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Leseprobe »Vom Universum des Denkens«: Vom Glauben und Wissen

Die Entwicklung der Logik hat sich über Jahrhunderte hinweg erheblich verändert, beginnend mit den antiken griechischen Philosophen bis hin zur modernen mathematischen Logik. Davon berichtet dieses Buch. Eine Leseprobe
Unlogik
Das erste mittelalterliche Buch der Logik trägt den Titel ›De dialectica‹ und datiert aus dem achten Jahrhundert. Sein Autor, Alkuin, war Berater Karls des Großen und Leiter von dessen Hofschule in Aachen. Die Dialogform der Schrift entsprach ganz der antiken Tradition, mit einer Besonderheit: Der »Schüler«, der seinem »Lehrer« Alkuin die Fragen stellte, war kein anderer als der Herrscher höchstpersönlich. De dialectica behandelt Themen aus der Logik des Aristoteles, nicht jedoch Syllogismen. Vermutlich diente es als Lehrbuch für Studenten des Triviums: der Fächer Grammatik, Rhetorik und Dialektik, mit denen seit Pythagoras ein Studium zu beginnen hatte. Zusammen mit dem Quadrivium: den höheren Fächern Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie bildete es die sieben freien Künste, die Artes liberales, die bis in die Neuzeit den Unterricht bestimmten.

Die Hofschulen waren, ebenso wie die Kloster- und Domschulen, Vorläufer der Universitäten: jener Einrichtungen, die immer öfter die Gesamtheit der Wissenschaften pflegten und die den Doktortitel verleihen durften. Die ersten Universitäten der westlichen Welt entstanden 962 in Parma und 1088 in Bologna, darauf folgten Oxford, Modena und Paris. Im Angebot der höheren Fächer unterschieden sich die Universitäten; in Bologna beispielsweise gab es anfangs nur die Rechtswissenschaften, in Paris lehrte man Recht, Medizin und Theologie. Das Grundstudium jedoch bildeten fast immer die freien Künste, und mit ihnen eroberte sich das Collegium logicum, die Logikvorlesung, einen Platz im Lehrplan. Die Lehrinhalte stammten zum großen Teil aus der Antike. Im zwölften Jahrhundert wurden nach und nach alle Werke des Aristoteles in Latein verfügbar. Er selbst galt bald als »praecursor Christi in rebus naturalibus«, als Vorläufer Christi in Angelegenheiten der Natur. Wissenschaft hieß: das geeignete Zitat in den antiken Werken finden und es passend auslegen.

Der Erste, der diese dogmatische Sicht der Dinge in Frage stellte, war Pierre Abaillard aus Le Pallet bei Nantes, besser bekannt unter seinem latinisierten Namen ›Abaelard‹. Zunächst Lehrer und Mönch, stieg er zum Abt auf und in seinen letzten Jahren zum Berater dreier späterer Päpste. In seiner Schrift Sic et non (Ja und nein) von 1122 diskutierte Abaelard eine Reihe von Thesen aus den Texten christlicher Autoren, indem er dialektische Beweise sowohl für als auch gegen sie erbrachte, häufig ohne selbst ein Urteil zu fällen. Mit diesem Buch begründete er die Methode der Scholastik, der mittelalterlichen Philosophie und Theologie. Sie besteht im Debattieren über Fragen, die an den Anfang gestellt und dann im Wechselspiel der Meinungen oder im Austausch zwischen Lehrer und Schüler einer Entscheidung zugeführt werden. Diese Debatten, obligationes, hatten festen Regeln zu folgen, die zu erlernen erklärtes Ziel des Studiums war, zusätzlich zum Erwerb der philosophischen und theologischen Inhalte. Sogar die Prüfungen wurden in Form von obligationes abgelegt.

Beinahe zwangsläufig führte die scholastische Methode auf Fragen, die sich nur unter äußerster Spitzfindigkeit oder gar nicht beantworten ließen. Erstere nannte man sophismata, Zweitere insolubiliae. Beide hatten schon die antiken Logiker herausgefordert, waren dort aber über den Status von Kuriositäten nicht hinausgekommen. Nun begann man sich ernsthaft mit ihnen zu befassen.

