseits neue Ziele aufsucht.
Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts dringen Adelige ins Hochgebirge vor, der erste Alpine Club wird 1857 in London von britischen Alpinisten als »Gentlemen’s Club« gegründet. 1862 entsteht der Österreichische Alpenverein in Wien, 1869 der Deutsche Alpenverein in München. Erstbesteigungen in den West- und Ostalpen folgen, die Erschließung der Bergwelt mit alpinen Hütten und Wegen führen die Mitglieder der Alpenvereine durch. Zweck der Vereine waren vor allem die Förderung des Bergsteigens und des Jugendwanderns. In etlichen Alpentälern entsteht im Laufe der Jahre eine Tourismusinfrastruktur und mit der Verbreiterung des Eisenbahnnetzes rücken die Städte zeitlich näher an die Berge heran.14
1845 gründete Thomas Cook in England sein erstes Reisebüro, das er in einigen Jahrzehnten mit der Durchführung von Pauschalreisen zu einer weltumspannenden Organisation entwickelte. Profitierend von den vielen überseeischen Besitzungen des britischen Kolonialreiches wurde er zum berühmtesten Reiseveranstalter der Welt.15 Die Geschichte des ältesten Reiseunternehmens der Welt endete 2019 mit der Insolvenz des Konzerns. 1876 wurde in Frankreich die Compagnie Internationale des Wagons-Lits (CIWL) gegründet, die mit ihren Luxuszügen (darunter dem Orient-Express) einen großen Teil des Zugreisemarkts gewinnen konnte und neben Cook und American Express zu einem der wichtigsten Reisebüros aufstieg.
Die touristische Entwicklung in Deutschland folgte der in England, das Reisebüro Stangen übernahm das Pauschalsystem von Cook, womit Touristen gegen einen im Voraus zu entrichtenden Betrag mit Schiff, Eisenbahn oder Postkutsche befördert und in gebuchten Gasthöfen entlang der fixierten Reiseroute untergebracht wurden.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommen auch die ersten Reisehandbücher auf den Markt. 1828 publizierte der Deutsche Karl Baedeker die Reisebeschreibung »Rheinreise von Mainz bis Cöln.« Seine Reiseführer boten detaillierte und zuverlässige Informationen in einer einfachen und sachlichen Sprache. »Murray’s Handbooks for Travellers« erschienen ab 1836 und widmeten sich Destinationen in Europa, in Teilen von Asien und Nordafrika. Murray’s präzise Reiseplanungen entsprachen dem Ideal der aufkommenden Tourismusindustrie wie der britischen Handels- und Industrieorganisation im Allgemeinen, weil sie praktische Handreichungen für die Reisenden waren und Sicherheit gaben.16
Mit der Etablierung und Ausdehnung der Sommerfrische bzw. anderer Reiseformen auf die sozial mittleren Schichten kann man von einer »zweiten Phase der Tourismusgeschichte« sprechen, die bis zum Ersten Weltkrieg reicht. Dies betrifft insbesondere die Anfänge des Sozialtourismus durch Gewerkschaften und Arbeiterbewegung. Ende des 19. Jahrhunderts entsteht mit dem wachsenden Industrieproletariat in vielen Ländern eine Arbeiterbewegung, die zusehends zu einem wichtigen politischen Akteur wurde. Sie kämpfte nicht nur für die Rechte der Arbeiter wie höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen. Sie erreichte auch die Verkürzung der Wochenarbeitszeit und Sonn- und Feiertage wurden zu arbeitsfreien Tagen, womit sich erstmals Gelegenheit für einen Sonntagsausflug bot. Die Arbeitervereine verstanden sich aber auch als Bildungsbewegung und es entstanden Arbeiterfreizeit-Organisationen wie etwa die Arbeiterwanderer. 1895 wurde in Wien der proletarische Touristenverein »Die Naturfreunde« gegründet. Die Reiseziele lagen zumeist nicht sehr weit von den Wohnorten entfernt und konnten mit der Bahn oder mit dem Fahrrad erreicht werden.17
