Leseprobe »Vom Universum des Denkens«: Von den Urteilen
Dass die Logik frei von Meinungen, Vorlieben und Geschmackseinflüssen wäre, ist eine naheliegende Vermutung, die dem Vergleich mit der Wirklichkeit nicht standhält. Wenn zwei Logiker über einen dritten sprechen, und sei es über den Begründer ihrer Wissenschaft, kann es durchaus subjektiv zugehen. Gottfried Wilhelm Leibniz nannte Aristoteles’ Grundsätze »die schönste Entdeckung des menschlichen Geistes«; der britische Philosoph Bertrand Russell sah in ihnen »trivialen Unsinn«. In seiner »Philosophie des Abendlandes« widmete er der Logik des Aristoteles ein ganzes Kapitel mit dem Resümee, »dass sämtliche aristotelischen Ansichten, mit denen wir uns in diesem Kapitel beschäftigt haben, falsch sind mit Ausnahme der formalen Theorie des Syllogismus, die unwichtig ist«. Gut, das kann sich ein Russell erlauben. Wir fragen bescheiden, was Aristoteles eigentlich gelehrt hat – ein besserer Ausgangspunkt für eine Geschichte der Logik lässt sich ohnehin kaum finden.
Das fünfte Jahrhundert vor Christus war die Epoche der griechischen Aufklärung. Davor waren für alles die Götter zuständig gewesen; von der Zeit bis zum Wetter, vom Krieg bis zur Liebe, vom Wahnsinn bis zur Schmiedekunst war alles in ihren Händen gelegen. Nun wollte man die Welt auch mit dem Verstand erfassen. Vermittler des neuen Wissens waren die Sophisten, die »Weisen«, und das Medium der Vermittlung war in erster Linie die Rede. Die Sophisten lehrten die Kunst des Streitgespräches und schufen damit die für lange Zeit vorherrschende Form der Erörterung – noch Galilei verbreitete zweitausend Jahre später seine Lehre in Gestalt von, dann schon geschriebenen, Dialogen. Parallel zur wissenschaftlichen Rede entwickelten sich Formen der öffentlichen: die politische Rede in Volksversammlungen, die Anklage- und Verteidigungsrede vor Gericht und die Lob- und Gedenkansprache. Dass der Redner in Körperhaltung, Mimik und sogar im Faltenwurf seines Gewandes gefallen musste, war die eine Seite; dass er überzeugen musste, die andere. Und so hatte er (oder sein Redenschreiber, der nicht selten auch die Rede der Gegenseite verfasste) sich zu fragen, auf welchem Weg das Überzeugen gelinge.
Unter den Mitteln des Überzeugens, den Argumenten, gibt es mehrere, mit denen wir uns nicht beschäftigen werden: das Argument ad populum, dass etwas wahr sei, weil die Mehrheit es für wahr hält; das Argument ad hominem, dass etwas wahr sei, weil dieser oder jener es behauptet; das Argument ad temperantiam, dass man eine Position einnehmen solle, weil sie die Mitte zwischen zwei Extremen darstellt; oder das Argument ad nauseam, dass das Diskutieren jetzt ein Ende haben müsse, weil einem davon schon ganz schlecht ist. Was uns interessiert, ist der korrekte Übergang von gegebenen Aussagen zu anderen: das logische Schließen. Doch das logische Schließen im Einzelfall ist noch keine Logik, wie eine korrekte Rechnung noch keine Mathematik ist. Die Mathematik entstand aus der Erforschung der Prinzipien des Rechnens; und ebenso entstand die Logik aus der Erforschung der Prinzipien des Schließens.
