Leseprobe »Tourismus – Über das Reisen und Urlauben in unserer Zeit«: Orte des Glücks, mobile Privatisierung und emotionale Geografie
Zu den wesentlichen Kennzeichen unserer westlichen industrialisierten Kultur gehört die Mobilität oder besser gesagt, die totale Mobilmachung, die zumindest scheinbar vollständige Verfügung über Raum und Zeit. In 24 h können wir bzw. die finanziell Begünstigten in dieser Gesellschaft, die »kinetische Avantgarde«, an nahezu jeden Ort der Welt fliegen und die Heranwachsenden von heute lernen im selben Zeitraum mittels »Interrail« drei europäische Bahnhöfe kennen. Auf Knopfdruck verfügen wir live über die Bilder, die uns im Heimquadrat zugänglich gemacht und nach Belieben an- und abgeknipst oder auf dem Smartphone her- und weggewischt werden können. Für diese kulturelle und kommunikationstechnologische Globalisierung sind zwei Errungenschaften verantwortlich: der internationale Tourismus und die Entwicklung der Medien- und Kulturindustrie, die in Verbindung mit dem Internet zu einem jederzeit verfügbaren globalen Bildermarkt geworden ist.
Die voranschreitende Industrialisierung, die Verstädterung und Erhöhung der regionalen Mobilität, die Steigerung der Einkommen und die Sättigung alltäglicher Konsumbedürfnisse, das immer breiter und preisgünstiger werdende Tourismusangebot, die Umleitung gesellschaftlicher Differenzierungs- und Prestigewünsche auf Konsumdemonstration und Symbole führte in den westlichen Industriestaaten zu massentouristischen Erscheinungen. Dies trifft auf viele beliebte und damit vielbesuchte Orte zu, auf historische Altstädte, auf Schipisten in den Alpen und auf viele Meeresküsten, die zum Teil Opfer des »Massentourismus« wurden, diesen aber auch provozierten und suchten. Der Tourismus der großen Zahl bzw. das Leben in ständiger Aufbruchsstimmung sind Gestaltungselemente des industriegesellschaftlichen Lebensstils. Die Tourismusindustrie stellt für alle sozialen Gruppen erschwingliche Angebote bereit und so wurden Urlaubsreisen im Laufe der Jahre zu einem Bestandteil des demonstrativen Lebenswohlstands. Je nach Wohlstandsniveau gehören sie zur periodischen Routine, die Abwechslung in den Alltag bringt und erhöhen als Konsumartikel die Genusskonzentration einer Erlebnisgesellschaft, die Tourismus als »mobile Freizeit« versteht.
»Kennst du das Land wo die Zitronen blühn.
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin.
Möcht’ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!«
Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meister, 1776.
Wie die Medien- und Tourismusindustrie kulturellen Wandel bewirken können, illustriert ein Blick auf die 1960er Jahre, in denen Urlaub und Tourismus als Teil des Lebensstils kulturell verankert wurden. Sie sind das Jahrzehnt der bemühten Entgrenzungsversuche, nicht nur in Fragen gesellschaftlicher Werte und Moralvorstellungen, sondern auch in der Befriedigung geträumter Außenkontakte. Sie lassen sich als das Jahrzehnt beschreiben, in dem die »mobile Privatisierung« den Lebensstil der meisten Österreicher – aber auch den der Deutschen, der Niederländer usw. – erstmals merkbar prägte.
Dieser von Raymond Williams1 und der Forschungstradition des britischen Kulturalismus geprägte Begriff bringt die Koexistenz des Unterschiedlichen auf den Punkt. Er bedeutet zum einen die Suche nach individueller, privater Freiheit und damit Identität innerhalb der gesellschaftlich abgesteckten Spielräume und Zwänge. Gefunden wurde sie vorwiegend im Konsum, in der Ausgestaltung der Wohnung und im familiären Bereich. In Österreich wurde das Fernsehgerät zur charakteristischen technischen Errungenschaft der 1960er Jahre, vergleichbar dem Kühlschrank in der Dekade zuvor. Steigende Einkommen, die Massenproduktion und Verbilligung der Geräte, Ansprüche an Bequemlichkeit, Prestigekäufe usw. führten dazu, dass die Zahl der Fernsehhaushalte von 200.000 im Jahr 1960 auf 1,4 Mio. im Jahr 1970 stieg. Mit dieser Privatisierung einher ging auch eine Domestizierung, weil sie für viele Menschen einen tendenziellen Rückzug aus aktiven politischen Zusammenhängen bedeutete.