Erste massentouristische Erscheinungen – gewissermaßen als »dritte Phase der Entwicklung« – datieren in die 1930er Jahre. Während des Ersten Weltkriegs war jeglicher Tourismus zum Erliegen gekommen. 1925 wurde in Italien das »Opera Nazionale Dopolavoro« (Nationale Organisation nach der Arbeit) gegründet, eine Werkstätte des Faschismus, durch welche die Freizeit unter einheitlichen nationalen Gesichtspunkten modelliert und kontrolliert wurde. Sie sollte ausschließlich kollektiv konsumiert werden. Wanderungen, Märsche, Schießübungen, volkstümliche Gesellschaftsreisen und Massenveranstaltungen wurden organisiert, um eine faschistische Volksgemeinschaft zu generieren. Im Deutschen Reich entstand mit Hilfe der »Nationalsozialistischen Gemeinschaft Kraft durch Freude (KdF)« ein politisch organisierter Volks- und Sozialtourismus nach italienischem Vorbild. Die politische Steuerung der Menschen verfolgte das Ziel, durch gemeinsame Freizeitnutzung die kulturellen und sozialen Gegensätze zu überdecken und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit – ein Volk, ein Reich – zu entwickeln. Die NS-Gemeinschaft KdF wurde so zum damals größten Reiseveranstalter, zwischen 1934 und 1939 wurden 40 Mio. Reisen verkauft. Der Tourismus-Historiker Hasso Spode nennt dies den ersten deutschen Reiseboom.18
In den Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg entstand nach den schweren Jahren des Wiederaufbaus aus der »Arbeitsgesellschaft« nach und nach eine »Freizeitgesellschaft.«19 Der Urlaub wurde zumindest in den westlichen Gesellschaften zu einem Teil des Lebensstils, die Jahresfreizeit stieg enorm und die Zahl der Arbeitstage nahm sukzessive ab. Gründe dafür waren die fortschreitende Mechanisierung und Technisierung der Arbeitsprozesse sowie sozialpolitische Reformen.
Die vollständige Industrialisierung des touristischen Reisens und »Reisen für Jedermann & seine Frau« markiert die »vierte Phase des modernen Tourismus,« die in der westlichen Welt etwa in den 1970er Jahren begann und mit der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 zu Ende ging. Seit der Jahrtausendwende entwickelten insbesondere die Schwellenländer Asiens einen stark expandierenden Tourismus der sich auch in den Ankünften in Europa deutlich niederschlug. Die Zahl der grenzüberschreitenden Reisen lag 2019 etwa zehnmal so hoch wie vor 50 Jahren. Europa verzeichnete 2018 mit insgesamt 740 Mio. Touristenankünften mehr als doppelt so viele wie der Asien-Pazifik-Raum mit 360 Mio. und mehr als das Dreifache gegenüber Amerika mit 220 Mio. Auf die Top-10 Destinationen entfallen 40 % der weltweiten Touristenankünfte – auf Frankreich 89 Mio., Spanien 83, USA 80, China 63, Italien 62, Türkei 46, Mexiko 41, Deutschland 39, Thailand 38, UK 36 und Österreich liegt mit knapp 30 Mio. knapp dahinter. Die Länder mit den höchsten internationalen Tourismusausgaben waren mit großem Abstand China, die USA und Deutschland. Auf Europa entfallen rd. 40 % aller internationalen Tourismusausgaben, gefolgt vom Raum Asien-Pazifik und den amerikanischen Ländern. 51 % aller internationalen Tourismusreisen entfallen auf Europa, ein Viertel auf Asien-Pazifik und 15 % auf Amerika. Afrika und der Mittlere Osten erreichen zusammen etwa 10 %. 56 % aller Reisen sind Urlaubs- oder Vergnügungsreisen, 27 % erfolgten aus gesundheitlichen oder religiösen Gründen, 13 % aus beruflichen Gründen. Der Anteil der Flugreisen hat sich von 2000 auf 2018 von 46 % auf 58 % erhöht, etwa im selben Ausmaß nahm der Tourismus zu Land ab. 2019 wurden in der weltweiten Luftfahrt rd. 47 Mio. Flüge verzeichnet, der Umsatz im Flugreiseverkehr lag bei 612 Mrd. US $. Ausgelöst durch die Reisebeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie schrumpfte der Weltmarkt um rund 80 %.20
