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Bioökonomie: Nahrungsmittelsicherheit und gesunde Ernährung

Ohne den Anspruch zu erheben, das Thema Ernährung umfassend zu diskutieren, beleuchtet dieses Kapitel die wesentlichen Formen und Folgen von Fehlernährung. Es zeigt ferner auf, wie sich die globale Nahrungsmittelproduktion effizienter gestalten ließe und die zum Teil sehr hohen Nahrungsmittelverluste verringert werden könnten.
Reisfeld

Die Biomasse, auf deren stofflicher und energetischer Nutzung die Bioökonomie beruht, muss primär der Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung zugutekommen. Nur dann kann die Bioökonomie zum Erreichen der 2015 verabschiedeten Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen beitragen. Innerhalb der nächsten 50 Jahre muss so viel Biomasse für Nahrungsmittel produziert werden wie in der gesamten bisherigen Menschheitsgeschichte. Nahrungsmittelsicherheit ist jedoch nicht allein von der Biomasseproduktion abhängig, sondern umfasst viele systemisch miteinander verknüpfte gesundheitliche, ökonomische und soziale Aspekte. Ohne den Anspruch zu erheben, das Thema Ernährung umfassend zu diskutieren, beleuchtet dieses Kapitel die wesentlichen Formen und Folgen von Fehlernährung. Es zeigt ferner auf, wie sich die globale Nahrungsmittelproduktion effizienter gestalten ließe und die zum Teil sehr hohen Nahrungsmittelverluste verringert werden könnten.

»Food first« ist inzwischen eine weltweit anerkannte Regel in der Bioökonomieforschung und -anwendung. Dies war nicht immer so, und auch die Einschätzung, wie diese Regel umgesetzt werden soll, unterliegt sehr unterschiedlichen Interpretationen. Einen Meilenstein in der globalen Diskussion stellt dabei sicherlich das Communiqué des »Global Bioeconomy Summit« dar, der 2015 die Rolle der Bioökonomie speziell für eine nachhaltige Entwicklung hervorgehoben hat (GBS 2015). Das Communiqué leitet die Bedeutung der Bioökonomie im Wesentlichen daraus ab, dass sie ein Instrument zum Erreichen der ebenfalls 2015 verabschiedeten Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen sein kann (United Nations 2015). Der zentrale Treiber hinter allen Herausforderungen, die mit der nachhaltigen Bioökonomie verbunden sind, ist der massive Anstieg der Weltbevölkerung in den vergangenen Jahrzehnten und die Prognose, dass im Jahr 2050 10 bis 12 Mrd. Menschen unseren Planeten bevölkern werden (Kap. 1). Das macht zuallererst die ausreichende Bereitstellung von Nahrungsmitteln notwendig.

Nahrungssicherheit ist aber nicht nur über die Verfügbarkeit von ausreichend Biomasse zur Ernährung der Bevölkerung zu erreichen. Vielmehr hat der »World Food Summit« 2009 definiert, dass »Nahrungssicherheit besteht, wenn alle Menschen zu allen Zeiten physikalischen, sozialen und ökonomischen Zugang zu ausreichenden, sicheren und nährstoffreichen Nahrungsmitteln haben und damit ihre Nahrungsgewohnheiten und Präferenzen befriedigen können, die nötig sind, um ein aktives und gesundes Leben zu führen« (FAO 2009). In dieser Definition wird sehr plastisch ausgeführt, dass Nahrungsmittelsicherheit nicht allein von der reinen Primärproduktion abhängt, sondern viele gesundheitliche, ökonomische und soziale Aspekte umfasst und deshalb nach systemischen Lösungen verlangt. Gleichzeitig zeigt diese Definition bereits Bruch- und Konfliktlinien an. So ist beispielsweise ethisch zu hinterfragen, wie bei knappen Nahrungsmittelressourcen unterschiedlich ressourcenintensive Nahrungsgewohnheiten zu werten und gegebenenfalls miteinander in Einklang zu bringen sind. Dieses Kapitel kann deshalb gar nicht den Anspruch erheben, das Thema Ernährung umfassend zu diskutieren. Sein Ziel ist vielmehr, wesentliche Elemente des Themas Ernährung im Rahmen einer nachhaltigen Bioökonomie zu beleuchten und zum weiteren Nachdenken und Lesen anzuregen.

