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Polyneuropathie: Hellhörig werden: Frühwarnsignale und Symptome

Nicht jedes Kribbeln in den Beinen und nicht jede Bewegungs- oder Gleichgewichtsstörung muss auf Polyneuropathie zurückzuführen sein. Manche der in den vorherigen Kapiteln beschriebenen Symptome können auch andere Ursachen haben. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie zu ignorieren sind, selbst wenn sie selten auftreten.
einzelne Nervenzelle, rechts Zellkörper und Dendriten

Es gilt der Grundsatz: Je eher erkannt, desto besser die Chancen auf Linderung und Heilung. Und dies trifft bekanntlich auf alle Krankheiten zu. Daher ist Selbstbeobachtung sehr wichtig, wenn der Körper in bestimmten Situationen andere Signale als bisher aussendet. Welche das sein können und wie wichtig das aufmerksame In-Sich-Hineinhören ist, wird in diesem Kapitel veranschaulicht.

Warum Polyneuropathie oft erst späterkannt wird

Auf plötzlich auftretende Schmerzen, seien es Beschwerden in der Wirbelsäule, starke Übelkeit oder Zahnschmerzen, reagieren wir zumeist rasch und suchen baldige Hilfe beim Arzt. Anders verhalten wir uns im Fall von Nervenschmerzen, die sich nur in selteneren Fällen abrupt durch starke Missempfindungen äußern. Die schleichende Zunahme der Beschwerden führt dazu, dass Betroffene oft erst nach Jahren ärztliche Hilfe suchen. Manchmal werden Symptome, die sich letztlich als Polyneuropathie entpuppen, nur nebenbei im ärztlichen Gespräch erwähnt. Zumeist ist dieser anfänglich konsultierte Arzt auch kein Facharzt für Neurologie, sondern oft der Hausarzt, ein Orthopäde oder ein Gefäßspezialist. Häufig wird der Patient also primär im Hinblick auf andere Erkrankungen, die möglicherweise zusätzlich vorliegen, untersucht. Da die meisten Polyneuropathien einen langsamen, oft über Jahre, bisweilen auch Jahrzehnte reichenden Verlauf haben, kann wertvolle Zeit verstreichen, bis die Überweisung zum Neurologen erfolgt.

4.1 Wie Patienten die Symptome selbst schildern

Meine klare Empfehlung an Betroffene lautet daher: Mehr in den eigenen Körper hineinhören und Missempfindungen oder Schmerzen, die man früher nicht hatte, genauer zu beobachten. Als Orientierungshilfe führe ich nachstehend so genau wie möglich jene typischen Beschwerden an, wie sie mir von Patienten selbst immer wieder beschrieben werden

So schildern Patienten Störungen ihrer Sinnesempfindungen

Besonders vielfältig werden die sensiblen Symptome geschildert:

»Ab und zu ein gewisses Taubheitsgefühl in den Füßen. Man nimmt die Berührung zwar wahr, aber sie fühlt sich an, als käme sie aus dem eigenen Fuß und ist auch noch eine Zeitlang nach dem Kontakt spürbar.«

»Kribbelgefühle, als würden Tausende Ameisen durch den Fuß oder das Bein laufen.«

»Ziehende Schmerzen in Zehen und im Fußballen, vor allem in der Nacht.«

»Die Füße fühlen sich kalt an, obwohl sie bei Überprüfung durch jemand anderen als ausreichend warm beschrieben werden. Und umgekehrt: Die Füße werden als unangenehm heiß empfunden, obwohl sie in Wirklichkeit kalt oder normal temperiert sind.«

»Die Füße sind so überempfindlich geworden, dass das Barfußgehen weh tut. Auch bequeme Schuhe erzeugen in letzter Zeit einen schmerzhaften Druck.«

»Nach längerem Gehen fühlen sich die Füße vorne wie taub an.«

»Bei längerem Liegen im Bett fangen die Füße immer mehr zu brennen an, was extrem unangenehm ist und einen nicht mehr weiterschlafen lässt. Auch die bloße Berührung der Bettdecke löst schmerzende Hitzegefühle oder Stechen aus.«

Bei vielen Betroffenen treten einerseits verstärkte Taubheitsgefühle in den Füßen auf, andererseits werden jedoch schon leichte Berührungen als unangenehm oder schmerzhaft empfunden. Dieser Widerspruch ist leider typisch für Polyneuropathie.