Sophismata beruhten meist auf der Mehrdeutigkeit der Sprache: ›Alle Menschen sind Esel oder Menschen und Esel sind Esel‹ ist wahr oder falsch, je nach der Stellung eines Kommas, das den Satz als Verknüpfung zweier Sätze zeigt. ›Alle Menschen sind Esel oder Menschen, und Esel sind Esel‹ ist wahr, weil beide Konstituenten wahr sind. ›Alle Menschen sind Esel, oder Menschen und Esel sind Esel‹ ist falsch, weil beide falsch sind. Sophismata treten nur in unexakter Sprache auf und sind im Grunde harmlos.

Problematischer sind insolubiliae, »Unlösbare« oder, wie wir heute sagen: Paradoxa. Das berühmteste von allen ist das Lügnerparadoxon: ›Dieser Satz ist falsch‹. Ist dieser Satz nämlich wahr, dann ist er falsch; ist er falsch, dann ist er wahr. Diogenes Laertios zufolge hat schon Chrysippos zwölf Arbeiten über das Lügnerparadoxon verfasst; eine Lösung ist nicht bekannt, und die Historikerin Katerina Ierodiakonou hält es für möglich, dass nach Chrysippos’ Ansicht in Fällen wie diesen die Aussage weder wahr noch falsch ist. Von den Lösungen der Scholastiker sind zwei bis heute aktuell. Die eine ist als cassatio, Aufhebung, bekannt: Wer sagt, dass das, was er sagt, falsch sei, sagt nichts. Die andere ist die restrictio, Einschränkung: Die Phrase ›ist falsch‹ kann sich nicht auf den Satz beziehen, von dem sie ein Teil ist. Beide Lösungen laufen darauf hinaus, dass im Satz des Lügners gar keine Aussage vorliegt und die Frage, ob wahr oder falsch, ihren Gegenstand verloren hat. Damit war die Angelegenheit vom Tisch – aber nur vorläufig; denn am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts sollte der Lügner, dann nach der neuesten Mode gekleidet, das Gebäude der Logik ins Wanken bringen.

Über die mittelalterliche Wiedergeburt des Syllogismus haben wir am Ende des ersten Kapitels berichtet. Wie William von Sherwood um 1240 in seinen Introductiones in logicam feststellte, verlangt das Verstehen des Syllogismus das Verstehen von Aussagen, und dieses wiederum verlangt das Verstehen der sie zusammensetzenden Terme. So entwickelte sich eine Wissenschaft von den Eigenschaften der Terme und den unterschiedlichen Rollen, die Wörter oder Phrasen in Aussagen einnehmen können. Diese Studien betrieb man mit kaum vorstellbarer Akribie. Beispielsweise katalogisierte man mehr als ein Dutzend Arten, auf die ein Term etwas bezeichnen kann; von der suppositio pro ipsa voce absolute, wo ein Term seine eigenen Laute bezeichnet, wie das Wort ›homo‹ im Satz ›Homo est disyllabum‹ (›Homo ist zweisilbig‹), bis zur suppositio confusa tantum, wo er auf unbestimmte Weise ein Element einer Gesamtheit benennt, wie ›homo‹ in ›Omnis homo est animal‹ (›Jeder Mensch ist ein Tier‹). Dabei stießen die Gelehrten auf eine Art von Begriffen, die schon Platon beschäftigt hatte: die allgemeinen Begriffe oder Universalien. Platon zufolge erkennen unsere Sinne immer nur die Einzeldinge: den einzelnen Menschen, das einzelne Haus, die einzelne gerechte Handlung. Hinter diesen aber stecken die Ideen, die nur der Geist erfasst: die Idee des Menschen, des Hauses, der Gerechtigkeit. Für Platon existierten diese Ideen in einer übersinnlichen Welt, der einzigen wahrhaft wirklichen, von der die Welt der Sinne nur ein Abglanz ist. Ein Teil der Scholastiker teilte diese Sicht: Was verschiedenen Dingen zukommt, die Universalie, existiert als Ding außerhalb der Erkenntnis. Der andere Teil sah in der Universalie nur ein Wort; nichts als einen Hauch der Stimme, wie Johannes Roscelin es nannte. Diese Auseinandersetzung, in die Geschichte eingegangen als Universalienstreit, mag modernen Menschen lächerlich erscheinen. Bedenkt man aber, dass, mit Ausnahme der Namen für konkrete Einzeldinge, jedes Wort eine Universalie bezeichnet, so wird klar, dass die Frage, ob Universalien real seien oder nicht, den Aufbau der Welt betrifft – und dass sie daher einer Philosophie voller Glaubensfragen nicht gleichgültig sein kann.