3.1 Formen und Folgen von Fehlernährung

Die Vielfalt der Themen, die mit Nahrungssicherheit und Fehlernährung zusammenhängt, wird im jährlichen Global Nutrition Report von einer internationalen, unabhängigen Expertengruppe mit Unterstützung des »International Food Policy Research Institute« (IFPRI) zusammengestellt (Cappacci et al. 2013). Generell kann man drei Formen der Fehlernährung unterscheiden:

  • Unterernährung durch zu geringe Aufnahme von Kalorien,
  • Mangelernährung mit essenziellen Nährstoffen,
  • Überernährung und Fettleibigkeit.

Der Global Nutrition Report 2016 weist aus, dass derzeit weltweit etwa 800 Mio. Menschen an Unterernährung durch zu geringe Kalorienaufnahme leiden, 2 Mrd. Menschen Mangelerscheinungen durch mangelnde Versorgung mit Vitaminen und Mikronährstoffen gesundheitlich beeinträchtigt sind und gleichzeitig 1,9 Mrd. Menschen übergewichtig sind. Dabei führt Mangelernährung insbesondere bei Kindern in der Wachstumsphase zu Schäden, die lebenslange Folgen haben. 2016 gab es weltweit 161 Mio. Kinder, die chronisch unterernährt waren und gleichzeitig – mit steigender Tendenz – 42 Mio. Kinder mit Fettleibigkeit (Abb. 3.1, in dieser Leseprobe nicht enthalten).

Die globale Verteilung der Fehlernährung ist dabei alarmierend: Unterernährung ist weiterhin eng mit Armut verknüpft. Länder wie Indien und viele afrikanische Länder, in denen sich ein Großteil der Zunahme der Weltbevölkerung in den kommenden Jahrzehnten abspielen wird, sind besonders betroffen. Gleichzeitig nimmt die Übergewichtigkeit in allen Ländern der Erde massiv zu, so dass teilweise in denselben Ländern alle drei Kategorien der Fehlernährung gleichzeitig auftreten (interaktive Grafiken zu allen erfassten Ländern hierzu finden sich online im jährlich erscheinenden Global Nutrition Report des International Food Policy Research Institute [IFPRI]).

3.1.1 Unterernährung

Schon in der Vergangenheit hat die Weltgemeinschaft sich das Ziel gesetzt, den Hunger zu beenden. Allerdings ist dieses Teilziel der so genannten Millenium Goals, wonach die Anzahl der hungernden Menschen bis zum Jahr 2015 (Zieljahr) relativ zu 1991 (Bezugsjahr) halbiert werden sollte, nicht erreicht worden (Abb. 3.2, in dieser Leseprobe nicht enthalten). Insgesamt verringerte sich die Anzahl der unterernährten Menschen zwar sehr signifikant, allerdings blieben 300 Mio. mehr Menschen unterernährt als im Ziel vorgegeben. Das ist vor allem auf die zwischen 1991 und 2015 um 2 Mrd. Menschen angestiegene Weltbevölkerung zurückzuführen, womit die Maßnahmen zur Bekämpfung des Hungers nicht Schritt halten konnten (FAO 2015). Auch sind erhebliche regionale Unterschiede bei der Bekämpfung des Hungers zu verzeichnen. Während in Asien und Lateinamerika eine signifikante Abnahme der absoluten Anzahl an Menschen mit Unterernährung beobachtet wurde, stieg ihre Zahl gegen den Trend vor allem in Afrika um weitere 50 Mio. an (FAO 2015).