So schildern Patienten ihre Bewegungsprobleme

Auch die motorischen Symptome können sich sehr unterschiedlich äußern:

»In Füßen, Waden oder Oberschenkeln treten immer öfter sehr schmerzhafte Muskelkrämpfe auf.«

»Wanderungen sind fast nicht mehr möglich, da die Kontrolle der Beine eingeschränkt ist.«

»Übungen, die früher in Turnstunden keine Probleme bereitet haben, sind jetzt einfach nicht mehr möglich, weil die Muskeln so schwach sind.«

»Die Zehen lassen sich nicht mehr richtig spreizen.«

»Beim Gehen lässt sich der Vorfuß nicht mehr richtig anheben, daher sieht der Gang so merkwürdig aus.«

»Die Finger oder der Fuß lassen sich nicht mehr richtig bewegen.«

»Das Aufstehen aus dem Sessel wird immer schwerer.«

»Das Zuknöpfen des Hemdes oder der Hose wird immer schwieriger, da kein richtiges Gefühl in den Händen mehr da ist.«

4.2 Wie sich die Beschwerden noch äußern können

Achtung: Häufiges Stolpern kann ein Warnsignal sein!

Den vielfältigen Arten und unterschiedlichen Verteilungen der Gefühlsstörungen können relativ bald Veränderungen der Gangsicherheit folgen: Man nimmt den Boden nicht mehr so wahr wie früher und merkt eine gewisse Instabilität beim Gehen, vor allem bei Dunkelheit. Auch das Gehen auf schmalen Wegen, welches eine höhere Anforderung an das Gleichgewicht stellt, kann erschwert sein. Manchen Patienten wird oft erst nach der Diagnosestellung klar, weshalb sie so häufig stolpern oder mit den Füßen »hängen bleiben«.

Für spezielle Formen der Polyneuropathie (z.B. Guillain-Barré-Syndrom) ist es allerdings typisch, dass die Erkrankung gleich zu Beginn mit markanten Symptomen beginnt. Bewegungseinschränkungen können ohne spezielle Frühwarnsignale plötzlich einsetzen und sich auch rasch, manchmal bis zur Gehunfähigkeit, verschlechtern

Das Gefühl, vorübergehend den Boden unter den Füßen zu verlieren

Neben den verschiedenen Formen der Gangstörung treten bei manchen Patienten auch Beschwerden auf, die scheinbar so gar nichts mit Polyneuropathie zu tun haben. Als Beispiel seien hier etwa Schwindelgefühle, insbesondere Schwankschwindel, genannt: Betroffene haben das Gefühl, vorübergehend den Boden unter den Füßen zu verlieren oder sie nehmen ihre Umgebung als »taumelnd« wahr.

Über manche vegetativen Symptome der Polyneuropathie sprechen Patienten üblicherweise nicht gerne oder sie bringen die Beschwerden gar nicht damit in Verbindung. Nicht immer, aber relativ oft sind diese für den Betroffenen sehr unangenehmen Störungen leider ebenfalls auf diese Erkrankung zurückzuführen.

Krankhaftes Schwitzen, häufiger Durchfall, aber auch Verstopfung können Hinweise sein

Dazu zählt einerseits krankhaft verändertes Schwitzen. Dieses kann sich sowohl als gesteigerte als auch als verminderte Schweißbildung oder durch fleckförmiges Schwitzen mit teilweise sehr trockenem Hautgefühl bemerkbar machen.

Auch beginnende, nur fallweise auftretende Harn- oder Stuhlinkontinenz kann ein Frühwarnsignal sein und sollte im eigenen Interesse rasch abgeklärt werden.

Ständiger Durchfall und Gewichtsverlust weisen darauf hin, dass die Nahrung zu schnell durch den Verdauungstrakt transportiert wird. Umgekehrt können regelmäßige Schluckbeschwerden, Völlegefühl, Blähungen und Stuhlverstopfung auch auf Polyneuropathie zurückzuführen sein.

Diabetes kann auch die Nerven im Genitalbereich schädigen.

Polyneuropathie zeigt sich auch häufig durch Beeinträchtigungen unserer Sexualorgane. So sind etwa erstmalige Erektionsstörungen oder Gefühlsstörungen (zu geringes oder zu schmerzhaftes Empfinden) im Rahmen des Geschlechtsverkehrs möglicherweise Symptome von (diabetischer) Polyneuropathie. Männer mit Diabetes leiden doppelt so oft an Erektionsstörungen wie Nicht-Diabetiker. Allerdings können die Nervenschädigungen auch auf Durchblutungsstörungen, psychische Ursachen oder auf Nebenwirkungen von Medikamenten zurückgehen, weshalb genaue Untersuchungen unverzichtbar sind.

Bei zuckerkranken Frauen kann eine Nervenschädigung im Genitalbereich nachlassende oder fehlende sexuelle Lust sowie ausbleibenden oder schmerzhaften Orgasmus bewirken. Während einem Großteil der betroffenen Männer mit den heute verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten geholfen werden kann, steht für Frauen leider noch keine wirksame medikamentöse Therapie zur Auswahl.

Je offener Sie Ihre Beschwerden schildern, desto besser kann Ihnen der Arzt helfen

Die vom Patienten beobachteten und dem Arzt beschriebenen Beschwerden sind von größter Bedeutung für den weiteren Ablauf der Untersuchungen und folglich für die richtige Diagnose. Je detaillierter und offener der Patient alle seine Beschwerden schildert, desto zielführender sind die weiteren Maßnahmen, die der Arzt setzen kann.