Gleichzeitig bot aber die Technik erstmals die Möglichkeit zu ungeahnter mentaler Mobilität und eine Chance an Ereignissen weltweit teilzunehmen, von der frühere Generationen nicht einmal zu träumen wagten. Die Bevölkerung konnte durch dieses Medium an der Hinausschiebung des Horizonts teilhaben, erlebte weltweite Medienereignisse wie Weltraumflüge, Mondlandung und Olympische Spiele und konnte aus den eigenen vier Wänden heraus direkt mitverfolgen, wie die USA das kleine Vietnam in die Steinzeit zurückbombten. Das Fernsehen – so beschreibt Siegfried Zielinski diese Situation – fusionierte die Grauen der Kriege und militärischen Massenmorde mit der Normalität des Wohnzimmeralltags.2
Im selben Zeitraum stieg die Zahl der PKWs von 404.000 auf 1,2 Mio., der Mindesturlaub wurde von zwei auf drei Wochen erhöht und die Wochenarbeitszeit gemäß Kollektivvertrag sukzessive auf 40 Wochenstunden reduziert. Dieser Zuwachs an disponibler Zeit begünstigte die physische Form von Mobilität und führte zu einem kollektiven Aufbruch in den Urlaub. Zum Inbegriff der Auslandsreise wurde für die Österreicher und auch für die Deutschen die Fahrt an die Obere Adria, die von den Besserverdienern schon in den fünfziger Jahren angetreten worden war und nun auch für weniger Betuchte erschwinglich wurde. Wie die Kleinodien der österreichischen Provinz wurde die Traumwelt der Trivialromane, Filme und Schlager »(Capri-Fischer, Ja ja der Chianti-Wein)« mit ihrer Mixtur aus Meer, Musik und romantischer Liebe zur problemlos benutzbaren Landschaftskulisse. Wärme und Süden bildeten die Fluchträume zur in den Schlagern oft beklagten „kalten Welt“. Auch der Mythos von der Südsee fand seinen trivialisierten Ausläufer in den Schnulzen mit Hawaiigitarren und Aloha-Chören und der Traum von einer Südseereise mit einem Kreuzfahrtschiff steht bis heute ganz oben in den Wunschvorstellungen vieler reiselustiger Silver-Ager.
Stand das beleuchtete Segelschiff zuerst noch als Chiffre der Sehnsucht nach der Ferne auf dem Fernsehgerät, konnte man nun dem Alltagsleben nicht nur mental entfliehen, sondern sich tatsächlich für einige Wochen ausklinken und imaginären Traumgrenzen nähern. Der individuelle Aktionsradius wurde erheblich ausgedehnt und der zusehends automobilisierte Verkehr der Fremden entwickelte sich zum Tourismus der Massen, den die Österreicher zunehmend als Gäste, in noch größerem Ausmaß aber als Bereiste erlebten. Kamen 1954 erst 42 % der Ausländer mit ihrem Auto nach Österreich, waren es 1960 bereits 84 % und daran hat sich bis heute wenig geändert. Das Lebensgefühl wandelte sich vom Statischen zum Mobilen, zum Wohnen und zum Verkehren. Die neuen Kommunikationsmittel, PKWs und Autobahnen, Flugverkehr und Fernsehen, brachten die Hierarchie zwischen Nähe und Ferne zusehends durcheinander und förderten gleichzeitig die Bildung von Identitäten, die das Fremde im Eigenen zu absorbieren versuchten. Massenkultur wie Tourismus kanalisierten die Bedürfnisse der Menschen einer mehr und mehr von Leistung und Konsum angetriebenen Welt und die Vermarktung der Sehnsüchte und Entgrenzungswünsche wurde zu einer eigenen Industrie.3
Das Ausleben von Individualität durch räumliche Entgrenzung, die hohe Frequenz der Flugreisen und der stetig expandierende private PKW-Verkehr haben während der letzten Dekaden eine Dimension erreicht, die in Form von Treibhausgasen erheblich zu den negativen Auswirkungen auf das Klima beitragen, ja den Klimawandel forcieren. Nach Angaben der UNO-Welttourismusgesellschaft entfallen auf den Tourismussektor mehr als fünf Prozent aller von Menschen verursachten CO2-Emissionen – mit steigender Tendenz.4
Die Wahrnehmung des Raums
Die Konsumhaltung etwa gegenüber der Natur – die ja ein vordringliches Ziel touristischen Reisens darstellt – ist Ausdruck einer Hochgeschwindigkeitsgesellschaft, die auch im Tourismus vom schnellen Gebrauch des Erlebnishaften, vom rasanten Wechsel der Attraktionen und vom rastlosen Vorwärtsstürmen zu immer Neuem geprägt wird. Dabei geht durch die Geschwindigkeit Qualität verloren, weil die Wahrnehmung notgedrungen oberflächlich oder flüchtig wird, das Verständnis für den Kontext meist gar nicht entstehen kann.
Landschaft besteht nicht ohne Betrachter, sie ist eine Leistung des Subjekts und an dessen Zuwendung gebunden. Was wir heute unter dem »Begriff Landschaft« verstehen, entstand im 18. Jahrhundert. Vorher wurde Natur bzw. die von Menschen wahrnehmbare Umgebung als Schöpfung, als geordnetes Ganzes gesehen, das keiner besonderen ästhetischen Vermittlung oder Interpretation bedurfte. Die Umgebung stand in praktischer oder moralischer Beziehung zum Menschen. Erst als Natur zum Objekt wissenschaftlicher Erforschung, technischer Nutzung und wirtschaftlicher Aneignung wurde, in ihre Einzelteile gewissermaßen zerlegt worden war, entstand die Aufgabe, sie unter emotionaler Zuwendung wieder zu einem ästhetischen Ganzen zusammenzufügen. Das Material der Natur werde zum »Gebilde Landschaft« umgebaut, wie Georg Simmel Ende des 19. Jahrhunderts in seiner »Philosophie der Landschaft« schreibt.5
»Komm ein bisschen mit nach Italien,
komm ein bisschen mit ans blaue Meer,
und wir tun als ob das Leben.
eine schöne Reise wär.«
Gesungen von Catharina Valente & Silvio Francesco.
Text Kurt Feltz, Musik Heinz Gietz, 1956.