Das bedeutendste Lehrbuch des späten Mittelalters schrieb um 1240 Petrus Hispanus, der eigentlich Portugiese war. Von Beruf Arzt, avancierte er als Geistlicher erst bis zum Kardinal und wurde in seinem letzten Lebensjahr zum Papst Johannes XXI. Die Summulae logicales blieben bis ins siebzehnte Jahrhundert in Gebrauch und erlebten nicht weniger als 166 Auflagen. Von ihren zwölf Kapiteln behandeln sechs die Lehre des Aristoteles, die anderen widmen sich Themen der Scholastik. Im fünfzehnten Jahrhundert wurde das Buch ins Griechische übersetzt; vierhundert Jahre später hielt Prantl die griechische Ausgabe für die Übersetzung eines byzantinischen Originals und knüpfte an sie eine (kurzlebige) Theorie über den Einfluss der Philosophie des Ostens auf den Westen.

Die bisher genannten Denker des Mittelalters sind nur Fachleuten bekannt. Anders verhält es sich mit William von Ockham; von ihm wissen alle, dass er ein Rasiermesser besaß. Ockhams Rasiermesser stammt aus dem vierzehnten Jahrhundert und existiert noch heute – es handelt sich um den Grundsatz, »überflüssige Wesenheiten« zu vermeiden: Von mehreren möglichen Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt solle man die einfachste vorziehen. Weniger bekannt ist, was Ockham zur Logik beitrug. Seine Summa totius logicae gelten als der erste Versuch, die gesamte Logik von der Antike bis zum Mittelalter einer gemeinsamen, systematischen Betrachtung zu unterziehen. Deshalb wandte er sich auch jenem Gegenstand wieder zu, den die Scholastik bis dahin vernachlässigt hatte: den Aussagenverknüpfungen. Er verband Negation, Konjunktion und Disjunktion durch Regeln, die im neunzehnten Jahrhundert von De Morgan wiederentdeckt wurden und heute dessen Namen tragen. Anders als Aristoteles war Ockham der Meinung, dass Prognosen wahr oder falsch sein können, auch wenn man das erst später erfahren würde. Für diesen Standpunkt gab es einen zwingenden Grund, den Aristoteles noch nicht gekannt hatte, nämlich: dass Gott weiß, was geschehen wird. Ockhams Gesetze des Schließens beflügelten das Interesse an consequentiae, wie man logische Schlüsse nun nannte. Wie schon die Terme, so klassifizierte man in der Folge auch die Schlüsse in penibler Manier: gültige und ungültige, gültige aufgrund der Form und gültige aufgrund des Inhalts, faktisch gültige und notwendig gültige usw. Fortschritte gegenüber der Theorie der Stoiker gab es dabei nicht, und so verloren nicht nur die scholastischen Eigenschaften der Terme, sondern auch die der Schlüsse mit dem Ende der mittelalterlichen Geisteswelt ihre Wichtigkeit.

»Quod credimus intelligere« (»Was wir glauben, auch verstehen«) – diese Forderung hatte Anselm von Canterbury im elften Jahrhundert erhoben. Vielleicht war sie die stärkste Triebfeder für das Studium von Sprache und Logik in der Ära des Glaubens. Und zweifellos ging es auch darum, dem Glauben die Vernunft an die Seite zu stellen, um selbst die Ungläubigen zu überzeugen. Welcher Glaube aber hätte wichtiger sein können als der Glaube daran, dass es einen Gott gibt? Und was hätte Anselm dringender erscheinen können, als die Existenz Gottes zu beweisen?

