Pi und Co.: Die pure Eleganz der Mathematik
Wie allgemein bekannt, unterscheiden sich Mathematiker erheblich von der Mehrheit ihrer Mitmenschen. Man braucht nur einige von Enzensbergers Gedichten zu lesen, in denen er staunend feststellt, dass sie (die Mathematiker) sich vornehmlich in gekrümmten Räumen aufhalten und ohne weiteres Links- mit Rechtsidealen vertauschen, ganz zu schweigen von Unterkörpern, die für sie etwas ganz anderes bedeuten, als der unbefangene Beobachter meinen könnte.
Hier wollen wir uns mit einem weiteren Unterschied befassen, der geradezu mitten ins Leben greift. Während sich die Mehrheit über die wirklich wichtigen Dinge wie Mülltrennung oder Zahnpflege einig ist, sich aber über künstlerische Dinge lustvoll auseinander setzt (der Volksmund sagt bekanntlich: Über Geschmack lässt sich nicht streiten – und meint natürlich das Gegenteil), so ist das in der mathematischen Welt genau umgekehrt. Spätestens seit Plato stehen sich Platonisten und Formalisten ideologiebewehrt gegenüber; der Disput, ob mathematische Gesetze entdeckt oder erfunden werden, ist ein Dauerbrenner; und die Frage über den Primat von reiner versus angewandter Mathematik kann ganze Institute in Aufregung versetzen. Aber wenn sich zwei Mathematiker über ein Blatt Papier beugen und der eine sagt: »Das ist ein ausgesprochen eleganter Beweis!«, kann er sich der Zustimmung seines Kollegen sicher sein. Über Schönheit und Eleganz von mathematischen Formeln, Sätzen und insbesondere Beweisen gibt es keinen Disput, da sind sich alle einig.
»[…] es ist durchaus kein Zufall, dass den meisten Mathematikern ästhetische Kriterien nicht fremd sind. Es genügt ihnen nicht, dass ein Beweis stringent ist; ihr Ehrgeiz zielt auf ›Eleganz‹.«
H. M. Enzensberger
Aber was ist nun Eleganz in der Mathematik? Merkwürdigerweise lässt sich darüber bei den Großschreibern der Zunft nichts erfahren (wohl aber über Schönheit, wie wir gleich sehen werden). Ich will die Leser ein wenig in die mathematische Welt verführen, eine ganz persönliche Definition von Eleganz vorschlagen und sie mit einigen klassischen Beispielen illustrieren.
Vom Schönen und Wahren
Als 1995 Andrew Wiles das berühmteste offene mathematische Problem, die Fermat’sche Vermutung, bewies, war dies allen Zeitungen eine Schlagzeile auf Seite eins wert. In einer überregionalen Zeitung stand zu lesen: »Rechenkünstler aus Cambridge löste 350 Jahre altes mathematisches Rätsel«. Die virtuose Abfolge von logischen Schlüssen und Strukturaussagen in der Arbeit von Wiles als Rechnen zu bezeichnen könnte der Wahrheit nicht ferner sein. Aber offenbar ist es allgemeine Ansicht, dass ein Mathematiker jemand ist, der 99 Formeln durcheinander mischt und daraus eine 100. Formel gebiert.