Wer in die Landschaft schaut – der Topos wurde übrigens von Niederländischen Malern geprägt und bezeichnet die zentralperspektivische Darstellung einer schönen Gegend, Bilder von ländlichen Szenerien – wählt einen Standort und ausgehend von diesem einen Ausschnitt, einen Teil des Ganzen. Beim empfindsam Schauenden stellt sich der Wunsch ein, im vorgefundenen Ausschnitt ein Ganzes zu erleben. Es war und ist Aufgabe der Maler und Dichter, die Einzelteile zu einem Ganzen, zu einer Komposition zu verschmelzen. Ihre Ästhetisierung von bestimmten Landschaftsausschnitten, Blickpunkten und Blickfeldern, ist Vorbedingung für den touristischen Landschaftsgenuss. Der Begriff ging später in die Umgangssprache ein und bezeichnete nun im Rahmen kulturell geprägter Wahrnehmungsmuster das Ergebnis von ästhetisch-subjektiver Wahrnehmung, in der ein empfindender Betrachter eine von der Natur allein (Naturlandschaft) oder von Natur und Menschenhand (Kulturlandschaft) geformte Gegend als harmonische, individuelle, bildhafte Ganzheit betrachtet. Das heißt, die Einheit einer Landschaft bzw. ihrer Schönheit resultiert nicht aus einem Kausalzusammenhang der objektiven Gegenstände in einem Gebiet, sondern aus der ästhetischen, selektierenden und synthetisierenden Wahrnehmung. Auswählen und aus einer subjektiven Perspektive passend zusammenfügen – so entsteht im Auge des Betrachters das Landschaftsbild.
Im Rahmen der Aufklärungs- und Zivilisationskritik deutete man (Kultur–)Landschaften nun nicht mehr als subjektiv-ästhetische Ganzheiten, sondern als objektiv gegebene regionale Einheiten, als »einzigartigen organischen Zusammenhang von Land und Leuten.« Dies wurde als Ergebnis gelungener kultureller Entwicklung verstanden, deren ästhetischer Ausdruck die Schönheit der Landschaft sei. Seitdem symbolisiert in der europäischen Kultur das Sehen von Landschaft – insbesondere das einer kleinteiligen vorindustriellen Kulturlandschaft – das Ideal harmonischer, nachhaltiger, einzigartiger regionaler Mensch-Natur-Einheiten bzw. sozial-ökologischer Systeme, die es gegen Globalisierung und Industrialisierung, gegen Verbetonisierung und Zersiedelung zu schützen gilt.6
Technische Eingriffe in die Natur durch den Bau von Siedlungen, Gewerbegebieten, Straßen, Parkflächen, Kreisverkehre, Brücken, Seilbahnen, Strommasten, Regulierungen von Flüssen und ähnliche Veränderungen einer vormals unberührten Landschaft können als massive Störfaktoren wirken und gesellschaftlichen Protest hervorrufen. Aber schon in der nächstfolgenden Generation können sie als Selbstverständlichkeit interpretiert werden. Die Sichtweisen, was als unberührt, schön oder als zerstörerisch empfunden wird, ändern sich im Laufe der Jahre und so kann es vorkommen, dass manche Veränderungen als schleichend und kaum auffallend eintreten und zum neuen Alltag werden.7
Gerade dem Tourismus wird vorgeworfen, dass er viel natürliche Landschaft verbrauche, weil er sie für die »Erlebnisraumbewirtschaftung« aufbereitet – denkt man an Schipisten und Speicherseen für die Kunstschneeerzeugung, oder den Bau von Hotelanlagen, Chaletdörfern, Golfplätzen usw. etwa auf den Baleareninseln, wo Millionen ausgelassener Urlauber die Nächte durchfeiern und viele Senioren den Herbst ihres Lebens in der Sonne verbringen wollen. Andererseits kann durch die Restauration historischer Bauten und der nachfolgenden touristischen Nutzung auch ein wesentlicher Beitrag zur Bewahrung des architektonischen Erbes erfolgen. Durch die Errichtung einer Straße oder einer Seilbahn wird es einem größeren Publikum ermöglicht, die vorhandene Schönheit der Natur in vollem Ausmaß zu erleben bzw. die neue Dimension einer gestalteten Landschaft als spektakuläre sinnliche Erfahrung zu genießen. Derartig massive Eingriffe in die Natur wurden früher aus rein ökonomischem Kalkül durchgeführt und mit der Erwartung einer hohen regionalen Wertschöpfung begründet. Heutzutage, in Zeiten des fortgeschrittenen Klimawandels, sind derartige Großprojekte nur noch zu rechtfertigen, wenn ihr gesamtgesellschaftlicher Nutzen und ihre Umweltverträglichkeit erwiesen sind. Das heißt aber nicht, dass dubiose Investorenspekulationen auf jeden Fall verhindert werden können.
