Quantensinn und Quantenunsinn: Philosophisches Intermezzo I: Was ist Determinismus?
3.1 Definitionen
Nachdem der Begriff »Determinismus« schon im vorigen Kapitel benutzt wurde, ist es gut, einen Moment innezuhalten und zu definieren, was Determinismus bedeutet und zu fragen, was er zur Folge hat.
3.1.1 Determinismus und Zufall
Der Begriff Determinismus besagt in einer physikalischen Theorie, dass es Gesetze gibt, die den Zustand eines physikalischen Systems zu späteren Zeiten bestimmen, wenn der gegenwärtige (oder ein früherer) Zustand gegeben ist. Dass es Gesetze »gibt«, heißt aber noch nicht, dass wir diese Gesetze kennen, sondern nur, dass das System bestimmten Gesetzen folgt. So wird beispielsweise niemand daran zweifeln, dass die Bewegung der Planeten schon dem Gravitationsgesetz folgte, als es noch nicht entdeckt war, ja sogar bevor es Menschen gab.
Ich will zunächst definieren, was der »Zustand« eines physikalischen Systems ist. Nehmen wir als Beispiel die Sonne und einen Planeten und vergessen alles andere im Universum. Ist der gegenwärtige Ort und die Geschwindigkeit beider Himmelskörper gegeben, liefern die expliziten Formeln des newtonschen Bewegungsgesetzes für jeden Moment der Zukunft diese beiden Größen. Betrachten wir die Sonne und all ihre Planeten, vergessen weiterhin alles andere und kennen wieder den genauen Ort und die Geschwindigkeit aller beteiligten Himmelskörper, können wir beide Größen wieder für alle Zeiten aus den Bewegungsgesetzen berechnen. Anders als im Fall mit nur einem Planeten kann man aber die Bewegungsgleichungen nicht mehr explizit lösen. Das gilt im Prinzip für das gesamte Universum, solange man nur die Gravitation berücksichtigt und im Rahmen der klassischen Physik bleibt.
Man kann das auch auf das Werfen einer Münze, eines Würfels oder einer Kugel beim Roulette erweitern: Kann man den Weg, den diese Objekte nehmen, »exakt« beschreiben (Ort, Geschwindigkeit, Rotation etc.), ist wiederum die Zukunft der Objekte festgelegt oder determiniert.
In diesen Beispielen ist der Zustand der betrachteten Systeme durch den exakten Ort und die exakte Geschwindigkeit aller zugehörigen Objekte zu einem bestimmten Zeitpunkt definiert. Ist dieser Zustand exakt bekannt, bestimmen die Bewegungsgesetze den Zustand des Systems zu allen späteren Zeiten.
Wichtig ist hier das Wort »exakt«. Jeder weiß, dass das Ergebnis beim Wurf einer Münze Kopf oder Zahl sein kann, beim Würfel eine Sechs statt einer Zwei, und beim Roulette ein Landen der Kugel auf Rot statt auf Schwarz, wenn die Münze, der Würfel oder die Roulettekugel auch nur minimal anders geworfen werden.
Der wesentliche Punkt einer deterministischen Dynamik ist, dass sie für jeden Zeitpunkt in der Zukunft einen »eindeutigen« Zustand definiert, wenn der Zustand des physikalischen Systems zu einer bestimmten Startzeit exakt gegeben ist. Den exakten Zustand des Systems zu dieser Startzeit wollen wir seine »Anfangsbedingungen« nennen.
In der Physik untersucht man auch nicht-deterministische (indeterministische) Dynamiken. Bei ihnen ist es so, dass aus einem Anfangszustand für spätere Zeiten kein eindeutiger Zustand, sondern »viele mögliche« Zustände folgen können. Jedem Zustand wird also eine Reihe anderer Zustände zugeordnet, die jeweils mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten auftreten.
Das einfachste Beispiel ist wieder das Werfen der Münze oder des Würfels. Kennen wir die Anfangsbedingungen »nicht exakt«, was ja in der Praxis immer der Fall ist, weisen wir den Ergebnissen bestimmte Wahrscheinlichkeiten zu. Gibt es im Fall der Münze keine Tricks oder Fehler, ist die Wahrscheinlichkeit für Kopf oder Zahl je 1/2, unabhängig davon, was zuvor passiert ist. Beim perfekten Würfel beträgt die Wahrscheinlichkeit für jede Zahl 1/6. Auch hier ist die Vorgeschichte uninteressant.