Der touristische Reiseverkehr in Europa erfolgt vorwiegend mittels PKW. Reisebusse und Züge haben eine zweitrangige Bedeutung, Flugzeuge sind nicht nur im Ferntourismus zur Selbstverständlichkeit geworden. An Beliebtheit zugenommen haben insbesondere Kreuzfahrten. Weltweit machten 28,5 Mio. Passagiere im Jahr 2018 eine Schiffskreuzfahrt, was einer Verdoppelung gegenüber 2005 entspricht. Das Reisebedürfnis unter der urbanen Bevölkerung ist wesentlich ausgeprägter und bis heute gehen die oberen sozialen Schichten häufiger und länger auf Reisen.21
Die Touristifizierung des Globus
Die Weiterentwicklung des Transportwesens und die flächenhafte Erschließung, damit die »Touristifizierung« nahezu aller attraktiver Regionen für den Tourismus, haben zu dieser globalen Entwicklung wesentlich beigetragen. Hatte die Eisenbahn die erste große Expansion eingeleitet und war sie auch nach dem Zweiten Weltkrieg zuerst noch das dominierende Transportmittel, so ist das heute im postmodernen Tourismus eindeutig der PKW, weil er den Aktionsradius ausdehnt und eine noch größere individuelle Mobilität erlaubt. Deren ungezügelte Entwicklung ist das zentrale Kennzeichen des höchst individuellen Tourismus der letzten Jahrzehnte, wenngleich die Tourismusdestinationen mit einer großen Vielfalt von standardisierten Angeboten aufwarten. Die rasch wachsende Motorisierung der Bevölkerung und die Ausdehnung des Straßennetzes trugen zu dieser Verlagerung des Tourismus bei, weil auch entlegenere Destinationen nun gut erreichbar wurden, wohingegen seinerzeit nur die Gebiete im Einzugsbereich der Eisenbahn vom Tourismus erfasst waren.
Heute reisen etwa drei von vier aller Deutschen mit dem Auto in ihre Urlaubsorte, in anderen Ländern Europas ist das nicht viel anders, zumal für Familienurlaube der PKW das preisgünstigste Verkehrsmittel darstellt. Camping wurde erst durch das Auto zu einem Tourismustrend und vom Zelt über den Wohnwagen hin zum »Clamping,« einem Deluxe-Camping, und zu rollenden Wohnzimmern, entstand eine direkt am Auto ausgerichtete Tourismussparte. Der Bus als Reisemittel hat gegenüber dem PKW an Bedeutung verloren, bedient aber kontinuierlich erfolgreich das Segment der Gruppenreisen. In Zeiten des Klimawandels hat er an Image gewonnen, weil er gegenüber dem individuellen Autoverkehr deutlich weniger Treibhausgase ausstößt und daher als umweltfreundlicher gilt. Den größten negativen ökologischen Fußabdruck hat der Flugverkehr gefolgt von den Kreuzfahrtschiffen. Das Flugzeug wurde zum bedeutendsten Verkehrsmittel für den Pauschaltourismus, der auf Serienfertigung, Standardisierung, arbeitsteilige Produktion und hohe Stückzahl pro Einheit setzt. Charterreisen von den Agglomerationen in die Feriendestinationen gehören heute zum touristischen Alltag. Mit der Einführung sogenannter »low-cost carrier« bzw. durch den Preisverfall bei Flugreisen wurden Kurz- und Fernflüge für eine breite Gesellschaftsschicht erschwinglich. Auch der anhaltende Boom im Kultur- und Städtetourismus ist teilweise darauf zurückzuführen.22
Der touristische Autoverkehr hat nicht nur wegen der Umweltbelastung negative Auswirkungen, sondern auch aufgrund der Verkehrsdichte. Die Völkerwanderungen im »zähflüssigen Verkehr« über die verstopften Autobahnen in die Urlaubsregionen am Mittelmeer oder in den Alpen erzeugen in den Destinationen ebensolche »crowding« Effekte. Im Städtetourismus oder in manchen Schisportorten spricht man von »overtourism,« einem Phänomen, bei dem die Tragfähigkeit einer Destination überfordert und die Erlebnisqualität der Reisenden wie die Lebensqualität der Bewohner beeinträchtigt wird.