»Beim Lesen deiner Postkarte höre ich die Brandung rauschen«
Wenn wir heute von »imaginärer« oder von »emotionaler Geografie« sprechen, so messen wir Landschaften, Regionen, Städten – spezifischen Orten innerhalb eines geografischen Raumes – eine hohe symbolische wie auch emotionale Bedeutung zu. Geografische Weltvorstellungen beruhen auf Wertungen, auf ideologischen Vorgaben politischer wie religiöser Art, auf literarischen Darstellungen, Fotografien, Filmen, Träumen und Fantasien, die zu symbolischen Räumen, zu psychologischen Raumkonstruktionen oder auch zu Utopien werden können. Das betrifft das eigene Umfeld – beispielhaft etwa in dem auch ideologisch besetzten Begriff von »Heimat« – oder den im Sinne einer Sehnsuchtsdestination als Wunschtraum imaginierten »Fernraum.« Vorgestellte Bilder im Kopf machen Räume erst zu Orten, imaginierte Landschaften prägen die subjektive Erfahrung von Landschaft schon bevor wir sie aus eigener Anschauung kennenlernen, denn sie steuern unsere Wahrnehmung, Sehnsüchte und unsere Vorstellungen vom Schönen.8
Touristen reisen Bildern bzw. Vorstellungen nach. Sie suchen die sinnliche Erfahrung imaginierter Welten und schaffen sich mit Fantasie und Projektion eigene Erfahrungsräume. Während der Reise suchen Touristen die Bestätigung ihrer imaginären Geografien, der vorgestellten Bilder, und die touristische Wahrnehmung auf der Reise, im Urlaub, wird weitestgehend der Imagination folgen bzw. dieser angepasst. Der Imagination möglicherweise widersprechende Realitäten, die mit den Erwartungen und Wünschen nicht in Einklang zu bringen sind, werden bewusst ferngehalten. Die durch Literatur, Fotografien und Film ausgelösten Weltbilder schaffen ein beständiges Kontinuum an Wahrnehmung, sie finden eine Verstärkung in den Konstruktionen des Tourismusmarketings, das durch Bild und Sprache Illusionen produziert, Traumwelten, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind. Weltbilder imaginieren Landschaften, deren Bewohner und ideelle Konzepte, sie statten den Raum mit Sinn und Bedeutung aus. So verschmilzt bei der Wahrnehmung von Landschaften der gedankliche Raum, gestaltet durch Zeichen und Symbole, mit dem physischen Raum. Die imaginäre Geografie semiotisiert den Raum, belegt ihn mit Zeichen und Sinn.
In allen Gesellschaften und bei allen Individuen sucht die Imagination ihre Räume abseits der alltäglichen Verrichtungen. Das kulturelle Erbe in Form von Festen und Spielen, Riten und Ritualen, Märchen und Mythen, aber auch Tagträume und besonders das Reisen geben der Einbildungskraft Nahrung. Aus ihrer Positionierung zwischen Realität und Imagination schöpft die Reise ihre besondere Kraft, ermöglicht dem Individuum Abwechslung und für eine bestimmte Zeit aus dem standardisierten Alltagsleben und erschöpfenden Routinen auszusteigen. Es spielt keine Rolle, ob dies aus Abwendung davon oder wegen der Hinwendung zum Amüsement mit der Absicht, sein Leben durch neue Erfahrungen zu bereichern, erfolgt. Keine der vielen verfügbaren Unterhaltungstechniken verbindet reale Aktivität und fiktive Erfahrung in diesem Ausmaß wie das Reisen. Im Urlaub sind wir körperlich unterwegs und betreten gleichzeitig Räume der Imagination. Dies erlaubt eine ganzheitliche Erfahrung, deren Verlust in der arbeitsteiligen modernen Industriegesellschaft von vielen Menschen empfunden wird und daher nach Kompensation verlangt. Der Tourismus verknüpft Fantasietätigkeit und physische Handlungen, er findet seinen Schauplatz zugleich im Reich der Imagination und in der Körperwelt, führt in wirkliche, materiell greifbare Welten und bleibt dennoch dem Imaginären, den Träumen und Wünschen verhaftet. Darin sieht auch Christoph Hennig in seinem Buch »Reiselust« ein zentrales Element, das die Faszination des Reisens erklärt.
Geschwindigkeit und Wahrnehmung
Die Qualität bzw. die Intensität des Wahrnehmens oder des Erlebens hängt von der Art und Weise und von der Geschwindigkeit ab, mit der sich Menschen durch den Raum bewegen. Landschaft existiert ja nicht an und für sich, sondern entsteht als Bild einer Landschaft in den Köpfen ihrer Betrachter. Aus der Fülle nebeneinander existierender Dinge und Eindrücken davon ein zusammenhängendes Ganzes herauszufinden, darin eine Landschaft zu erblicken, ist die kulturelle Leistung des Betrachters, eine schöpferische Tat des Gehirns – so argumentiert Lucius Burckhardt, der Erfinder der Spaziergangwissenschaft, der »Promenadologie.«9 Je schneller das Verkehrsmittel, umso flüchtiger und grobkörniger wird der Gesamteindruck, das Besondere oder Typische einer besuchten Gegend als Landschaft lässt sich nicht mehr identifizieren. Gemalte Landschaftsbilder prägen bis heute Sichtweisen und Schönheitsempfinden, Landschaftsgärten erschließen sich dem Betrachter oft nur durch Aussichtspunkte, die per Fußmarsch erreichbar sind. So entsteht in der Beschleunigungsgesellschaft Sehnsucht nach vermeintlich »intakten« Landschaftsbildern, wie sie in Tourismusprospekten und in Schöner Leben-Zeitschriften zu finden sind, in der Realität aber nur zugänglich sind, wenn vom hochgerüsteten Mobilitätsprinzip Abstand genommen wird.
Naturräumen – als vorgestelltes »Arkadien« und ideales Refugium der Besinnlichkeit – steht Marc Augé zufolge eine Vielzahl an »Nicht-Orten« wie Flughäfen, Bahnhöfen, Autobahnraststätten, Hotelketten und Supermärkten gegenüber, die selbst keine anthropologischen Orte sind. An diesen kann man nicht heimisch werden, sie stellen eher in Bewegung aufgesuchte Behausungen in dem globalen Netz von Verkehrsmitteln und mobiler Infrastrukturen dar.10 Während diese Nicht-Orte stetig mehr werden und unsere Alltagserfahrung durchmöblieren, schrumpft die Zahl an Orten, auf die der Mensch bzw. die Gesellschaft weniger Einfluss nimmt. In der deutschen Bevölkerung etwa herrscht große Einigkeit darüber, dass naturnahe Gebiete in ihrer noch bestehenden Ursprünglichkeit vor der Gesellschaft geschützt werden und Nutzungsbeschränkungen unterliegen müssen, aber doch zugänglich bleiben sollen. Von einem derartigen »Wildnis«-Charakter kann man in den Alpenländern eigentlich nur noch in ganz kleinen Gebieten innerhalb der Kernzonen von Nationalparks oder Schutzgebieten sprechen.