Man könnte sich aber auch eine gezinkte Münze vorstellen, bei der Kopf seltener als Zahl ist und nur in 1/4 der Fälle vorkommt, während Zahl in 3/4 der Fälle zu erwarten ist. Oder bei einem auf einer Seite gezinkten Würfel kommt diese Seite in der Hälfte der Fälle vor, die anderen fünf Seiten zu je 1/10 der Fälle. Offenbar muss die Summe aller Wahrscheinlichkeiten immer gleich 1 sein.
Fast alle angewandten Naturwissenschaften verwenden Dynamiken mit Wahrscheinlichkeitsaussagen, die natürlich weit raffinierter sind als die hier vorgestellten, aber auf der gleichen Idee beruhen.
Die Ergebnisse von nicht-deterministischen Prozessen werden oft »zufällig« genannt. Um intuitiv eine Zufallsfolge von Ergebnissen zu definieren, wollen wir das wiederholte Werfen einer nicht gezinkten Münze betrachten und die Ergebnisse Kopf (K) und Zahl (Z) registrieren. Ein solches Experiment ist typisch für etwas, was wir zufällig nennen, und kann daher verwendet werden, um den Begriff zu erklären.
Was erwartet man, wenn man eine Münze viele Male wirft? Wie schon erwähnt, nimmt man als Erstes an, dass K und Z je zur Hälfte vorkommen. Man erwartet aber auch, dass die Paare KK, KZ, ZK und ZZ je zu einem Viertel vorkommen. Jede der acht Reihen, die sich bei drei aufeinanderfolgenden Würfen ergeben, also ZZZ, ZZK, ZKZ etc., sollte je zu einem Achtel vorkommen. Allgemeiner gesagt: In einer Zufallsfolge hängt das Eintreffen jeder Kombination aus K und Z nur von der Länge der Reihe ab: Je länger sie ist, umso kleiner ist ihre Häufigkeit. Jede endliche Reihe der Länge R tritt in einer Zufallsfolge der Länge n mit einem Anteil von n/2R auf.
Dieser Begriff einer Zufallsfolge wird einleuchtender, wenn man Beispiele von Folgen heranzieht, die »nicht« zufällig sind. So ist z. B. ZKZKZKZKZK… nur die ständige Wiederholung des Paares ZK. Ein anderes Beispiel stellt die Folge ZZKKZKZZZKKZKZZZKKZKZ… dar, die durch Wiederholen von ZZKKZKZ entsteht und daher auch nicht zufällig ist. Während in einer Zufallsfolge der Länge n die Reihe ZK n/22 = n/4 Mal vorkommt, kommt sie in der hier genannten nicht zufälligen Folge n/R = n/2 Mal vor. Für das zweite Beispiel mit R = 7 gilt entsprechend n/27 = n/128 bei der Zufallsfolge, bei der nicht zufälligen Folge erhält man dagegen n/7.
Wir wollen nun aus Gründen, die weiter unten erklärt werden, eine Folge, die zufällig »aussieht«, also kein regelmäßiges Muster aufweist, »scheinbar zufällig« nennen.
Angenommen, wir haben eine solche scheinbar zufällige Folge. Wir können nun eine grundlegende Frage stellen: Ist diese Folge »wirklich zufällig«, oder, um es anders auszudrücken, »echt, objektiv« bzw. »intrinsisch zufällig«. Diese Begriffe bedeuten, dass man keine überzeugende deterministische Erklärung für das Auftreten solcher zufälligen Folgen geben kann. Der Definition »scheinbar zufällig«, die an eine statistische Eigenschaft der Folge anknüpft (zwei endliche Reihen der gleichen Länge haben die gleiche Häufigkeit), steht die Definition »wirklich zufällig« oder »intrinsisch zufällig« entgegen, wobei es unmöglich ist, mit einem deterministischen Mechanismus eine »wirklich zufällige« Folge zu erzeugen.
Wir haben schon gesehen, dass die Resultate beim Werfen einer Münze nicht wirklich zufällig sind. Es handelt sich hier um ein einfaches Beispiel einer Ergebnisfolge, die zufällig erscheint, aber in Wirklichkeit deterministisch ist. Könnten wir eine detailliertere Beschreibung des Systems geben, die vor allem die exakten Anfangsbedingungen eines jeden Wurfs der Münze umfasst, würden die Ergebnisse von diesen Anfangsbedingungen determiniert.
Jedes deterministische System kann also nicht-deterministisch aussehen, wenn wir es nicht detailliert genug beschreiben können. Würfe von Münzen oder Würfeln sind Beispiele für solche Systeme. Können wir die Anfangsbedingungen im Detail angeben, sind die Prozesse deterministisch, können wir es nicht, »scheinen« sie zufällig zu sein.