Der Erste, von dem wir wissen, dass er diesen Prinzipien nachging, war Platon. Geboren im fünften Jahrhundert, wurde er von manchen zu den Sophisten gezählt, was er sich strengstens verbeten hätte; denn in seiner Schrift Sophistes verdient der typische Sophist sein Geld mit wertlosem Scheinwissen. Platon stellte vier Fragen: Erstens, was es sei, das man wahr oder falsch nennen könne. Seiner Ansicht nach ist es der Gedanke, der wahr oder falsch sein kann, wobei Platon diesen manchmal als gesprochenen oder geschriebenen Satz begriff, manchmal als das durch den Satz ausgedrückte Urteil. Die Frage, welche Objekte Wahrheit oder Falschheit tragen, ist noch heute nicht endgültig entschieden, und so müssen wir uns über weitere Antworten im Folgenden nicht wundern. Zweitens, wie ein einfacher Satz aufgebaut sei. Platon kam zu dem Schluss, ein einfacher Satz bestehe aus Name und Verb. Das Verb bezeichne eine Handlung, der Name ein Objekt, das diese Handlung ausführt. Drittens, was einen gültigen Schluss ausmache. Platon sprach von einer notwendigen Verbindung zwischen Gedanken; worin diese Notwendigkeit besteht, lässt sich anhand der Aufzeichnungen nicht restlos erklären. Viertens, was eine Definition sei. Eine Definition war bei Platon etwas ganz anderes als das, was die heutige Wissenschaft darunter versteht. Heute führt eine Definition für gewöhnlich einen neuen Begriff ein: Wenn wir die Menge aller Punkte, die von einem gegebenen Punkt den gleichen Abstand haben, als Kreis bezeichnen, so führen wir damit das Wort »Kreis« ein. Laut Russell sind Definitionen Anweisungen für die Druckerei: Dem Drucker wird mitgeteilt, er solle »Kreis« setzen anstatt »Menge aller Punkte, die von einem gegebenen Punkt den gleichen Abstand haben«, weil es kürzer ist und leichter zu lesen. Definitionen, so als bloße Namensgebungen aufgefasst, heißen Nominaldefinitionen; sie können nicht falsch sein in dem Sinn, dass sie der Wirklichkeit widersprächen; sie dürfen nur sich selbst und einander nicht widersprechen. Bei Platon hingegen war die Definition eine Beschreibung: Was ein Kreis ist, war schon vorher klar, und die Definition sollte seine wesentlichen Eigenschaften bestimmen. Man nennt das eine Realdefinition, und eine solche kann sehr wohl falsch sein. Realdefinitionen und die Suche nach ihnen bilden seit jeher einen Teil der Philosophie. In frühen Schriften versuchte Platon beispielsweise, die Tugend zu definieren; und noch heute offenbaren Fragen wie »Was ist Bewusstsein?« oder »Was ist Gerechtigkeit?« die Sehnsucht nach Realdefinitionen, und viele sehen gerade in ihnen die zentralen Fragen.
Den großen Schritt aber tat nicht Platon, sondern sein Schüler Aristoteles, der im vierten Jahrhundert vor Christus lebte. Er gilt als Begründer der Logik, weil er als Erster eine vollständige Theorie entwarf, jene des Syllogismus, und einige noch heute gültige Grundsätze fand. Seine Arbeiten zur Logik wurden nach seinem Tod zu einem Gesamtwerk gefügt, dem aus sechs Büchern bestehenden Organon, was so viel bedeutet wie »Werkzeug« oder »Instrument«. So sah Aristoteles die Logik: nicht als eigene Wissenschaft, sondern als Werkzeug für den, der Wissenschaft betreibt.