In seinem Werk Proslogion unternahm Anselm einen solchen Beweisversuch. Seine Argumentation wendet sich an den Toren, »der in seinem Herzen spricht: Es ist kein Gott«. Anselm definierte zunächst Gott als ein Wesen, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann. Nun wird auch der Tor eingestehen, er könne sich so ein Wesen zumindest denken, wenn es auch seiner Meinung nach nicht existiert. Damit aber widerspricht der Tor sich selbst. Denn wenn er sich dieses Wesen denken kann, dann auch eines, das dem ersten gleicht und zusätzlich existiert; womit zu den Eigenschaften des ersten die Existenz hinzukäme und das zweite Wesen größer wäre als das erste, im Widerspruch zur Definition des ersten. Daher muss das Größte, das sich denken lässt, also Gott, auch existieren. Anselms Argument ist als ontologischer Gottesbeweis bekannt, weil es sich auf die Ontologie, die Lehre vom Sein, stützt. Ehe wir seine Glaubwürdigkeit untersuchen, zeichnen wir sein logisches Schema nach. Man kann das auf verschiedene Weisen tun, und wir entscheiden uns für die Form eines Syllogismus mit singulärer zweiter Prämisse: ›Was vollkommen ist, existiert; Gott ist vollkommen; daher existiert Gott‹.

Der Schluss ist formal korrekt. Kritisiert man ihn mit Mitteln der Logik, so muss man zeigen, dass mindestens eine seiner Prämissen falsch ist. Die zweite, ›Gott ist vollkommen‹, ist aus Sicht der christlichen Philosophie schwer angreifbar. Die erste aber, ›Was vollkommen ist, existiert‹, steht auf schwachen Beinen. Kant lehnte sie ab. Seiner Ansicht nach ist Existenz keine Eigenschaft; sie fügt einem Ding nichts hinzu, macht es also nicht »vollkommen«. Anselms Beweisversuch blieb nicht der einzige – die Liste der »Gottesbeweise« ist lang. Sie lassen sich in mehrere Klassen einteilen, von denen wir die wichtigsten vier besprechen. Zur ersten Klasse, den ontologischen, haben neben Anselm auch Descartes, Leibniz und Gödel beigesteuert; wobei Letzterer, ein Mathematiker des zwanzigsten Jahrhunderts, von dem in späteren Kapiteln noch die Rede sein wird, sich weniger für das Resultat als für die Methode interessierte.

Eine zweite Klasse bilden die kosmologischen Beweise. Sie benutzen die Existenz des Universums und den Satz vom zureichenden Grund, der aus der Antike stammt, und folgen dem Schema: ›Das Universum existiert; nichts existiert ohne zureichenden Grund; Gottes Existenz bedarf keines Grundes; daher existiert Gott‹. Das wird für wahr erachtet, weil als zureichender Grund für die Existenz des Universums nur Gott in Frage kommt, der als Einziges ohne Grund existieren kann. Das Argument ist, wie das ontologische und auch die folgenden, formal korrekt. Es hat drei Prämissen, von denen jedoch nur die erste als Erfahrungstatsache akzeptiert wird; die beiden anderen sind Metaphysik. Wichtigster Proponent eines kosmologischen Beweises ist Thomas von Aquino, der um 1270 die heute als klassisch geltende Formulierung schuf.

Derselbe Thomas zeichnete verantwortlich für eine dritte Form, die des teleologischen Beweises, der mit der Ausrichtung der Welt argumentiert: ›Die Welt ist planvoll gestaltet; dazu bedarf es eines planenden Wesens; daher existiert Gott‹. Kant bemerkte dazu, ein solches Argument lasse die Idee Gottes wahrscheinlicher wirken, sei aber kein Beweis. Und die Evolutionstheorie unserer Tage kratzt selbst an dieser Wahrscheinlichkeit, indem sie beide Prämissen in Frage stellt.

Bleiben moralische Argumente, und auch diese kann man in ein Schema bringen, das vierte unserer Liste: ›Es gibt moralische Erscheinungen; dazu ist ein moralischer Gesetzgeber nötig; daher existiert Gott‹. Es ähnelt dem teleologischen, mit ebenso schwachen Prämissen. Denn auch unser Wertesystem, demgemäß wir gewisse Erscheinungen als moralische auszeichnen, kann Resultat der Evolution sein; und dann übernimmt die Evolution selbst die Rolle des moralischen Gesetzgebers.