Wichtig zu wissen, da auf den ersten Blick nicht in Zusammenhang stehend: Ein deutlich vermindertes Schmerzempfinden tritt oft gleichzeitig mit nicht von außen verursachten Missempfindungen wie Kribbeln, Stechen, Brennen etc. auf. Die gefährliche Folge: Das Eintreten von Splittern oder kleinen Scherben, die Entstehung von Blasen durch einengende Schuhe oder einwachsende Zehennägel werden nicht bemerkt, da Betroffene die kleinen Verletzungen nicht spüren. Das führt oft zu schlecht heilenden, chronischen Wunden, die im schlimmsten Fall nicht mehr zugehen.

Speziell Diabetiker sollten ihre Fußsohlen und Zehen besonders gut beobachten und aufmerksam pflegen.

Aufmerksame Angehörige bemerken Symptome manchmal als Erste

Auch Angehörige sind gefordert, einen Blick für die Symptome der Polyneuropathie zu entwickeln. So lassen etwa Augenmuskellähmungen und Schwankungen der Aufmerksamkeit (Vigilanz) meist auf einen Vitamin-B-Mangel bei chronischem Alkoholismus schließen. Entzündliche Hautstellen und Durchfall können auf eine sogenannte Pellagra-Polyneuropathie hinweisen, die auf einen Vitamin-B2-Mangel zurückzuführen ist. Auch ein immer häufiger auftretender, unsicherer Gang sollte Anlass sein, den Betroffenen zu einem Arztbesuch zu bewegen.

Das folgende Patientenbeispiel zeigt auf, wie unterschiedlich Polyneuropathien beginnen können und wie hilfreich eine rasche Diagnose für den weiteren Krankheitsverlauf ist.

Patientenbeispiel 8

Ein 37-jähriger, bis dahin völlig gesunder Mann, bemerkt einen binnen einer Stunde rasch zunehmenden Schmerz im rechten Vorfuß. Zunächst führt er diesen auf eine falsche Sitzposition zurück. Die Schmerzen aber vergehen nicht und der Patient nimmt abends 2 Tabletten eines herkömmlichen Schmerzmittels.

Am nächsten Tag fällt dem Patienten auf, dass er leichte Schwierigkeiten beim Gehen hat und das rechte Bein etwas bewusster anheben muss. Die Gangstörung und die Schmerzen nehmen im Laufe des Tages zu, sodass der Patient schließlich am Abend die Notaufnahme eines Krankenhauses aufsucht. Dort wird die Schwäche festgestellt und ein MRT der Lendenwirbelsäule durchgeführt. Da dieses unauffällig ist, werden dem Patienten weitere ambulante neurologische Kontrolluntersuchungen empfohlen.

Am Folgetag sind die Beschwerden noch schlimmer und der Patient wird auf einer neurologischen Abteilung aufgenommen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung hat er bereits eine fast komplette Lähmung der Zehen- und Vorfußhebung rechts sowie eine Gefühlsminderung am rechten Vorfuß. Die Blutuntersuchung ergibt erhöhte Entzündungswerte und nachfolgende Untersuchungen bringen eine sogenannte «Vaskulitis», eine Entzündung der nervenversorgenden Gefäße, zutage. Noch während der Durchuntersuchungsphase stellen sich gleiche Beschwerden im Bereich des 4. und 5. Fingers der linken Hand ein. Nach abgesicherter Diagnose erhält der Patient eine starke entzündungshemmende Therapie und dann eine langfristige medikamentöse Behandlung. Die Symptome bilden sich langsam zurück und innerhalb von 6 Monaten ist der Patient wieder beschwerdefrei.

Polyneuropathien können also in manchen, selteneren Fällen auch einen äußerst raschen Verlauf nehmen. In solchen Situationen ist es von höchster Bedeutung, umgehend und gezielt von erfahrenen Ärzten untersucht zu werden.

Fazit

Obwohl es in selteneren Fällen sehr schnell gehen kann, nimmt der Großteil aller Formen von Polyneuropathie einen sehr langsamen, sich oft über viele Jahre hin erstreckenden Verlauf. Auch wenn Symptome wie etwa Gefühlsstörungen, Kribbeln oder Krämpfe in den Beinen oder eine leichte Gangunsicherheit nur in größeren Abständen auftreten, sollte man deren Ursache bald abklären lassen. Denn sie weisen darauf hin, dass irgendetwas im Körper nicht ganz so funktioniert, wie es sollte. Auch starkes Schwitzen oder Potenzstörungen können Anzeichen einer Polyneuropathie sein. Je offener und vertrauensvoller Sie Ihrem Arzt gegenüber sind, desto rascher wird er zur richtigen Diagnose kommen und Ihnen sehr gut helfen können. Erste Anzeichen daher bitte nicht ignorieren!

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