Die Geschichte der Landschaft ist damit auch eine der Verkehrsmittel, denn ihre Erfahrung ist ein Resultat der Geschwindigkeit, mit der ein Raum durchmessen wird. Die alltäglichen Vollzüge und Lebensweisen der Menschen wurden im Epochenverlauf immer mobiler und schneller. Die – für heutige Verhältnisse ungemein langsame – Fahrt mit der Eisenbahn im 19. Jahrhundert bewirkte eine zweidimensionale Panoramawelt bestehend aus Raum und Zeit und gab der Wahrnehmung einen Flüchtigkeitscharakter.11 Nicht die Zielrichtung der eigenen Bewegung war aus dem Coupéfenster zu erleben, sondern das lediglich zu schnell laufende endlose Band einer um ihren Vordergrund beschnittenen Folge von Ansichten. Die Eisenbahn inszeniert durch die Geschwindigkeit gewissermaßen eine neue Landschaft und die neue Wahrnehmungsform eines sich fließend bewegenden Raum-Zeit-Panoramas. Die Bewegung des Zuges durch die Landschaft, den eigentlich ruhenden Teil dieser Beziehung, erzeugt den Eindruck einer sich bewegenden bzw. verändernden Landschaft, seine Geschwindigkeit lässt Gegenstände und Szenen in einer unmittelbaren Folge erscheinen. Der »panoramatische Blick« aus dem Abteilfenster verlangt eine schnelle Synthese durch das Auge, um das Relationsgefüge herzustellen. Es fängt eine durch die Bewegung entstehende Szenerie ein, deren Flüchtigkeit die Erfassung des Ganzen im Überblick geradezu unmöglich macht.
Etwa um die Mitte des 19. Jahrhunderts erlebte die »Panoramenkunst« ihre Blütezeit. Maler produzierten riesige Rundbilder, die Wert auf die detailgetreue Rekonstruktion des wiedergegebenen Augenblicks legten, denn genau dieser fixiert den punktuell verewigten Zeitpunkt der Ansicht. Großpanoramen waren für ein breites Publikum bestimmt und somit frühe Massenmedien. Der irische Miniaturenmaler Robert Barker, der als Erfinder dieses Genres und des terminus technicus (»pan orama« – alles sehen) gilt, ließ sich beides eigens patentieren.
Besonders beliebt waren sogenannte »Moving Panoramas,« horizontal gerollte streifenartige Leinwandgemälde. Sie gelten als Vorläufer des Films, weil sie den Eindruck hervorriefen, man erlebe eine vorbeiziehende Landschaft.
Panoramen von Sydney, Hobart Town auf Tasmanien oder Gibraltar entzückten das imperiale Bewusstsein der großstädtischen Besucher in England, auf dem Kontinent waren Berge das bevorzugte Thema der Panoramen. Die Gipfelwelt der Schweizer Alpen wurde zum Publikumsrenner, zwischen 1810 und 1850 bedienten viele »Cosmoramisten« die Jahrmärkte, präsentierten ihre Guckkasten-Panoramen. Dioramen schafften es, die Illusion eines Tagesverlaufs von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang zu vermitteln. Der größte Publikumserfolg war das »Moving Panorama,« welches die Besteigung des Mont Blanc abbildete. Die 1852 eröffnete Show erlebte 2000 Aufführungen und ihr Erfolg trug wesentlich zur Alpenbegeisterung und zur Hebung des Tourismus in Chamonix bei. Der Kulturphilosoph und führende Kunstkritiker des Viktorianischen England, John Ruskin, notierte verärgert, dass dieser Ort am Fuße des höchsten Berges der Alpen vom englischen Mob so bevölkert sei wie Picadilly zur Hauptverkehrszeit.12
Panoramen erlauben den Betrachtern einen 360 Grad Rundblick auf ein Gemälde aus der Zentralperspektive. Diese stehen im Zentrum und überblicken wie von einem Turm das Geschehen auf der Leinwand. Gemalte Panoramen zeigen in erster Linie Städte und ihre Umgebung, Schlachtenszenen zur See und zu Land, sowie Gebirgslandschaften. Enorm große Rundbilder wie etwa das »Sattler-Panorama« von der Stadt Salzburg und dem »Landschaftsgarten« seiner Umgebung, das fünf Meter Höhe und 26 m Länge misst und in den späten 1820er Jahren gemalt wurde, bedienten die Schaulust eines breiten Publikums.13 Der Künstler Johann Michael Sattler und seine Familie zerlegten und verpackten das Panorama und den für die Ausstellung notwendigen Holzpavillon und gingen damit auf Reisen. Sie fuhren damit auf einem Hausboot und mit Fuhrwerken mehr als zehn Jahre durch das kunstsinnige Europa, wo sie das Rundbild gegen einen Eintrittspreis präsentierten. Der Künstler verdiente damit für seine Familie den Unterhalt und machte gleichzeitig die Schönheit der Stadt überall bekannt.