Was einige der größten Mathematiker dazu meinen, hört sich anders an. Aristoteles schreibt in seiner »Metaphysik«: »Insbesondere die mathematischen Wissenschaften drücken Ordnung, Symmetrie und Beschränkung aus – und dies sind die höchsten Formen der Schönheit.« Johannes Kepler, der ohnehin zum Schwärmen neigte, war hingerissen von den ›goldenen‹ Proportionen der Mathematik. Henri Poincaré postulierte den erstaunlichen Satz: »Das Ästhetische mehr als das Logische ist die dominierende Komponente in der mathematischen Kreativität.« G. H. Hardy, ein Meister der Zahlentheorie, die notorisch komplizierte Formeln hervorbringt, merkte mit untypischem britischen Overstatement an: »There is no permanent place for ugly mathematics!« Ich hoffe, Ihre Sicht des Mathematikers als rigorosem Rechenmeister endgültig erschüttert zu haben, wenn ich den Physiker Paul Dirac zitiere: »Es ist wichtiger, dass eine Gleichung schön ist, als dass sie mit dem Experiment übereinstimmt.« Am prägnantesten beschreibt diese Gegenwart des Schönen vielleicht Hadamard in seiner »Psychology of Invention«: »Das mathematische Genie offenbart sich in zwei Weisen; es wählt mit untrüglicher Sicherheit unter einer Vielzahl von Alternativen die einzig richtige, und es wird dabei geleitet von der Idee des Vollkommenen, einer Ahnung vom Paradies, vom ewig Gültigen.«
Man sollte nun nicht meinen, die Mathematiker hät- ten sich in ihren Meta-Schriften nur mit dem Schönen beschäftigt – ganz im Gegenteil. In der Hauptsache geht es um Mathematik als Denkmodell, als Abbild der Wirklichkeit, kurz: um Erkenntnis und Wahrheit. Derselbe Poincaré schreibt in seinen »Letzten Gedanken« sinngemäß: Wissenschaft ist der Drang nach Wahrheit auf sittlicher Basis. Wittgenstein betont die kategorische Strenge der Logik, und Popper führte das masochistische Prinzip in die Wissenschaft ein: Eine Theorie ist nur dann etwas wert, wenn sie falsifizierbar ist. Man liest Sätze wie: »Nur der Nutzen adelt die Erkenntnis«, »Mathematik ist Humanismus«, und in dem vielleicht besten neueren Buch »Erfahrung Mathematik« von Davis und Hersh sind ganze vier von 400 Seiten Fragen der Ästhetik gewidmet.
Auch wenn der ästhetische Aspekt in den Hintergrund tritt, scheint er ein einigendes Band zu sein. Wenn ein Gutachter die bedeutenden Anwendungen einer mathematischen Arbeit herausstellt, so wird der Autor erfreut sein; schreibt er aber in seinem Referat: »The beauty of the theorem is matched by the elegance of its proof«, so kann er sich der Rührung und des ewigen Dankes des Verfassers sicher sein.
Das Buch der Beweise
Legenden werden üblicherweise nach dem Tod gestrickt. Entstehen sie zu Lebzeiten, so muss es sich um einen außergewöhnlichen Menschen handeln – und der ungarische Mathematiker Paul Erdös war solch eine Jahrhunderterscheinung. Er war der produktivste Mathematiker der jüngeren Geschichte mit über 1500 Veröffentlichungen. Unermüdlich reiste er von Kontinent zu Kontinent, die eine Woche in Jerusalem, dann in den USA, und nächsten Monat war ein Touch-down in Berlin fällig. Mit seinem einen Koffer in der Hand war seine Begrüßung zugleich sein Motto: »My brain is open.« Gleichermaßen großzügig im Leben wie in der Wissenschaft, verschenkte er nicht nur die meisten seiner vielen Preisgelder, sondern teilte auch seine Ideen und Geistesblitze mit jedem, der sie hören wollte. Er lebte für die und in der Mathematik. Es gibt zahllose Anekdoten über Erdös, die folgende hat den Vorzug, wahr zu sein, weil ich selber dabei war. Eines Abends gegen 22 Uhr saßen wir zu dritt in New York über einem Problem, besser gesagt: Wir saßen fest und kamen nicht weiter. Plötzlich sagte Erdös: »Am besten, wir rufen meinen Freund Davenport in Cambridge an, der kann uns bestimmt weiterhelfen.« – »Aber«, so wandte ich ein, »in Cambridge ist es jetzt 4 Uhr morgens.« Darauf Erdös: »Na umso besser, dann ist er sicher zu Hause.«
Manche Beweise sind wunderschön, sie haben nur den kleinen Makel, dass sie falsch sind. Wieder andere sind richtig, aber hässlich.
Ein immer wiederkehrendes Diktum von Paul Erdös führt geradewegs zu unserem Thema. Manche Beweise, erzählte er, sind wunderschön, sie haben nur den kleinen Makel, dass sie falsch sind. Wieder andere sind richtig, aber hässlich. Aber, so war er überzeugt, für jeden mathematischen Satz gibt es »den« Beweis, und mehr noch: Es gibt das BUCH, in dem der liebe Gott die perfekten Beweise aufbewahrt. Und er fügte hinzu: »Man muss nicht an Gott glauben, aber als Mathematiker sollte man an die Existenz des Buches glauben.« Mitte der neunziger Jahre schlugen Günter Ziegler und ich ihm vor, gemeinsam eine erste (und sehr bescheidene) Annäherung an das BUCH aufzuschreiben. Erdös hat die Idee enthusiastisch aufgegriffen, die Fertigstellung von »Proofs from the BOOK« aber nicht mehr erlebt. Wahrscheinlich wäre er weniger als wir über die überwältigende Resonanz auf das BUCH überrascht gewesen. Mathematiker sind in der Mehrzahl introvertierte Menschen. Die ungezählten Zuschriften, die wir erhielten, mit Vorschlägen, Korrekturen, eigenen Erlebnissen und viel Zustimmung, kommen daher einem veritablen Gefühlsausbruch gleich. Das BUCH hatte offenbar eine Saite zum Schwingen gebracht, die jedem mathematischen Instrument zu Eigen ist – mit Eleganz als gemeinsamer Grundstimmung.