Spätestens seit der Jahrtausendwende ist von einer weltumspannenden Tourismusindustrie zu sprechen, die sämtliche Verkehrsmittel in Anspruch nimmt und auch aus ganz entlegenen Regionen eine »pleasure periphery,« eine Peripherie des Vergnügens, entwickelt hat. Die verschiedenen Sparten des Tourismus bedienen alle Bedürfnisse, die aus den Defiziten des Alltags erwachsen und die im Wesentlichen auch die Reisemotive darstellen wie etwa den Wunsch nach Selbstverwirklichung, Erholung, Vergnügen, Prestige und die Suche nach dem zeitweisen Glück.
Der moderne, gehetzte Mensch habe das permanente Gefühl, etwas zu versäumen und dabei – so Klaus Kufeld – den Blick für die Schönheit des Unterwegsseins verloren, die zum Innehalten aufruft.23 »Slow Tourism« – langsame Formen von Urlaub und des Reisens wie der naturnahe Tourismus mit Verzicht auf Auto, Zusammenschlüsse von autofreien Urlaubsorten und Bergsteigerdörfer haben sich als Nischenmärkte herausgebildet, weil sie dem Bedürfnis nach reduzierter Lebensgeschwindigkeit entsprechen. Karlheinz Wöhler sieht in der Loslösung aus dem Alltag daher auch keine Flucht, sondern vielmehr die Aufrechterhaltung des Selbst im Alltag, denn Reisen unterbricht den profanen Alltag und gibt dem Leben neuen Sinn. Konsum-, Freizeit- und Tourismuswelten sind Leiträume der Postmoderne, die einen Alltagsraum brauchen, um als Anderswelt wahrgenommen zu werden. Sich von angestammten Räumen zu entfernen, ermöglicht ein Anderssein, ein über sich hinausgehen können. Der Tourismus wird damit zu etwas Außeralltäglichem und in Begehrensräumen lernt der Mensch die Unvollständigkeit seines Seins zu erkennen. In Tourismusräumen werden daher Orte vermutet, an denen sich der Sinn des Lebens erschließt und Erlebnisdefizite behoben werden können – es sind glücklich machende Fernräume, »Heterotope.«
Der temporäre Raumaufenthalt ist aber auch ein Konsumgut, das als mythische Form bzw. als verschönerter Raum ökonomisch genutzt wird. Im Massentourismus ist die Landschaft zu einem Konsumartikel geworden und die Zimmer mit Ausblick werden teurer verkauft als jene in den Hinterhof – das trifft auf die Berge ebenso zu wie auf das Meer oder eine historische Altstadt. Derartige Panoramen des Schönen bilden das Grundkapital für eine Tourismuslandschaft, bei der das Pittoreske und das Typische als Wahrzeichen einer Region oder sogar als nationale Symbolartikel gehandelt werden. Die Bucht von Capri, die steilen Flanken des Matterhorns, die Straßenschluchten von Manhattan, der Blick vom Trocadéro über das Champ de Mars mit dem Eiffelturm – sie sind Ikonen und Wiedererkennungsbilder, mit denen die Sehnsucht nach Erfahrung durch eigene Anschauung und Erlebnisintensität ausgelöst oder gesteigert wird.