Bei diesem Einsatz im damals nicht einfach zu bereisenden Europa handelt es sich um eine Frühform von Tourismus-Marketing bzw. von »Location Placement.« Sie fand gut hundert Jahre später eine Fortsetzung durch den Hollywood-Film »The Sound of Music,« einem märchenhaften Plot mit Gesangseinlagen, der an bezaubernden Schauplätzen in Stadt und Land Salzburg spielt. Musik ist Verbindungsenergie und die Verfilmung des Musicals zieht bis heute hunderttausende Touristen insbesondere aus den USA und ganz Asien in das Salzburger Land und beweist damit die Ausstrahlungs- wie Anziehungskraft von Bildern, die eine »Heterotopie,« einen Ort des Glücks als lokalisierbare Utopie, versprechen.
Das Erhabene und Naturschöne
Landschaft ist das große Thema der Kunst um 1800. Sie figuriert als besondere Form des Naturraums, als Gesicht des Landes, wirkt als Erscheinung direkt auf den Betrachter im Spiegel subjektiver Empfindungen und ästhetischer Deutungsmuster. Nach den üppigen und ausladenden Raumkonstruktionen des Barock engt sich der Landschaftsausschnitt ein, der Blick wendet sich von der Ferne dem Nahen und Details zu. Blickpunkte romantischer Gefühlskunst fixieren die Wildnis, wo sie harmonisch und die Unwegsamkeit idyllisch wirkt. Das Zeitalter der Romantik ist gekennzeichnet durch eine »Sakralisierung« von Landschaft, sie wird Gegenstand geradezu religiöser Andacht. Malerei, Musik und Literatur erschaffen neue Stimmungsräume als Hilfsmittel gegen die Krankheiten der Zivilisation, die man im Wesentlichen den städtischen Gebieten zuordnet. Es beginnt das Zeitalter der Entdeckung der Hochgebirge und Meereslandschaften. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsteht, getragen von den romantischen Strömungen, eine Begeisterung für pittoreske Gebirgslandschaften, die als »voyage pittoresque« bis weit in die Moderne hinein bestimmend bleibt und in der Folge auch den Alpentourismus stimuliert.14
Als Erhabenes und Naturschönes findet Landschaft im 19. Jahrhundert Eingang in die romantisch-idealistische Philosophie und Literatur.15 Im Begriff des »Sublimen« bzw. »Erhabenen« drückt sich das ambivalente Gefühl aus Lust und Schrecken gegenüber der überwältigenden und fremden Natur im Gegensatz zum reinen Wohlgefallen am schönen Kunstwerk aus. Am Beispiel der Alpen lassen sich die Entstehungsbedingungen ästhetischer Erfahrung und Zuschreibungen explizit nachvollziehen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein galten die Gebirge als Schreckensort und als Verkehrshindernis, als Zumutung auch für ihre Bewohner, und wurden weitgehend gemieden. Dergleichen galt auch für Wald, Meer oder Wüste, die ebenso als lebensfeindliche Orte abgelehnt und gemieden wurden, oder nur unter Aufbietung größter Kompetenz und mit göttlichem Beistand gemeistert werden konnten. Erst durch die Imaginationen der Poeten, der Maler und Philosophen werden die Alpen zu einem sehnsuchtsbehafteten Imaginationsraum.
In der Idee des Erhabenen, des gebannten und ästhetisierten Schreckens, liegt die Vorbedingung für den Landschaftskult der letzten Jahrhunderte. Sie bildete die Weichenstellung zum modernen Natur- und Bergtourismus und das Erhabene der Natur bzw. Bergwelt durch eigenen Augenschein kennenzulernen wird zu einem zentralen Reisemotiv.
Dieses positive Alpenbild basiert auf einer idealisierten Sicht aus der Optik des Flachlandes und definiert die Berge als peripheren Raum, macht ihn gleichzeitig zum Rückzugsraum und seine Landschaft durch die poetische Zeichenfunktion zu einem Garanten für eine heile Welt, die den Gegensatz zu Stadt und Zivilisation signalisiert. In der Ausblendung der harten Lebensbedingungen der Bevölkerung in den Alpen bzw. deren Idealisierung (der »edle Wilde« in der Figur des glücklichen Älplers) und der Interpretation der Landschaft als heile Welt aus touristischer Perspektive, sieht Matthias Stremlow den Ausgangspunkt für die heutige Sicht auf einen geradezu utopisch anmutenden Gegenraum. Aus der furchteinflößenden Bergwelt wurde eine Postkartenidylle – zumindest in den Köpfen der Alpenreisenden.16
Innerhalb von zwei Jahrhunderten erfahren die Alpen auf diese Weise eine Neubewertung auf den mentalen Landkarten. Sie wurde durch eine intellektuelle Elite entwickelt und eingeübt – zuerst in der Bedeutungsveränderung zum Sehnsuchtsort, und dann durch die Alpenreisen und den aufkommenden Alpinismus. Der ländliche bzw. alpine Raum erfuhr eine neue Codierung in den Vorstellungen des dominanten urbanen Kulturbewusstseins. Die emotionale Überhöhung des Phänomens Alpen in der zusehends aufgeklärten, bürgerlichen Gesellschaft trug Züge einer Naturtheologie. Am Gipfel manifestiert sich der Mensch als Herrscher über die Natur. Früher hatte nur Gott den Überblick, jetzt gewann auch der Mensch den »göttlichen Blick.«17
Ausgelöst und begleitet wurde dieser Prozess von einer wissenschaftlich-rationalen Raumerschließung und Raumbeherrschung sowie der ästhetisch-emotionalen Zuwendung. Beide sind auch im Kontext der historischen Zeitumstände zu sehen, die von massiven gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen geprägt waren, von einer Welt des rapiden Wandels von monarchischen bzw. feudalen zu republikanischen Strukturen, und dem Aufstieg des städtischen wohlhabenden Bürgertums, das dank seiner wirtschaftlichen Machtstellung auch eine politische Führungsposition beanspruchte.