Hier zeigt sich sehr deutlich der Zusammenhang zwischen ökonomischer Entwicklung und Fehlernährung der Bevölkerung in Regionen und Ländern. Dem weiter interessierten Leser seien insbesondere die interaktiv dargestellten Statistiken von Gap Minder empfohlen, in denen auch deutlich wird, mit welcher Dynamik sich die heutige Situation historisch entwickelt hat (Gap Minder; Abb. 3.3, in dieser Leseprobe nicht enthalten).

3.1.2 Unterversorgung mit Mikronährstoffen und Vitaminen

Die Unterversorgung mit Mikronährstoffen und Vitaminen betrifft derzeit fast 2 Mrd. Menschen und damit mehr als ein Viertel der Menschheit. Die Ursachen sind vielfältig und oft lokal oder regional begründet. Während Mangelernährung generell immer von einer Unterversorgung mit Mikronährstoffen und Vitaminen begleitet wird, leitet sich der darüber hinausgehende Mangel an Zink, Eisen, Jod und Selen sowie vor allem an Vitamin A aus der inhaltlichen Zusammensetzung der Ernährung der Menschen ab. Auch häufig vorkommende Krankheiten wie vor allem Durchfallerkrankungen verringern die effektive Verfügbarkeit von essenziellen Nährstoffen – mit drastischen Konsequenzen für Kinder, die sich in der Wachstumsphase befinden. Auch hier sind die Schwerpunkte in Afrika und Südostasien angesiedelt (Muthayya et al. 2013). Bei Mangelernährung mit Mikronährstoffen sind Anämien und verringertes Wachstum die Hauptsymptome, während Vitamin-A-Mangel das Immunsystem schwächt und in schweren Fällen zu Erblindung, Schädel-, Skelett- und anderen Fehlbildungen mit lebenslangen Konsequenzen führt. Im Jahr 2010 wurde der Tod von 10 Mio. Kindern dem Vitamin-A-Mangel zugeschrieben.

Exkurs 3.1: Das »Golden Rice«-Projekt

Vitamin-A-Mangel ist besonders in denjenigen Regionen der Welt verbreitet, in denen Reis einen wesentlichen Teil der Ernährung ausmacht. Im Reiskorn ist die Konzentration von Vitamin A sehr gering, weil dem Reiskorn die metabolische Fähigkeit fehlt, die Vorstufe des Vitamin A zu bilden. Als Ausweg wurden seit etwa 1990 Projekte vorangetrieben, dem Reis durch transgene Ansätze die Fähigkeit zu verleihen, im Korn Vitamin-A-Vorstufen herzustellen. Dies gelang im Jahr 2000 durch die Einführung von zwei zusätzlichen Genen aus Pflanzen und Bakterien (Ye et al. 2000). Dadurch entstanden Reispflanzen, die Provitamin A produzieren. Diese Eigenschaft wurde auch in Sorten überführt, die in Ländern mit starkem Vitamin-A-Defizit hauptsächlich zur Ernährung verwendet werden. Durch weitere gentechnische Maßnahmen wurde der Gehalt an Karotinoiden im Reis so weit gesteigert, dass ein signifikanter Beitrag zur Vitamin-A-Versorgung geleistet werden könnte, wie inzwischen auch in Feldtests nachgewiesen wurde. Parallel dazu wurden die Patentrechte inklusive der Vorläuferpatente so geregelt, dass Züchtern aus Entwicklungsländern freier Zugang zu dieser Technologie möglich ist. Trotz dieser Erfolgsgeschichte ist bis heute noch kein Golden Rice auf dem Markt, weil Einsprüche und rechtliche Verfahren seine Zulassung bislang verhindern. Im Juli 2016 haben deshalb 110 Nobelpreisträger und mehrere tausend Wissenschaftler Nichtregierungsorganisationen (insbesondere Greenpeace) aufgefordert, ihren Widerstand gegen das »Golden Rice«-Projekt fallen zu lassen.

