Spiegelbilder: Persönlichkeit: was uns ausmacht und warum
Wieso glauben wir, zu wissen, wer wir sind, obwohl unser Verhalten und die Rückmeldungen unserer Umwelt hierüber alles andere als stabil sind? Warum können Narzissten einen übersteigerten Selbstwert fern jeder Realität aufrechterhalten und trotzdem in vieler Hinsicht erfolgreich sein? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt dieses Kapitels, das sich mit dem Bild der eigenen Persönlichkeit und den vielfältigen Prozessen der Selbststabilisierung und Selbstdarstellung beschäftigt.
3. Spiegelbilder: Wie wir uns im Spiegel anderer sehen
Die Persönlichkeit kann man auf unterschiedlichen Wegen beschreiben: Selbstbeschreibung von Eigenschaften, Beschreibung durch gute Bekannte, Beobachtung von Verhaltensregelmäßigkeiten und Rückschlüsse aus Persönlichkeitsspuren in der Umwelt. Diese vier Wege werden in den nächsten vier Kapiteln geschildert. In der Persönlichkeitspsychologie wird am häufigsten die Selbstbeschreibung in Fragebögen, manchmal auch in Interviews genutzt. Auf den ersten Blick scheint das auch die einfachste und beste Methode zu sein. Denn wer kennt die Persönlichkeit eines Menschen besser als der Mensch selbst? Zumindest ab dem späten Kindesalter ist die selbst wahrgenommene Persönlichkeit ein zentraler Teil des Selbstbildes (auch Selbstkonzept genannt), des Bildes von einem selbst, und kann erfragt werden. So einfach ist das aber nicht, denn das Selbstbild kann systematisch verzerrt sein. Im Gegensatz zu anderen Beurteilern, die im besten Fall der beurteilten Person neutral gegenüber sind, sodass sie keinen Grund haben, ihr Bild der Person zu verfälschen, ist die Selbstbeurteilung erheblich emotionaler und oft auch stärker motivational beeinflusst.
Wenn Sie sich morgens im Spiegel betrachten, hängt das, was sie da sehen, durchaus davon ab, wie sie die Nacht verbracht haben und wie ihre aktuelle Stimmung ist. An guten Tagen betrachten Sie sich wohlgefälliger oder zumindest unkritischer als an schlechten, obwohl neutrale Beurteiler eines Fotos des Spiegelbildes gar keinen oder nur einen geringen Unterschied sehen würden. Ihre Stimmung überträgt sich auf ihre Selbstwahrnehmung. Selbst eingeschätzte Attraktivität des Gesichts ist ein schlechtes Maß der sozial wirksamen Attraktivität. Denn die selbst eingeschätzte Attraktivität ist nicht nur stimmungsabhängiger, sondern hängt auch stärker mit dem Selbstwert zusammen, der Bewertung der eigenen Person auf der Dimension positiv – negativ. Je niedriger der Selbstwert, desto weniger finden sich Männer und Frauen attraktiv, obwohl der Selbstwert so gut wie gar nicht mit dem Attraktivitätsurteil neutraler Beurteiler zusammenhängt. Auch deshalb stimmen Selbsturteil und Beobachterurteil über die Attraktivität des Gesichts nur gering überein [1]. In diesem Fall ist die Selbst-Beobachter-Übereinstimmung so gering, weil das Selbstbild durch den Selbstwert verzerrt ist.
Nun könnte es sein, dass der Selbstwert genauso wie die Tagesverfassung von Tag zu Tag und sogar von Stunde zu Stunde schwankt, z. B. nach Erhalt eines überraschend guten oder schlechten Zeugnisses oder wenn man überraschend gefeuert oder befördert wird. Dann wäre er vielleicht nur ein Ausdruck der positiven oder negativen Stimmung, in der man gerade ist. Solche Schwankungen gibt es durchaus; z. B. beeinflusst bei Paaren die wahrgenommene aktuelle Qualität der Partnerschaft den aktuellen Selbstwert nicht nur am selben Tag, sondern hat auch noch Auswirkungen auf den Selbstwert am nächsten Tag: Ein Tief in der Beziehung vermindert ihn, ein Hoch erhöht ihn [2].