Dieses romantische Alpenbild ist wirkmächtig bis in die Gegenwart, weil es das geschichtslos Ursprüngliche mit dem Ausdruck einer scheinbar vollkommenen Harmonie von Landschaft und Mensch, von Farbe und ‚Paradiesluft‘ verbindet. Darin schlummert noch das antike Motiv der Ideallandschaft »Arkadien,« das in der frühen Hirtendichtung als Stätte sorgenlosen Glücks gelobt wird. Wir finden es heute in den Werbebotschaften des Tourismusmarketings ebenso wie auf den Titelseiten von »Coffee Table«-Büchern, stereotype Bilder einer vermeintlich intakten Welt. Darin wird eine Urlandschaft imaginiert, die als authentisch und ökologisch makellos eingestuft wird. 250 Jahre nach dem schwärmerischen Briefroman »Julie, ou la nouvelle Héloise« eines Jean-Jaques Rousseau oder dem aufklärerischen Versgedicht »Die Alpen« des Berner Naturforschers Albrecht von Haller wird mit suggestiven Symbolbildern voll von Sehnsucht nach wie vor der Wunsch nach grenzenloser Freiheit modelliert und die gewissermaßen ‚unberührte‘ alpine Landschaft als idealer Zufluchtsort affichiert.18
Als die zwei zentralen ästhetischen Kategorien dieses Bildes figurieren somit »das Schöne« und »das Erhabene.« Wer über die Schönheit eines Gegenstandes urteilt, so der deutsche Philosoph Immanuel Kant, behauptet zugleich, ein Urteil zu fällen, dem auch andere zustimmen müssten. Für ihn hat Schönheit daher den Anspruch »subjektiver Allgemeinheit,« darüber kann man unterschiedlicher Meinung sein und im Gegensatz zum Guten oder Angenehmen, wo persönliches Interesse an dem Gegenstand mitspielt, definiert er Schönheit daher als „interesseloses Wohlgefallen“. Leichter lässt sich eine Übereinstimmung herstellen bei der zweiten Kategorie, dem Erhabenen. Sie hatte auf die Neucodierung und Veränderung des Alpenbildes größere Auswirkungen, denn darin komme zum Ausdruck „das schlechthin Große“ des Naturschauspiels, oder, wie es der Renaissance-Gelehrte Francesco Petrarca ausdrückte, als er am Schreibtisch seine Besteigung des Mont Ventoux literarisch verarbeitete, etwas, das „jeden Maßstab der Sinne übertrifft“.19
Orte des Glücks – Heterotopie
Ein dergestalt in die nähere oder weitere Ferne projizierte Ort kann als »Heterotopie« bezeichnet werden. Diese Begrifflichkeit fand Eingang in die Kultur- und Tourismustheorie, wo sie als »Anders-Ort« oder als »lokalisierbare Utopie« interpretiert wird. Als »Gegenorte« dienen solche Räume der emotionalen Stabilisierung gesellschaftlicher Abläufe, und Michel Foucault,20 der die raumtheoretische Debatte mit diesem Begriff bereichert hatte, nennt den Garten als das älteste Beispiel einer Heterotopie. Ein solcher mit viel Grün, fließendem Wasser und aus Sicherheitsgründen mit Büschen eingesäumt, wird in der Altpersischen Dichtung übrigens als »Paradies« bezeichnet. Motive des Gartens finden sich in abstrahierter Form in Teppichen visualisiert und Foucault erkennt darin Elemente eines idealen Sehnsuchtsorts ohne jegliche Gefühlstrübung, Reibung oder Verwerfung. Dies steht im Kontrast zu anderen emotional aufgeladenen heterotopen Orten wie dem Friedhof, dem Gefängnis oder der psychiatrischen Anstalt, die er mit problematischen Ausnahme- und Sonderzuständen verknüpft.
Die Außeralltäglichkeit heterotoper Orte kennzeichnet Tourismusräume als emotionale Fluchträume, Nischen, in denen die Einzelnen sogar gegen die gesellschaftlichen Konventionen verstoßende Gefühle äußern und kultivieren können. Heterotopien sind somit quasi-künstliche Orte, in denen alles in Erscheinung tritt, was das Alltägliche ausschließen lässt und Klaus Kufeld sieht im Kreuzfahrtschiff die perfekte Illusion des quasi-utopischen Integrals, wenn gutes Essen, Barmusik und Liegestuhl geboten sind, wenn Wunschgedanke und gutes Leben einen temporären Ort haben – das alles auf weiter See und nur der blaue Himmel spannt sich über dem mit der Seele baumelnden Ich! Die Schiffs-Heterotopie ist für ihn ein wohliges Zuhause auf Reisen.21
Die Urlaubsfahrt im PKW mit Wohnwagenanhänger oder mit dem Campingbus entspricht einer Variante, die auf den Luxus verzichtet, aber ebenso heterotope Erfahrungen im Kontext der eigenen Familie und Häuslichkeit ermöglicht.