3.1.3 Übergewichtigkeit

Nach Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat sich das Syndrom der Übergewichtigkeit seit 1980 mehr als verdoppelt. 2014 waren demnach mehr als 1,9 Mrd. Erwachsene übergewichtig (Body Mass Index, BMI > 25), davon mehr als 600 Mio. fettleibig (BMI > 30) (Abb. 3.4, in dieser Leseprobe nicht enthalten). Nach dieser Studie sind auch 41 Mio. Kinder unter fünf Jahren bereits fettleibig. War Fettleibigkeit früher ein Phänomen in industrialisierten Staaten, ist sie heute zunehmend auch in Schwellen- und Entwicklungsländern zu beobachten. Das betrifft nicht nur Erwachsene, sondern vor allem auch Kinder. So hat sich die Anzahl übergewichtiger und fettleibiger Kinder in Afrika von 1990 bis 2014 nahezu verdoppelt. Überernährung wird vor allem auf geänderte Ernährungs- und Lebensgewohnheiten zurückgeführt. Hierbei wirken eine übermäßige Kalorienaufnahme durch stark erhöhte Verfügbarkeit von Fetten und Kohlenhydraten einerseits und eine vermehrt bewegungsarme Lebensweise anderseits unheilvoll zusammen.

Die Folgen sind vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Arthrose. Auch einige Krebsarten sind mit Überernährung korreliert. Weltweit sind heute laut WHO mehr Todesfälle auf Fettleibigkeit und Übergewicht zurückzuführen als auf Unterernährung; eine Ausnahme stellen in dieser Hinsicht nur noch die Staaten südlich der Sahara dar. Die WHO hat zur Bekämpfung von Ernährungsmängeln und ihrer Folgen bereits 2003 die »Globale Strategie zu Ernährung, physischer Aktivität und Gesundheit« initiiert und einige Empfehlungen herausgegeben. Sie betont in ihren Publikationen die Notwendigkeit, dass jedes Individuum ebenso wie die Ernährungsindustrie und die Politik Verantwortung übernehmen muss. Denn Ernährungsmängel sind auch stark in individuellem Verhalten, kulturellen Rahmenbedingungen, Nahrungs- und Bewegungsgewohnheiten, Nahrungsangebot (und dessen Zusammensetzung und Bereitstellung unter anderem durch die Lebensmittelindustrie) sowie durch politische Vorgaben (Regulierung) begründet. Im Jahr 2013 veröffentlichten »Global Action Plan for Prevention and Control of Non-Communicable Disease« (WHO 2013) sind globale und nationale Ziele formuliert, um Erkrankungen zu reduzieren, die mit mangelhafter Ernährung zusammenhängen. Daraus sind zahlreiche Dokumente und Beschlüsse auf politischer Ebene entstanden, die Ernährung und Bewegungsverhalten adressieren; unter anderem auch die 2015 verabschiedete »Strategie der Europäischen Region der WHO zur Bewegungsförderung (2016–2025)«, die 2015 auch von den europäischen Gesundheitsministern beschlossen wurde.

Literatur

Capacci S, Mazzocchi M, Shankar B, Traill B (2013) The triple burden of malnutrition in Europe and Central Asia: a multivariante analysis
Google Scholar

FAO (2015) The State of Food Insecurity in the World. FAO, Rome
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Muthayya S, Rah JH, Sugimoto JD, Roos FF, Krämer K et al. (2013) The global hidden hunger indices and maps: an advocacy for action. PLOS ONE 8(6).
http://dx.doi.org/10.1371/journal.pone.0067860

United Nations (2015) Sustainable Development Goals.
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WHO (2013) GLOBAL STATUS REPORT on noncommunicable diseases 2014.
http://www.who.int/nmh/events/ncd_action_plan/en

Ye X, Al-Babili S, Klöti A, Zhang J, Lcca P, Beyer P, Potrykus I (2000) Engineering the Provitamin A (beta-Carotine) biosynthstic pathway into (caroteinoid-free) rice endosperm. Science 287:303–305
CrossRefPubMedGoogle Scholar

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