In der Frage der Definitionen folgte Aristoteles seinem Lehrer Platon. Auch für ihn war eine Definition dazu da, das »Wesen« eines Dinges zu beschreiben, nämlich jene Eigenschaften, die sich nicht verändern können, ohne dass das Ding seine Identität verlieren würde. Sokrates kann hungrig sein oder nicht, in beiden Fällen ist er Sokrates; der Hunger gehört nicht zu seinem Wesen. Wohl aber gehört es zu seinem Wesen, ein Mensch zu sein – würde sich das ändern, wäre er nicht mehr Sokrates. So konnten auch für Aristoteles Definitionen wahr oder falsch sein; und wahre Definitionen waren zugleich wahre erste Aussagen, mit denen logisches Schließen beginnen konnte. Aristoteles unterschied zwischen der Wahrheit der Voraussetzungen, Prämissen, und der Gültigkeit des Schlusses, der von den Prämissen zur abgeleiteten Aussage, der Konklusion, führt. Sind die Prämissen mit Sicherheit wahr, heißen ein gültiger Schluss und die durch ihn abgeleitete Aussage, die dann ebenfalls mit Sicherheit wahr ist, apodiktisch. Ist der Wahrheitsgehalt der Prämissen unbekannt, heißen der Schluss und die abgeleitete Aussage, deren Wahrheit dann ungewiss ist, dialektisch. Beide Fälle haben ihre Anwendungen. Apodiktische Aussagen lieferte die euklidische Geometrie ein Jahrhundert nach Aristoteles: Euklid begann mit Definitionen, Postulaten und allgemeinen Grundsätzen, deren Wahrheit von niemand bezweifelt wurde, und leitete Satz um Satz daraus ab. Solche Ableitungen heißen Beweise. Doch auch dialektische Schlüsse können zu Beweisen führen: Leitet man aus einer Prämisse von ungewisser Wahrheit einen Widerspruch ab, dann ist die Falschheit der Prämisse bewiesen; denn aus wahren Aussagen können nur wahre Aussagen folgen, niemals aber ein Widerspruch.
Wir haben die Begriffe »Aussage«, »wahr« und »falsch« bisher ziemlich sorglos verwendet. Nun lassen wir Aristoteles Ordnung in die Sache bringen: »Von dem, was ist, zu sagen, es sei nicht, oder von dem, was nicht ist, es sei, ist falsch, hingegen von dem, was ist, zu sagen, es sei, oder von dem, was nicht ist, es sei nicht, ist wahr.« Um wahr oder falsch zu sein, muss ein Satz also etwas aussagen, und seine Wahrheit oder Falschheit, nämlich die Wahrheit oder Falschheit der Aussage, besteht im Übereinstimmen oder Nichtübereinstimmen mit der Wirklichkeit. »Schnee ist weiß« und »Athen liegt am Äquator« sind solche Sätze, der erste wahr, der zweite falsch; Fragen, Bitten und Befehle sind keine. Zwei Regeln gelten für alle Aussagen. Erstens der Satz vom ausgeschlossenen Dritten: Jede Aussage ist wahr oder falsch, eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Zweitens der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch: Keine Aussage kann zugleich wahr und falsch sein. Aristoteles hat angemerkt, dass sich diese Prinzipien nicht beweisen lassen, weil jeder Beweis sie schon voraussetzen müsste. Dennoch hat er sie als einleuchtend angenommen. Dabei stieß er auf ein Problem: Der Satz »Morgen wird es regnen« sieht wie eine Aussage aus; wenn es morgen regnet, ist er wahr, andernfalls falsch. Ist aber der Satz wahr, dann ist er heute schon wahr; ist er falsch, dann ist er heute schon falsch. Und damit ist heute schon festgelegt, ob es morgen regnen wird: Ist der Satz wahr, dann wird es regnen; ist er falsch, dann nicht. Das bedeutet, dass die Zukunft festgelegt ist, sofern Prognosen Aussagen sind. Diese Konsequenz ging Aristoteles zu weit. Daher hat er Prognosen nicht zu den Aussagen gezählt, und dabei ist es bis heute geblieben.
Aristoteles’ Ansicht darüber, aus welchen Elementen sich Aussagen zusammensetzen, ähnelt jener Platons, derzufolge einfache Sätze aus Name und Verb bestehen, ist aber allgemeiner und umfasst mehr. Nach Aristoteles besteht eine Aussage aus einem Subjekt, über das etwas ausgesagt wird, und einem Prädikat, das dem Subjekt zugesprochen wird; womit über das Subjekt ausgesagt ist, dass es dem Prädikat entspricht: »Schnee« (Subjekt) »ist weiß« (Prädikat). »Alle Spatzen« (Subjekt) »sind Vögel« (Prädikat). Wie die Beispiele zeigen, muss das Prädikat kein Verb sein; es kann aber eines sein: »Alle Vögel fliegen«. Die Subjekt-Prädikat-Struktur, wie Aristoteles sie sah, scheint ein notwendiges Attribut der Sprache zu sein; nicht nur des Griechischen im Altertum, sondern auch der modernen Sprachen. Sie scheint so selbstverständlich, dass man sich kaum die Probleme vorstellen kann, in die sie die Philosophie geführt hat und von denen wir noch hören werden.