Tourismushabitate bezeichnet Karlheinz Wöhler22 als Begehrensräume und als »Orte des Glücks.« Sie werden mit Erlebnishaftem inszeniert und mit Bedeutungen versehen, von Touristen sinnlich erschlossen und emotional angeeignet. Es geht dabei um ein äußeres Glück, um irdische Paradiese, gefüllt mit außeralltäglichen Höhepunkten, die lautstark auch von den Medien als Idealbilder propagiert werden. Gerade solche Bilder des Außergewöhnlichen und »moments of bliss« festzuhalten ist Aufgabe der Fotografie, die früher Reisefotografen und Bildjournalisten vorbehalten blieb. Die technisch immer einfacher zu bedienende Kompaktkamera bekam aber allmählich einen festen Platz im Reisegepäck aller Touristen. Heute gehört eine digitale Kamera zur Standardausstattung jedes Smartphones und so besteht eine noch größere Chance, das Flüchtige, Vergängliche und Schöne zu bewahren und einen vergangenen Zustand zu konservieren. Das fotografische Verhalten impliziert einen projektiven Moment – die Vorwegnahme einer später erwünschten Erinnerung, das Einfangen einer Stimmung, die man gerne wieder erleben will, wenn man das Bild nach einiger Zeit wieder zur Hand nimmt.
Fußnoten
- 1.
Television – Technology and Cultural Form, Glasgow 1973.
- 2.
Die Ferne der Nähe und die Nähe der Ferne. Bilder und Kommentare zum TV-Alltag der 60er. In: CheSchahShit. Die sechziger Jahre zwischen Cocktail und Molotow. Berlin 1984, 50–61.
- 3.
Ausführlich dargestellt bei Kurt Luger/Franz Rest, Mobile Privatisierung. Kultur und Tourismus in der Zweiten Republik. in: Reinhard Sieder, Heinz Steinert und Emmerich Talos (Hg.), Österreich 1945–1995, Wien 1995, 655–670.
- 4.
https://www.e-unwto.org/doi/book/10.18111/9789284416660, Dezember 2019, 30.7.2021.
- 5.
- 6.
Grundlegende Betrachtungen dazu bei Thomas Kirchhoff, 2012, Landschaft. Naturphilosophische Grundbegriffe. http://www.naturphilosophie.org/landschaft, 21.5.2021; Ian Thompson (Ed.) Rethinking Landscape, A Critical Reader, London 2008.
- 7.
Martin Burckhardt, Metamorphosen von Raum und Zeit – Eine Geschichte der Wahrnehmung, Frankfurt 1997.
- 8.
Zu Theorie und Semiotik von Raum und Räumlichkeit siehe Stephan Günzel, Raum – Eine kulturwissenschaftliche Einführung, Bielefeld 2017; Michael Seebacher, Raumkonstruktion in der Geographie, Band 14 der Abhandlungen zur Geographie und Regionalforschung, Wien 2012; Karlheinz Wöhler, Andreas Pott und Vera Denzer (Hg.), Tourismusräume. Zur soziokulturellen Konstruktion eines globalen Phänomens, Bielefeld 2010.
- 9.
Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft. Berlin 2011.
- 10.
Marc Augé, Nicht-Orte, München 2010.
- 11.
Ausführlich nachgezeichnet von Wolfgang Schievelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1993.
- 12.
Stephan Oettermann, Berge weiten den Blick. in: Stephan Kunz et.al, Die Schwerkraft der Berge 1774–1997, Basel/Frankfurt 1997, 49–55.
- 13.
Erich Marx, 360 Grad – Vom Sattler-Panorama zum Location Placement. in: Kurt Luger/Franz Rest (Hg.), Alpenreisen, Innsbruck 2017, 497–512.
- 14.
Die kunstgeschichtlichen Zusammenhänge diskutiert Doris Hallama, Erhaben-bedrohlich-verbaut, Gebirgsbezwingung in der Kunstgeschichte, in: Michael Kasper, Martin Korenjak, Robert Rollinger, Andreas Rudigier (Hg.), Alltag-Albtraum-Abenteuer, Gebirgsüberschreitung und Gipfelsturm in der Geschichte. Wien-Köln-Weimar 2015, 205–222.
- 15.
Marjorie H. Nicolson, Mountain Gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite, Ithaca/New York 1959.
- 16.
Matthias Stremlow, Die Alpen aus der Untersicht. Kontinuität und Wandel von Alpenbildern seit 1700, Bern 1998.
- 17.
Eine grandiose Kulturgeschichte des frühen Alpinismus von 1750–1850 liefert Martin Scharfe, Berg-Sucht, Wien-Köln-Weimar 2007.
- 18.
Von den alten und von neuen Alpenbildern handelt der Katalog anlässlich der Ausstellung in der Salzburger Residenzgalerie. Erika Oehring (Hg.), Alpen – Sehnsuchtsort & Bühne, Salzburg 2011.
- 19.
Michael Jakob, Das Gebirge, das Heilige und das Erhabene. in: Stephan Kunz et.al., Die Schwerkraft der Berge 1774–1997, Basel-Frankfurt 1997, 75–81. Hier: 81. Der Autor dekonstruiert in seinem fabelhaften Aufsatz die weitum vertretene Annahme, mit Francesco Petrarca hätte der Alpinismus seinen Ausgang genommen, denn der Gelehrte hätte‚ nur des Augenscheins wegen diesen Berg bestiegen. Den Brief, in dem Petrarca von seiner Bergtour ergriffen berichtet, hat er nachweislich erst „an der Schwelle des Lebensalters zur gravitas stehend und auf seine Jugend … zurückblickend“ geschrieben, rund 17 Jahre nach der Besteigung. Mir erscheint das relevant, denn bis in die heutige Zeit erregen Ungereimtheiten in der Alpinliteratur öffentliche Aufmerksamkeit.
- 20.
Die Heterotopien. Der utopische Körper, Zwei Radiovorträge, Frankfurt 2005.
- 21.
Die Reise als Utopie, München 2010.
- 22.
Touristifizierung von Räumen, Wiesbaden 2011.
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