… so dass sich wohl sagen lässt, dass die Reisen für jede Art des Lebens keineswegs unwichtig sind
(Theodor Zwinger, Methodus Apodemica, 1577)
Tourismus im digitalen Zeitalter ist Begehung mit Blicken, die nicht mehr mit eigenen Augen definiert werden müssen. Die Kunst hat die Rolle des Kundschafters etwa in der Landschaftsmalerei praktiziert, hat Images geschaffen, die im »cross-medialen« Tourismusmarketing der »Erlebnisraumbewirtschaftung« zu stereotypen Bild-Marken und mit weiteren Erlebnisversprechen angereichert werden. Die Erfahrung der Landschaft mittels Eisenbahn, Seilbahn oder Auto löst somit ein Spannungsverhältnis zwischen Natur und Technik aus, weil sich dadurch eine wilde und unzugängliche Gebirgslandschaft in eine prototypische Tourismuslandschaft verwandelt, in eine Vergnügens- und Erlebnislandschaft transformiert wird. Das neue Landschaftsgefühl trägt dem Wunsch Rechnung, die Natur technisch zu beherrschen.24
Beispiele für solche Veränderungsprozesse sind etwa die Eisenbahnlinie über den Semmering. Sie ist Welterbe seit 1998 wegen ihrer herausragenden technischen Leistung als erste Hochgebirgs-Eisenbahn und weil damit Gebiete von großer Naturschönheit leichter zugänglich, für Wohnbau und Erholung erschlossen wurden, was zur Schaffung einer neuen Landschaftsform führte. Ähnliches trifft auf die Räthische Bahn in den Schweizer Alpen zu, Welterbe wegen ihrer eindrucksvollen Linienführung und Bautechnik seit 2008. Das Gleiche gilt für kühne Trassen und Alpenstraßen wie etwa über die Dolomitenpässe, die Großglockner Hochalpenstraße von Salzburg nach Kärnten durch den Nationalpark Hohe Tauern oder die Deutsche Alpenstraße, aber ebenso für Ocean Drives wie die Corniche an der Côte d’Azur oder die Amalfitana, die kurvige Küstenstraße entlang des Golfs von Salerno südlich von Neapel.
Die damit einhergehende Transformation trifft auf viele andere Landschaften auf allen Kontinenten zu. Nach der Erfindung des Autos kamen die Panoramastraßen, die Parkways in den USA etwa, weil die Städter mit ihren motorisierten Vehikeln die Natur und die Peripherie der Städte erkunden wollten. Die Meisterwerke der Ingenieurskunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dokumentieren so nicht nur den beeindruckenden technischen Fortschritt, sondern können auch als Symbole der Zähmung der Natur und deren Aufbereitung für einen kinoartigen Schaugenuss für die Besucher gesehen werden. Sie bilden nun ein Naturtheater, das durch genießenden Konsum wahrgenommen werden kann. Durch die Inanspruchnahme der touristischen Infrastruktur entsteht ein Tourismusraum, der durch diesen Beziehungsmodus erfahren wird. Sein Durchfahren verkleinert gefühlsmäßig den Erlebnisraum und verschiebt Begriffe wie Nähe und Ferne.
Fußnoten
- 1.Einen guten Überblick gibt das Buch Reisekultur, Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, hgg. von Hermann Bausinger, Klaus Beyrer und Gottfried Korff, München 1991.
- 2.Stefan Kunze (Hg.), Wolfgang Amadeus Mozart. Briefe, Stuttgart 2005, 47 und 163
- 3.Dazu ausführlich: Hermann Glaser/Thomas Werner, Die Post in ihrer Zeit, Eine Kulturgeschichte menschlicher Kommunikation, Heidelberg 1990.
- 4.Im Folgenden dazu Justin Stagl, Eine Geschichte der Neugier, Die Kunst des Reisens 1550–1800, Wien-Köln-Weimar 2002, sowie Bausinger, Beyrer und Korff, München 1991.
- 5.Ebd., 95.
- 6.Hier und im Folgenden ausführlich Rüdiger Hachtmann, Tourismus und Tourismusgeschichte, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.12.2010 (online: http://dx.doi.org/10.14765/zzf.dok.2.312.v1, 20.04.2021).
- 7.Johannes Grueber, Als Kundschafter des Papstes nach China 1656–1664, Stuttgart 1985.
- 8.Meereslust, Das Abendland und die Entdeckung der Küste, Frankfurt 1994.
- 9.Der Meeresbiologe Wallace J. Nichols vermutet in der engen Beziehung zwischen dem Wasser und unserem Gehirn einen Grund für dieses Wohlbefinden. Blue Mind, Wie Wasser uns glücklich macht, Stuttgart 2021.
- 10.Zur Entfaltung des Tourismus an den Mittelmeerküsten oder auf Mallorca siehe Andreas Kagermeier, Tourismusgeographie, Konstanz und München 2016.
- 11.Gabriele Knoll, Kulturgeschichte des Reisens, Von der Pilgerfahrt zum Badeurlaub, Darmstadt 2006.
