Leseprobe »Merkwürdigkeiten der Quantenmechanik«: Objekte, Merkmale, Relationen
Mit dem Betreten des Landes der kleinsten Dimensionen hat man also neuartige Objekte kennengelernt. Man hat entdeckt, dass zum »Inventar der Welt« sehr viel mehr gehört als man sich bisher hat vorstellen können. Damit kamen auch neue Prozesse und neuartige Beziehungen in den Blick, die wiederum eine neue Perspektive auf bisher Bekanntes eröffneten.
Neuartig waren die Quanten, früher zunächst Elementarteilchen genannt; es waren Elektronen, Protonen, Neutronen, Photonen und viele andere. Heute spricht man gar von einem »Zoo« solcher Teilchen bzw. Quanten.
Man lernte also, dass es noch viel mehr »Seiendes« gibt und es ist ratsam, diese Objekte auch allgemein als solche zu bezeichnen, sie also »Entitäten« zu nennen, um nicht mit »Ding« oder »Objekt« Begriffe zu gebrauchen, die wir schon zu gut aus der Welt der mittleren Dimensionen kennen, sodass wir mit bestimmten Vorurteilen an sie herangehen. Der Begriff »Entität« soll nun allgemein für etwas sein, was wir als existent ansehen, wir also als etwas »Seiendes« betrachten. Bei einem Objekt oder Ding werden wir immer etwas »Ausgedehntes« unserer Welt der mittleren Dimensionen meinen, also ein Teil der »res extensa« von Descartes. Ein Quant ist dagegen eine Entität des Landes bzw. der Welt der kleinsten Dimensionen.
Solch eine Erweiterung unserer Erkenntnis über das Inventar des Seins muss wohl auch eine Überprüfung der Systematik nach sich ziehen, mit der man das Inventar nach bestimmten Gesichtspunkten kategorisiert und einordnet. Wir begeben uns damit in das Gebiet der Ontologie, der Lehre vom Sein. Schon die ersten Philosophen und Physiker, die Vorsokratiker, beschäftigten sich damit, jeweils ausgehend von ihrem Wissen über die Welt. Bei solchen Kategorisierungen richtet man sich immer nach den Merkmalen der Entitäten.
Am wichtigsten bei einem Merkmal ist zunächst einmal zu wissen, ob es in die Kategorie der Eigenschaften fällt oder in die der Relationen. Wir sind es im Alltag gewohnt, bei Objekten zunächst an ihre Eigenschaften zu denken und reden davon, dass ein Objekt diese oder jene Eigenschaft »besitzt«. Wir wissen auch, dass dieses »Besitzen« gewissen Umständen geschuldet sein kann und damit nicht zum »eigentlichen Wesen« des Objektes gehört. Die Eigenschaft kann andererseits aber auch notwendigerweise zu dem Objekt gehören. Würde diese nicht dazu gehören, wäre es nicht das Objekt, das gerade in Rede steht. Schon Aristoteles kannte diese Unterscheidung; die zufällig zugehörigen Eigenschaften nannte er Akzedentien. Die notwendig zugehörigen Eigenschaften machten bei Aristoteles das aus, was man später das »Proprium« nannte. Diese Merkmale sind also die »wesentlichen«, d. h. sie gehören zum »Wesen« des Objektes. Sie definieren die Klasse von Objekten, denen man unabhängig von ihren Akzedentien einen gemeinsamen Namen geben und eine Kategorie oder eine Art zuweisen könnte: Eine »kugelrunde« Form gehört zum Wesen einer Kugel, deshalb hat man diese Form schon so genannt. Ein Objekt, das nicht rund ist, kann keine Kugel sein. Zwei Kugeln können aber unterschiedliche Farben oder Größen besitzen.
Die Formulierung, dass eine Entität eine Eigenschaft »besitzen« soll, ist aber problematisch. Was ist denn dasjenige, was da etwas besitzt? Was bleibt denn übrig, wenn man sich den ganzen »Besitz« von Eigenschaften wegdenkt? Was wäre denn eine nackte Entität, eine Entität ohne Eigenschaften?
Relationen beschreiben in erster Linie Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Entitäten. Nennen wir diese a, b, …, so kann man mit R(a, b) diese Beziehung zwischen a und b bezeichnen. Sind a und b z. B. ganze Zahlen, so gibt es u. a. die Relation R = »größer als«. R(a,b) sei 1 (oder wahr), wenn b > a, und gleich 0 (oder falsch), wenn das nicht der Fall ist. (Man könnte einer Relation R auch irgendeine reelle Zahl zwischen 0 und 1 zuordnen. Diese könnte dann als Maß für die Wahrscheinlichkeit dienen, dass die Relation existiert (Filk, 2018)). Eine Relation könnte z. B. auch »ist Freund von« sein oder »ist verheiratet mit« sein. Eine dreistellige Relation R(a,b,c) wäre z. B. »eine Fahrt von a über b nach c«. Man nennt die Entitäten, deren Relation man beschreibt, auch die Relata.
Man kann Eigenschaften auch als einstellige Relationen verstehen. Dann ist mit R(a) also eine Eigenschaft, die a zukommt. R ist also das Prädikat, das der Entität a zukommt, wenn R(a) = 1 ist. So sieht man das auch in der Prädikatenlogik, und diese Sicht auf Eigenschaften trug wesentlich zur Entwicklung der modernen Logik bei. So konnte man z. B. alle Objekte, welche die Eigenschaft R besitzen, als eine Menge im Sinne der Mathematik mithilfe von sogenannten Quantoren zusammenfassen. Im Folgenden wollen wir aber mit Relationen immer zwei- oder mehrstellige Relationen meinen, sonst explizit von Eigenschaften reden.