Die Leichtigkeit des Augenblicks
Das Wesen der Mathematik ist das Beweisen von Sätzen – und das ist es, was Mathematiker tun: Sie beweisen Sätze. Aber, um ehrlich zu sein, was sie wirklich beweisen wollen, wenigstens einmal in ihrem Leben, ist ein Lemma, wie das Lemma von Fatou in der Analysis oder das von Gauß in der Zahlentheorie. Mit fast jedem berühmten Namen ist solch ein Lemma verbunden – das Wort hat für Mathematiker-Ohren einen fast mythischen Klang.
Nun, wann wird eine mathematische Aussage ein wirkliches Lemma? Zunächst sollten die Aussage (und der Beweis) vollkommen transparent sein: Das Komplexe wird einfach und folgerichtig, und man weiß: That’s it! Auch ein akuter Anfall des Livor academicus (einer besonders häufigen Form des gemeinen Neides) ist denkbar: Warum habe ich das nicht gesehen? Zweitens sollte der Satz stringent sein (oder im mathematischen Jargon: tief ). Der Beweis zeigt auf, worauf es wirklich ankommt; er hat vielfältige Anwendungen, sogar auf Probleme, die nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Und schließlich sollte ein Moment der Leichtigkeit vorliegen. Jeder Wissenschaftler hat einen Sack voll Methoden, den er immer wieder öffnet (von manchen, auch prominenten, heißt es, sie hätten mit nur einer Idee ganze Disziplinen beherrscht). Aber es gibt diese Ausnahmekönner, die ein Problem der Algebra mit Methoden der Topologie lösen und umgekehrt, die uns zeigen, dass die Mathematik in all ihrer Vielfalt eine wunderbare Einheit bildet, die uns die Leichtigkeit des Denkens für einen Augenblick erahnen lässt. Transparenz, Stringenz und Leichtigkeit bilden also den Dreiklang eines eleganten Beweises.
Als 1976 das berühmte und seit 100 Jahren offene Vier-Farben-Problem mit enormem Computereinsatz gelöst wurde, zog dies eine bis heute andauernde Kontroverse nach sich: Ist solch ein Beweis akzeptabel? Ein computergestützter Beweis derartiger Länge ist für den, der nicht über ähnliche Rechnerkapazität verfügt, nicht nachzuprüfen. Er ist, überspitzt formuliert, mehr eine Glaubenssache als ein mathematisches Faktum. Solche Einwände sind heute, auch aufgrund gestiegener Rechenleistung, nicht wirklich relevant. Der Computer macht nichts anderes als die Mathematiker mit Bleistift und Papier: Er geht Schritt für Schritt voran, bis das Resultat vorliegt. Aber das ist genau der springende Punkt: Ein Computer-Beweis ist weder transparent noch von Leichtigkeit beseelt, aber vor allem lehrt er uns nichts. Er zerhackt das Problem in endlich viele Einzelfälle und schließt dann einen Fall nach dem anderen aus, kurz: Er erschlägt den Satz, statt ihn zu erklären.
Ein Computer-Beweis ist weder transparent noch von Leichtigkeit beseelt, aber vor allem lehrt er uns nichts.
Der Physiker Eugene Wigner wird oft mit dem Wort von der »unreasonable effectiveness of mathematics« zitiert. Bescheidener drückt dies Erwin Schrödinger aus: »Ob die Natur nach mathematischen Gesetzen funktioniert, wissen wir nicht, aber wir haben vorläufig nichts Besseres.« Ich möchte Wigners Bonmot mit dem Satz von der ›unreasonable beauty of mathematics‹ ergänzen. »Die schöne Formel ist oft nahe an der wahren Natur, und der elegante Beweis ist oft auch derjenige, der uns den größten Erkenntnisgewinn beschert.«
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