- 12.The transnational site of The Great Spa Towns of Europe comprises 11 towns, located in seven European countries: Baden bei Wien (Austria); Spa (Belgium); Františkovy Lázne (Czechia); Karlovy Vary (Czechia); Mariánské Lázne (Czechia); Vichy (France); Bad Ems (Germany); Baden-Baden (Germany); Bad Kissingen (Germany); Montecatini Terme (Italy); and City of Bath (United Kingdom). Together, these sites embody the significant interchange of human values and developments in medicine, science and balneology. Weitere Informationen dazu unter https://whc.unesco.org/en/list/1613, 5.8.2021.
- 13.Hanns Haas, Die Sommerfrische – Eine verlorene touristische Kulturform. in: Hanns Haas, Robert Hoffmann und Kurt Luger (Hg.), Weltbühne und Naturkulisse – Zwei Jahrhunderte Salzburg-Tourismus. Salzburg 1994, 67–75; Wolfgang Kos, Der Semmering – Eine exzentrische Landschaft, Salzburg 2021.
- 14.Rainer Armstädter, Der Alpinismus – Kultur, Organisation, Politik, Wien 1995; Anneliese Gidl, Alpenverein, Die Städter entdecken die Alpen, Wien-Köln-Weimar 2007; Katharina Scharf, Alpen zwischen Erschließung und Naturschutz, Tourismus in Salzburg und Savoyen 1860–1914, Innsbruck-Wien 2021.
- 15.Jörn Mundt, Thomas Cook – Pionier des Tourismus, Konstanz-München 2014.
- 16.Hasso Spode, Der moderne Tourismus – Grundlinien seiner Entstehung und Entwicklung vom 18.–20. Jahrhundert. In: Moderner Tourismus – Tendenzen und Aussichten, Materialien zur Fremdenverkehrsgeographie. Trier, 39–76.
- 17.Manfred Pilz, „Berg frei“ 100 Jahre Naturfreunde, Wien 1994;
- 18.Hasso Spode, Die NS-Gemeinschaft ‚Kraft durch Freude‘ – ein Volk auf Reisen? in: Zur Sonne, zur Freiheit! Beiträge zur Tourismusgeschichte, Berichte und Materialien Nr. 11 des Studienkreises für Tourismus und des Instituts für Tourismus der FU Berlin, Berlin 1991, 79–93.
- 19.Hans-Werner Prahl, Soziologie der Freizeit, Paderborn 2002. In Deutschland wurde die touristisch ausgerichtete empirische Freizeitforschung in den 1990er Jahren von Horst Opaschowski geprägt, der mit dem demoskopischen B.A.T-Institut eine Reihe von Untersuchungen durchführte und reichhaltig publizierte. Sein Überblicksartikel zum Thema Freizeitpsychologie ist nachzulesen in Heinz Hahn/H. Jürgen Kagelmann (Hg.), Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft, München 1993, 79–84.
- 20.Nach Angaben der UN-WTO und länderspezifisch differenziert siehe https://www.unwto.org/international-tourism-and-covid-19, aufgerufen 31.7.2021; https://www.e-unwto.org/doi/book/10.18111/9789284421152, aufgerufen 31.7.2021.
- 21.https://de.statista.com/themen/702/tourismus-weltweit/, aufgerufen 31.7.2021.
- 22.Einen Gesamtüberblick liefert Sven Groß, Handbuch Tourismus und Verkehr – Verkehrsunternehmen, Strategien und Konzepte, Konstanz und München 2017.
- 23.Vom Verlassen der Paradiese. Des unüberholbaren Romantikers philosophische Perspektive auf das Reisen, auch das touristische. in: Roman Egger/Kurt Luger (Hg.), Tourismus und mobile Freizeit – Lebensformen, Trends, Herausforderungen. Norderstedt 2015, 11–26.
- 24.Bernhard Tschofen, Berg-Kultur-Moderne, Volkskundliches aus den Alpen, Wien 1999; Thomas Zeller, Straße-Bahn-Panorama, Verkehrswege und Landschaftsveränderung in Deutschland von 1930 bis 1990, Frankfurt und New York 2002.
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