Sätze, in denen einem Subjekt ein Prädikat zugesprochen wird, heißen Urteile. Nach Schopenhauer bedeutet urteilen, »das Verhältnis gegebener Begriffe zueinander erkennen«, und Kant zufolge lassen sich »alle Handlungen des Verstandes auf Urteile zurückführen, so dass der Verstand überhaupt als ein Vermögen zu urteilen vorgestellt werden kann«. In Kants Bemerkung lesen wir eine nachträgliche Rechtfertigung dafür, dass Aristoteles als einzige Aussagenart das Urteil eingehend behandelt hat, wodurch er zu vielem, was heute die Logik ausmacht, nicht vordringen konnte.
Aristoteles unterschied Urteile in zweierlei Hinsicht: Erstens universelle: »Alle Vögel fliegen« von partikulären: »Einige Vögel fliegen« (wobei »einige« hier und im Folgenden »ein oder mehrere« bedeutet). Zweitens positive: »Einige Vögel fliegen« von negativen: »Einige Vögel fliegen nicht«. Sein hauptsächliches Ziel war es, Regeln zu finden, mit denen man von gegebenen Urteilen auf neue schließen kann. Dabei sollte es nicht auf den Gegenstand eines Urteils ankommen, sondern nur auf seine Form: Ob: »Alle Spatzen sind Vögel« oder: »Alle Vögel fliegen« – in beiden Fällen liegt ein universell positives Urteil der Form »Alle S sind P« vor. Indem Aristoteles die konkreten Ausdrücke durch Buchstaben ersetzte, schuf er den Prototyp der formalen Logik, der Lehre vom Zusammenhang zwischen Aussagen aufgrund von deren Form, ungeachtet ihres Gegenstandes. In diesem Sinn gab es also vier Arten von Urteilen: universell positive: »Alle S sind P«; partikulär positive: »Einige S sind P«; universell negative: »Alle S sind nicht P«; partikulär negative: »Einige S sind nicht P«. Nun stellt jede Sprache mehrere Wege bereit, ein und dasselbe auszudrücken, und wir dürfen nicht erwarten, dass unsere deutsche Ausdrucksweise die altgriechische des Aristoteles exakt wiedergibt. Für »Alle S sind P« schrieb Aristoteles meist sinngemäß: »P wird allen S zugesprochen«, manchmal auch: »P gehört zu allen S«, manchmal umschrieb er es mit ganz anderen Worten. Auch das universell negative Urteil erschien bei Aristoteles anders: Statt »Alle S sind nicht P« schrieb er meist »P wird keinem S zugesprochen« oder »P gehört zu keinem S«. Wir behalten das im Kopf, bleiben aber, um die Darstellung nicht zu verwirren, bei der oben gewählten Diktion.
Ehe wir uns dem Hauptthema der aristotelischen Logik zuwenden, dem Syllogismus, sprechen wir noch über eine Besonderheit seines Schließens. Aus »Alle Vögel fliegen« folgt »Einige Vögel fliegen« – wenn die erste Aussage wahr ist, dann auch die zweite, soviel ist klar. Für Aristoteles war daher klar, dass aus »Alle S sind P« immer »Einige S sind P« folgt. Wann aber ist »Alle Vögel fliegen« wahr? Dann, wenn es keinen Vogel gibt, der nicht fliegen würde; und dann ist zweifellos auch »Einige Vögel fliegen« wahr. Betrachten wir nun die Aussage »Alle Hexen sind böse«. Sie ist nach dem soeben Gesagten dann wahr, wenn es keine Hexe gibt, die nicht böse wäre; und das ist tatsächlich der Fall, weil es ja überhaupt keine Hexe gibt. Also ist »Alle Hexen sind böse« wahr. Ist deshalb auch »Einige Hexen sind böse« wahr? Nein, denn dazu müsste es Hexen geben. Während also aus »Alle Vögel fliegen« folgt: »Einige Vögel fliegen«, folgt aus »Alle Hexen sind böse« nicht »Einige Hexen sind böse«. Der Grund liegt darin, dass es Hexen nicht gibt, dass also »Hexe« ein leerer Ausdruck ist. Aristoteles aber schloss leere Ausdrücke aus. Seine Logik handelt von Dingen, die es in der Welt zu entdecken und zu studieren gibt, und deshalb hat in ihr »Alle S sind P« stets »Einige S sind P« zur Folge. Man nennt dieses Prinzip – dass das, was für alle gilt, auch für einige gilt – Existenzimport. Die moderne Logik verzichtet auf den Existenzimport; speziell in der mathematischen Logik kann es bei einem neu eingeführten Ausdruck zunächst unklar sein, ob er leer ist oder nicht, und deshalb ist es bequemer, leere Ausdrücke zuzulassen. Wir bezahlen diese Bequemlichkeit mit der paradoxen Feststellung, dass alle Hexen böse sind, obwohl es keine einzige böse Hexe gibt. So kommt man schuldlos in Verruf.