In einer Welt, in der es nur Eigenschaften gäbe, würde es kein Zusammenspiel der Entitäten geben, keine Entwicklung und auch keine Strukturen. Man möchte sagen, eine solche Welt ergäbe keinen Sinn. Wollen wir also unsere Welt verstehen, müssen wir versuchen, möglichst viel von den Relationen zu verstehen. Die zweistelligen Relationen von der Form R(a,b) sind dabei die einfachsten und nach bisheriger Erfahrung auch die wichtigsten.
Viele Merkmale, die wir im Alltag gebrauchen, wie »groß«, »schnell« oder »reich« fassen wir oft einfach als Eigenschaften auf. Sie sind aber Relationen. Wir müssten eigentlich immer eine Referenz nennen, also sagen, wogegen etwas als groß oder schnell empfunden wird. Der Vorsokratiker Anaxagoras wusste um 450 v. Chr. schon: »Für sich ist aber jedes Ding sowohl groß wie klein« (Schupp 2003, S. 130), hat also schon erkannt, dass »Größe« nur als Relation einen Sinn ergibt.
Die Tatsache, dass man mitunter schon Eigenschaften als Relationen entlarvt hatte, und die Frage, was denn der Träger der Eigenschaften eines Objektes sein soll, hat immer wieder die Idee aufkommen lassen, dass es eigentlich nur Relationen zwischen den Dingen gibt. Objekte verfügen danach über keine intrinsischen Eigenschaften, die ihnen eine Identität stiften. Sie sind dann nur das, was sie durch ihre Relationen sind (siehe z. B. (Rovelli 2019; Filk 2018)). Das wäre eine starke Aussage im Rahmen einer Ontologie.
Etwas realistischer scheint mir die Idee zu sein, dass wir Menschen die Relationen zwischen den Entitäten besser erkennen können als die Entitäten selbst. Das wäre keine ontologische, sondern eine epistemische Aussage. In einer radikalen Version dieser epistemischen Variante heißt es sogar, dass man die Entitäten selbst überhaupt nicht erkennen kann. Soweit würde ich nicht gehen.
Solche Fragen sind seit Beginn der modernen Physik von Physikern und Philosophen immer wieder diskutiert worden. Mit der Entwicklung der Quantenphysik wurden sie besonders aktuell. Interessant ist aber auch, dass es schon vor der Quantenmechanik Positionen in diesen Fragen bezogen wurden, die heutigen Ansichten sehr nahekommen. Verblüffend ist die Arbeit des Autodidakten J.B. Stallo, der schon in den 80er Jahren des 19.Jahrhunderts, also vor aller Quantenphysik, eindeutig diese Position vertreten hat. In einer Übersetzung seines Werkes aus dem Jahre 1911 heißt es (Stallo 1911, S. 156):
»Gegenstände sind lediglich durch ihre Beziehungen zu anderen Gegenständen bekannt. Sie haben keine Eigenschaften und können keine haben und ihre Begriffe haben keine Merkmale außer diesen Beziehungen oder vielmehr unseren Gedankenvorstellungen von ihnen. In der Tat kann ein Gegenstand nicht anders gekannt und begriffen werden als ein Komplex solcher Beziehungen.«
Der französische Physiker und Mathematiker Henri Poincaré hat im Jahre 1904 in seinem Werk »Wissenschaft und Hypothese« (Poincaré 1904) ähnliches formuliert: die »wirklichen Objekte wird die Natur uns ewig verbergen; die wahren Beziehungen zwischen diesen wirklichen Objekten sind das einzig Tatsächliche, welches wir erreichen können«.
Der Philosoph John Worrall hat das 1989 (Worrall 1989) aufgegriffen und hat diese Erkenntnis zur Grundlage einer definierten Position in der Erkenntnistheorie gemacht, die heute als Strukturenrealismus in der Philosophie bekannt ist. Dabei gibt es ontische Versionen, epistemische und auch radikal epistemische Versionen. In Einführungen in die Naturphilosophie werden diese ausgiebig behandelt, (siehe z. B. (Esfeld 2011, S. 68 ff.)). Hier, in diesem Buch soll darüber diskutiert werden, wieviel man im Lichte der Quantenmechanik dazu sagen kann.
Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, ob ein Merkmal zeitabhängig ist oder nicht. In unserem Alltag ist eigentlich alles zeitabhängig, mehr oder weniger deutlich beobachtbar. Auch Sterne und Galaxien entstehen und vergehen. Ob man aber die Zeitabhängigkeit bei einer Beschreibung eines Verhaltens in Rechnung stellen sollte, hängt aber ganz davon ab, wie stark sich die Zeitabhängigkeit in dem Zeitraum ändert, in dem man das Phänomen beschreiben oder erklären will.
Besonders prominente zeitabhängige Merkmale in der Physik sind »Ort« und »Geschwindigkeit«. Diese standen im Zentrum der Naturphilosophie zuzeiten Galileis am Anfang des 17. Jahrhunderts. Von ihm haben wir erst gelernt, dass die Geschwindigkeit eine zweistellige Relation ist, d. h. immer nur in Bezug auf Bezugspunkt zu verstehen ist. Mit der von René Descartes entwickelten Analytischen Geometrie konnte man schließlich im Rahmen der Mathematik Ort und Geschwindigkeit als zweistellige zeitabhängige Relationen beschreiben. Das war eine Grundvoraussetzung dafür, dass den ersten Schritten Galileis in eine moderne Physik weitere bedeutende Fortschritte von Newton folgen konnten. Im nächsten Kapitel soll das weiter ausgeführt werden.
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