Damit sind wir am Ende unserer Reise durch das Mittelalter angelangt, und eine Frage drängt sich auf: Warum hat ein ganzes Zeitalter Logik, angefüllt mit Ideen unzähliger Gelehrter, festgehalten in unzähligen Werken, fast nichts von bleibendem Wert hervorgebracht? Vielleicht, weil diese Logik zu sehr ihrem Zweck verpflichtet blieb, dem Glauben zu dienen, und weniger Wissenschaft war als vielmehr eine, wenngleich ingeniös konstruierte, Rechtfertigungsmaschine. Denn echte Wissenschaft lässt jedes Ergebnis zu, auch ein vernichtendes: Als die Mathematiker beweisen wollten, dass Euklids Parallelenpostulat wahr sein muss, stießen sie auf Raumvorstellungen, in denen es falsch ist. Als Cantor nach einem Beleg suchte für die Selbstverständlichkeit, dass die Ebene mehr Punkte enthält als die Gerade und der Raum mehr als die Ebene, entdeckte er, dass alle gleich viele Punkte enthalten – »Ich sehe es, aber ich glaube es nicht!« Als Michelson und Morley die Geschwindigkeit der Erde im Äther zu messen trachteten, blieben sie ohne Resultat und stellten damit den Begriff des Äthers, an dem niemand gezweifelt hatte, in Frage. Hippasos’ irrationale Zahlen und Plancks Quantisierung der Energie ließen Weltbilder einstürzen und wurden dennoch nicht unter den Tisch gekehrt. Doch von sämtlichen Versuchen der Scholastik, die Existenz Gottes zu beweisen, ist kein einziger dokumentiert, der Indizien gegen Gott ans Licht gebracht hätte. Ockham, der bloß bezweifelte, dass man Gott durch Denken beweisen könne, wurde dafür exkommuniziert, von den Universitäten verjagt und vor Gericht gestellt, Letzteres zum Glück ohne weiteren Schaden. Vielleicht ist also der Grund für die Nutzlosigkeit aller mittelalterlichen Weisheit, zumindest auf unserem Gebiet, in jener Haltung zu suchen, die Russell exemplarisch wie folgt beschrieb: »Von echtem Philosophengeist findet sich bei Thomas von Aquino wenig. [...] Bevor er zu philosophieren beginnt, kennt er bereits die Wahrheit.«

Um das Jahr 1500 entdeckte ein junger Astronom, dass man die Bewegungen am Planetenhimmel besser erklären kann, wenn man in Gedanken die Sonne in den Mittelpunkt stellt anstatt die Erde. Zwar wagte er lange Zeit seine Beobachtung nur im kleinen Kreis zu verkünden, um nicht den Zorn der Kirche auf sich zu ziehen. Doch als er 1543, bereits siebzigjährig, sein Buch De revolutionibus orbium coelestium in Händen hielt, da hatte die Wissenschaft begonnen, die Fesseln abzustreifen, die sie eine Ewigkeit lang getragen hatte. Die Naturwissenschaften erfuhren einen beispiellosen Aufschwung: Kopernikus’ System wurde um 1610 von Kepler präzisiert und ein Menschenalter später von Newton theoretisch untermauert. Keplers Zeitgenosse Galilei erdachte eine Mechanik, die in so ziemlich allem der aristotelischen widersprach. Mit seiner Betonung des Experimentes, auf das eine erklärende Theorie zu folgen hatte, führte er eine neue Denkweise ein. Noch stärker dem Experiment zugewandt zeigte sich zur gleichen Zeit Francis Bacon, der die Methode der Induktion, des Schließens aus Einzelbeobachtungen, propagierte, ohne jedoch selbst nennenswerte Resultate zu erzielen. Sein Hauptwerk Novum organum scientiarium lässt schon im Titel ahnen, dass der Autor ein neues Werkzeug der Erkenntnis an die Stelle des alten, von Aristoteles geschaffenen, setzte. Auch die Mathematik blühte in der Freiheit auf. Gleichungen dritten und vierten Grades wurden im Italien des sechzehnten Jahrhunderts gelöst, dabei zum ersten Mal aus einer negativen Zahl die Wurzel gezogen. Im gleichen Zeitraum erhielten die Winkelfunktionen ihre heutige Form. Mit dem Logarithmus ließ John Napier das siebzehnte Jahrhundert beginnen, mit der analytischen Geometrie führten es Descartes und Fermat auf einen ersten Höhepunkt, und Leibniz und Newton krönten es mit Differential und Integral. Nicht nur Inhalt und Methode, auch der Stil der Präsentation veränderte sich – Dialogform und Latein verloren ihre beherrschende Stellung. Galilei schrieb zwar in Dialogen, aber oft in lingua volgare, Italienisch; Leibniz und Newton schrieben, beinahe als Letzte, Latein, aber im Stil moderner Abhandlungen.