Von den vielen Möglichkeiten, aus gegebenen Urteilen neue abzuleiten, hat Aristoteles eine ganz bestimmte zum Kern seiner Untersuchungen gewählt: jene, wo zwei Urteile, die einen Begriff gemeinsam haben, auf ein drittes führen, und die wir als Syllogismus, nach dem Griechischen für »logischer Schluss«, kennen. (Ursprünglich hatte Aristoteles »Syllogismus« noch definiert als Argumentation, in der aus gegebenen Aussagen andere Aussagen folgen, was so ziemlich jedes logische Schließen beinhaltet. Später verwendete er den Begriff in dem eingeschränkten Sinn, in dem man ihn heute versteht.) Aus den Prämissen »Alle Vögel fliegen« und »Alle Spatzen sind Vögel« folgt »Alle Spatzen fliegen« oder, symbolisch: »Alle M sind P; alle S sind M; daher: Alle S sind P«. Wieder notierte Aristoteles anders, als wir es tun. Er schrieb beispielsweise: »Wenn P allen M zugesprochen wird und M allen S zugesprochen wird, dann ist es notwendig, dass P allen S zugesprochen werde«. Die Wenn-dann-Form, der Konditional, drückt aus, dass die Wahrheit der Prämissen nicht garantiert sein muss und Syllogismen durchaus dialektische Schlüsse sein können. Auch hier folgen wir, wie die meiste Literatur, der Einfachheit und behalten die kürzere Formulierung bei. Das M, hier: »Vögel«, ist der Begriff, den die Prämissen gemeinsam haben, der sogenannte Mittelbegriff; S und P (»Spatzen« und »fliegen«) sind Subjekt und Prädikat der Konklusion. Im vorliegenden Beispiel sind beide Prämissen wie auch die Konklusion universell positive Urteile. Das ist der geläufigste Syllogismus, aber bei weitem nicht der einzige. »Alle M sind nicht P; alle S sind M; daher: Alle S sind nicht P« ist ein weiterer, »Alle M sind P; einige S sind M; daher: Einige S sind P« ein dritter. Nicht jedes Prämissenpaar lässt eine Konklusion im syllogistischen Sinn zu. Beispielsweise kann man aus »Einige M sind P« und »Einige S sind M« nichts schließen. Damit ein Schluss möglich ist, muss mindestens eine Prämisse ein universelles Urteil enthalten und mindestens eine ein positives. Spielt man alle Kombinationen durch, die Schlüsse zulassen, kommt man auf 24 Syllogismen, die man in vier Gruppen (»Figuren«) zu je sechs Schlüssen teilen kann. Darunter finden sich auch solche, die, anders als die bisherigen Beispiele, erst beim zweiten oder dritten Lesen einleuchten: »Einige M sind nicht P; alle M sind S; daher: Einige S sind nicht P«.