Man kann nun noch eine weitere Frage stellen: Gibt es ein Kriterium, das uns zu unterscheiden erlaubt, wann ein System »scheinbar zufällig« ist und wann »wirklich zufällig?« Die Antwort ist »nein«. Ich werde es hier nicht beweisen, aber das Werfen einer Münze oder eines Würfels illustriert, warum es dieses Kriterium nicht gibt. Man kann sich eigentlich nichts vorstellen, was so zufällig ist wie das Werfen einer Münze oder eines Würfels. Tatsächlich verkörpern diese Beispiele den Begriff des Zufalls. Wenn aber selbst diese beiden Systeme faktisch deterministisch sind, sobald man nur die vollständige Beschreibung ihres Zustands hat, wie kann man dann auf ein Kriterium hoffen, das beweist, dass ein System wirklich zufällig ist und nicht nur zufällig aussieht, weil wir den Zustand nicht vollständig beschreiben können?
Das heißt nun nicht, dass es wirklich zufällige Systeme in der Natur nicht geben kann. Man muss aber, um das zu beweisen, andere Argumente vorbringen, als nur zu beobachten, dass sie zufällig erscheinen.
3.1.2 Determinismus und Vorhersagbarkeit
Das führt uns zu einer weiteren wichtigen Unterscheidung: der zwischen »Determinismus« und »Vorhersagbarkeit«. In den Beispielen mit dem Wurf der Münze oder des Würfels hat sich gezeigt, dass wir im Prinzip berechnen können, wie der Wurf ausgeht. Voraussetzung ist nur, die Anfangsbedingungen genau genug zu kennen, was aber bei diesen beiden Beispielen und vielen anderen Phänomenen in der Praxis nicht möglich ist.
Es gibt auch noch die zweite Möglichkeit, dass wir zwar die Anfangsbedingungen mit großer Präzision kennen, dass aber die Berechnungen der Entwicklung des Systems vom Anfangszustand zu einem Zustand in der Zukunft zu kompliziert sind, um durchgeführt werden zu können.
Eine dritte Möglichkeit ist, dass es zwar »deterministische Gesetze« gibt, die ein bestimmtes physikalisches System bestimmen, dass wir sie aber (noch) nicht kennen.
Den Unterschied zwischen Determinismus und Vorhersagbarkeit kann man so zusammenfassen: Der Begriff »Determinismus« bezieht sich auf die Natur der (eventuell unbekannten) Gesetze, die das betreffende Phänomen bestimmen. Der Begriff »Vorhersagbarkeit« bezieht sich dagegen auf unsere Fähigkeit, die Gesetze, die die Zukunft bestimmen, herauszufinden und anzuwenden. Die Vorhersagbarkeit ist also nicht nur von der Natur der physikalischen Gesetze abhängig, also ob sie deterministisch sind oder nicht, sondern auch von den menschlichen Fähigkeiten: der Fähigkeit, präzise Messungen (der Anfangsbedingungen) zu machen und der Fähigkeit, komplizierte Rechnungen durchzuführen.
Der französische Mathematiker Henri Poincaré hat den Unterschied zwischen Determinismus und Vorhersagbarkeit so erklärt:
Ereignisse, die uns zufällig oder riskant erscheinen wie das Wetter, können sehr wohl so deterministisch sein wie Sonnenfinsternisse. Der Zufall spiegelt dann nur unsere kognitiven Grenzen wider.
Wegen des oben Gesagten könnten Sie vielleicht schließen, dass physikalische Gesetze »notwendigerweise deterministisch« sein müssen, wenn man die physikalische Situation detailliert genug beschreiben kann, oder, in anderen Worten, dass die Existenz fundamentaler physikalischer Gesetze, die nicht-deterministisch sind, undenkbar ist – eine Behauptung, die ich »nicht« aufstelle.
Auch wenn es schwierig ist, ein Kriterium dafür anzugeben, dass sich Systeme »wirklich zufällig« verhalten, sollte man daraus »nicht« schließen, dass ein von seinem Wesen her »zufälliges« Universum ausgeschlossen ist. Es ist durchaus denkbar, dass die Grundgesetze der Natur »nicht-deterministisch« sind. Wer sind wir, um der Natur zu sagen, wie sie sich zu verhalten hat?
Wer den Determinismus nicht mag, klagt ihn als eine »metaphysische Annahme« an. Da ich Determinismus nicht voraussetze und nicht von vornherein fordere, dass eine physikalische Theorie deterministisch ist, trifft diese Klage nicht die Sicht der Dinge, die ich hier vertrete.
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