Das erste in Englisch verfasste Buch der Logik war 1551 The Rule of Reason von Thomas Wilson; ihm folgte 1573 The Arte of Reason, rightly termed Witcraft von Ralph Lever. Inhaltlich folgten beide Werke der scholastischen Tradition und gingen nicht über Bekanntes hinaus. Bemerkenswert sind ihre Behandlungen des Fachvokabulars: Wilson anglizierte die lateinischen Wörter; so führte er für die Aussage, propositio, das heute gebräuchliche Wort ›proposition‹ ein. Lever erfand Kunstwörter wie ›storehouse‹ für die Aussage, ›saywhat‹ für die Definition oder ›foresay‹ und ›endsay‹ für Prämisse und Konklusion, die niemand mehr benutzt. 1585 erschien The Sheapheardes Logicke und 1588 The Lawiers Logike, beide von Abraham Fraunce, einem gelernten Juristen, der damals wie heute vor allem als Dichter bekannt war. Fraunce besprach zum einen die in Frankreich einsetzende Gegenströmung zur Scholastik, von der im nächsten Absatz die Rede sein wird, zum anderen wandte er die Logik auf Fragen des Rechtes an. The Lawiers Logike stieß beim Erscheinen auf Interesse, obwohl (oder weil?) es in Hexametern geschrieben war. Spätere Rezensenten beurteilten seinen Wert unterschiedlich: vom »first systematic attempt in English to adapt logical theory to legal learning« bis zu einer »motley [kunterbunten] mixture of law, logic, and poetry«.

Das erste Buch in Französisch, Dialectique von Pierre de la Ramée, stammt aus dem Jahr 1555. Der Autor, der auch als Petrus Ramus im Lexikon steht, war kein Unbekannter mehr; zuvor hatte er Aristotelicae animadversiones veröffentlicht – Polemiken gegen Aristoteles und damit gegen die Scholastiker. Seine Magisterarbeit von 1536 soll den Titel ›Was immer Aristoteles gesagt hat, ist erlogen‹ getragen haben. Die Dialectique geriet zu einem populären Lehrbuch, erfuhr zahlreiche Auflagen und wurde ins Lateinische und Englische übersetzt. Wie seine Vorgänger, so sah auch Ramée in der Logik hauptsächlich eine Wissenschaft der Sprache. Ein großer Teil seines Werkes handelt von Begriffen und Definitionen, der andere von Schlüssen und Beweisen. Darüber hinaus aber betonte er die Notwendigkeit von Beobachtung und Experiment; denn alleine mit Sprache lasse sich die Natur nicht erkennen. Ramées Lehre gewann für kurze Zeit so sehr an Einfluss, dass es üblich war, Logiker in Aristoteliker, Ramisten und Semi-Ramisten einzuteilen. Wirklich neu und von bleibender Bedeutung war aber auch an ihr nicht viel. Während andere Wissenschaften voranstürmten, kreiste die Logik in Renaissance und Barock um immer die gleichen alten Themen.

Das spiegelte sich im Lehrplan der Universitäten. Noch um 1700 hätte man ihn vom mittelalterlichen kaum unterscheiden können, einschließlich der obligationes als Prüfungsmodus. Der Jargon der obligationes übertrug sich auf die akademische Sprache, beispielsweise das Wort ›implicat‹: Ziel einer Debatte war es meist, dem Gegner einen Widerspruch nachzuweisen, was im Erfolgsfall mit einem triumphierenden ›implicat contradictionem‹ endete. Daraus entstand die Kurzform ›implicat‹, mit der man fortan eine Argumentation abschloss. Bei alldem ging es weniger um Erkenntnis als vielmehr um ein Ritual. Goethe hörte zu Beginn seines Studiums, 1765 oder 1766, ein Collegium logicum und war nicht begeistert; jedenfalls gab er später seinem Mephisto ein paar deutliche Worte mit. Und Kant befand 1787, dass die Logik seit Aristoteles »keinen Schritt vorwärts hat tun können, und also allem Ansehen nach geschlossen und vollendet zu sein scheint«. Auch ein Kant darf sich irren.

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