Die ersten drei Figuren hat Aristoteles nach der Stellung des Mittelbegriffes bestimmt: In der ersten Figur steht der Mittelbegriff im Subjekt der einen Prämisse und im Prädikat der anderen, in der zweiten Figur im Prädikat beider, in der dritten im Subjekt beider. Die vierte Figur, die sich von der ersten durch die Stellung der Terme in der Konklusion unterscheidet, hat er kurz erwähnt und nicht weiter betrachtet. In den ersten beiden Figuren erschienen ihm nur vier der sechs Schlüsse wesentlich, die beiden anderen folgen aus ihnen: Wenn ein Schluss auf »Alle S sind P« führt, dann ist der Schluss aus denselben Prämissen auf »Einige S sind P« wegen des Existenzimports selbstverständlich. So blieben 14 Syllogismen. Davon fand Aristoteles zwei – unsere ersten beiden Beispiele – offensichtlich, und es gelang ihm, alle anderen durch logische Umformungen auf diese beiden zurückzuführen. Tatsächlich kann sogar jeder Syllogismus in jeden anderen übergeführt werden und damit jeder der 23 anderen in den ersten und einfachsten; die dazu nötigen Methoden kannte Aristoteles jedoch nicht. Was er geschaffen hat, ist in heutigen Worten eine Theorie, die aus zwei Axiomen – den ersten beiden Syllogismen – und einer Reihe von Umformungsregeln besteht und in der alle weiteren Syllogismen mit Hilfe der Umformungsregeln aus den Axiomen abgeleitet werden können. Die Korrektheit der Axiome war dadurch gewährleistet, dass sie jeder einsehen musste; die Korrektheit der restlichen Syllogismen durch regeltreues Umformen. In der Lehre vom Syllogismus erblicken wir die erste axiomatische Theorie, hundert Jahre bevor Euklid mit seiner Geometrie die Axiomatik auf ihren ersten Gipfel führte.
Es war Aristoteles bewusst, dass sich nicht jeder Schluss auf einen Syllogismus reduzieren lässt. Er untersuchte auch Schlüsse aus einer einzigen Prämisse – vor allem aber solche, die er zum Umformen seiner Syllogismen brauchte, wie: »Einige M sind P; daher: Einige P sind M«. Trotz ihrer Beschränkung ging Aristoteles’ Logik weit über alles Bisherige hinaus, und irgendwo endet jedes Werk. Außerdem hatte er auch sonst viel zu tun. Wie alle Philosophen des Altertums war Aristoteles Universalist; er widmete sich der Physik der Erde und des Himmels, schrieb über Mensch und Tier, Körper und Seele, über Politik, Rhetorik, Erkenntnistheorie, Ethik, Dichtkunst, Musik und Tanz. Er unterrichtete Alexander den Großen, als der noch kleiner war. In seinen letzten Jahren lehrte er am Lykeion, einer Bildungsstätte für Körper und Geist nahe der Akropolis von Athen. Nach dem Peripatos, der Wandelhalle des Lykeion (Philosophen wandeln, wo gewöhnliche Leute spazieren gehen), ist Aristoteles’ philosophische Schule benannt. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern war er, in Russells Augen, »ein echter Lehrer, kein inspirierter Prophet« und »der Erste, der wie ein Professor schrieb«.
Aristoteles’ Lehre beherrschte über Jahrhunderte das logische Denken. Sein Schüler Theophrastos, der ihm als Leiter des Peripatos nachfolgte, ergänzte die Theorie des Syllogismus durch Vorarbeiten für die vierte Figur. In der Spätantike übernahmen die Neuplatoniker, wenngleich zögernd, die Logik des Aristoteles in ihr System. Alexander von Aphrodisias im dritten Jahrhundert nach Christus und später Ammonios Hermeiou schrieben Kommentare zu Aristoteles’ Werken, Christen befassten sich mit ihnen, und die Syrer übersetzten das Organon in ihre Sprache.
In Rom geriet die Logik beinahe in Vergessenheit. Mit ihr ließen sich keine Straßen bauen, keine Kriege führen und keine Provinzen verwalten. War für Aristoteles die Philosophie die Wissenschaft der obersten Gründe und Prinzipien gewesen, so stand sie für Cicero, Seneca und Marc Aurel vor allem im Dienst einer tugendhaften Lebensführung – das Gute vom Schlechten zu trennen wurde wichtiger, als das Wahre vom Falschen zu unterscheiden. Überhaupt verfiel die Wissenschaft. An die Stelle von Originalarbeiten traten Enzyklopädien, die nur Altbekanntes enthielten, sowie Übersetzungen griechischer Werke. Cicero gab ein Handbuch der Redekunst heraus, illustriert durch Beispiele aus dem römischen Recht; Martianus Capella schrieb, ganz in griechischer Tradition, De arte dialectica; und Boethius, dessen Einfluss weit in das Mittelalter hineinreichen sollte, übertrug einzelne Bücher des Aristoteles ins Lateinische und rettete sie damit für die Nachwelt.
Erst im Mittelalter drang die Logik wieder in die Köpfe der Gelehrten. Im dreizehnten Jahrhundert konstruierte der Katalonier Ramon Llull, seiner Weisheit wegen als Doctor Illuminatus verehrt, eine aus drehbaren Scheiben bestehende »logische Maschine«, die aristotelische Kategorien wie Güte, Größe oder Ewigkeit in syllogistischer Weise verknüpfte und so den christlichen Glauben durch Einsicht ergänzen half. Für den Syllogismus entwickelte sich ein eigener Wortschatz: Zunächst etikettierte man Aristoteles’ Urteilsformen mit Vokalen: »a« für universell positive Urteile, »i«, »e« und »o« für die anderen drei. Für die ersten beiden Syllogismen, die Axiome der aristotelischen Theorie, stehen dann die Vokalfolgen »aaa« und »eae«, die man mittels Konsonanten, auch diese systematisch bestimmt, zu den noch heute gebräuchlichen Namen »Barbara« und »Celarent« ergänzte. So geht es weiter bis zum sechsten Schluss der vierten Figur, dem »Camenop«. Die vierte Figur, von Aristoteles weitgehend ignoriert und von Theophrastos vorbereitet, akzeptierte man um 1500 und vervollständigte damit die Theorie.
Liest man heute vom Syllogismus, stößt man unweigerlich auf folgendes Beispiel: »Alle Menschen sind sterblich; Sokrates ist ein Mensch; daher ist Sokrates sterblich«. Es zeigt keinen Syllogismus im engen Sinn, weil »Sokrates ist ein Mensch« und »Sokrates ist sterblich« weder universelle noch partikuläre Urteile sind, sondern singuläre: Urteile über einen Einzelfall. Da es dennoch die Idee wiedergibt, hat es sich vor allem in populären, aber auch in wissenschaftlichen Darstellungen erhalten. Gerade an diesem Beispiel demonstrierte John Stuart Mill im neunzehnten Jahrhundert, dass ein Syllogismus, betrachtet man ihn als Argument zum Beweis der Konklusion, ein Zirkelschluss ist: Da Sokrates gemäß der zweiten Prämisse ein Mensch ist, setzt die erste Prämisse, alle Menschen seien sterblich, schon voraus, dass er sterblich ist. Die Konklusion steckt also schon in den Prämissen. Das ist unser erster Hinweis auf einen Umstand, den wir später in voller Allgemeinheit sehen werden: Logische Operationen können uns zwar manches ins Bewusstsein bringen; sie fügen aber unserem Wissen nichts hinzu, sondern drücken es nur anders aus – die Konklusion steckt immer schon in den Prämissen.
Viel mehr über Aristoteles als das Sokrates-Beispiel bringt auch ein typisches Lehrbuch der Logik nicht; obwohl noch im zwanzigsten Jahrhundert der Pole Jan Lukasiewicz eine alternative Theorie des Syllogismus, Aristotle’s Syllogistic from the Standpoint of Modern Formal Logic, entwarf. Ansonsten ist es um das Thema still geworden. Ausführlich behandelt man es nur mehr in den Vorlesungen für Philosophen, vermutlich aufgrund der dort überragenden Stellung seines Schöpfers. Aber schon bald nach dessen Wirken wuchs am Baum der griechischen Logik ein neuer Zweig, der bis in unsere Tage Früchte trägt und dem das nächste Kapitel gehört.
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