Dennoch unterscheiden sich Menschen auch in stabiler Weise in ihrem typischen Selbstwert. Der Selbstwert ist dann ein Persönlichkeitsmerkmal, wenn er über viele Tage gemittelt oder für einen übersichtlichen Zeitraum, z. B. den letzten Monat, eingeschätzt wird. Dieser stabile Selbstwert spielt eine zentrale Rolle in der Persönlichkeit, weil er mit sehr vielen anderen Eigenschaften, der Qualität der sozialen Beziehungen, Leistung in Schule und Beruf und psychischer Gesundheit zusammenhängt [3]. Bezogen auf die Big Five (vgl. Kap. 2) hängt der stabile Selbstwert am stärksten mit emotionaler Stabilität zusammen, also mit geringem Neurotizismus, und am zweitstärksten mit Extraversion [4].
Selbstbild und Selbstwert sind nicht nur davon abhängig, wer wir wirklich sind, sondern auch davon, wie wir diese Wirklichkeit wahrnehmen und interpretieren, also wie wir die vielen uns zugänglichen Informationen über uns selbst verarbeiten. Im Folgenden skizziere ich die fünf wichtigsten Informationsverarbeitungsprozesse, die hier eine Rolle spielen: Selbstwahrnehmung, Selbsterinnerung, soziales Spiegeln, sozialer Vergleich und Selbstdarstellung [5]. Sie sind in Abb. 3.1 dargestellt (hier in dieser Leseprobe nicht enthalten). Betrachten wir zunächst die einzelnen Prozesse; am Schluss diskutiere ich sie dann noch einmal im Zusammenhang.
Selbstwahrnehmung
Eine ständige Quelle selbstrelevanter Informationen sind der eigene Körper, die in ihm ablaufenden physiologischen Prozesse und das eigene Verhalten. Viele unterschiedliche Sinnesmodalitäten (visuelle, akustische, taktile usw.) liefern Informationen darüber, wie wir aussehen und uns verhalten; durch Hilfsmittel wie Spiegel, Videofeedback (Ansehen von Videoaufnahmen des eigenen Verhaltens) oder Biofeedback (visuelle Rückmeldung über eigene physiologische Reaktionen) können wir den Erfahrungsraum für die Selbstwahrnehmung noch erweitern. Dennoch ist die Selbstwahrnehmung keineswegs sehr akkurat; selbst im visuellen Bereich gibt es Wahrnehmungstäuschungen, und unsere Wahrnehmung physiologischer Vorgänge ist erst recht ungenau – zu den meisten haben wir überhaupt keinen direkten sensorischen Zugang (z. B. können wir unseren Blutdruck ohne Biofeedbacktraining nicht direkt wahrnehmen). Von daher ist das auf Selbstwahrnehmung gegründete Selbstkonzept abhängig von der Genauigkeit der Selbstwahrnehmung, und die kann von Person zu Person variieren.
Hinzu kommt, dass jede Wahrnehmung, also auch die Selbstwahrnehmung, nie ein passives Abbild der Wirklichkeit ist, sondern erwartungsgesteuert erfolgt; jede Wahrnehmung beginnt schon mit einer Hypothese. Wenn ich weiß, dass ich früher immer Herzklopfen hatte, wenn ich vor einer großen Gruppe zu reden begann, werde ich beim Gang zum Vortragspult mehr auf Herzklopfen achten als jemand, der sich gerne darin sonnt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen; dadurch werde ich auch mehr Herzklopfen wahrnehmen. Von daher neigen wir dazu, ständig unser Selbstbild zu bestätigen, weil wir uns selbst immer nur im Licht unseres schon vorhandenen Selbstkonzepts wahrnehmen können: Wir tendieren dazu, uns so zu sehen, wie wir zu sein glauben. In der Sozialpsychologie wird dies als selbstkonsistenzerhöhende Verzerrung (self-consistency bias) bezeichnet; sie trägt wesentlich zur Stabilität des Selbstbildes und des Selbstwerts bei.
Selbsterinnerung
Eine weitere Quelle selbstrelevanter Informationen ist die Erinnerung an eigenes Erleben und Verhalten in früheren Situationen. Während die wahrnehmungssteuernden Erwartungen fast immer automatisch und unbewusst wirken, tauchen bisweilen bewusste Erinnerungen an uns selbst auf, oft verbunden mit positiven oder negativen Gefühlen: wie peinlich es war, dass ich damals bei der Rede den Faden verloren hatte, oder wie toll es war, als am Ende alle begeistert geklatscht hatten. Das Erinnern ist aber genauso wie die Wahrnehmung der aktuellen Situation erwartungsgesteuert, und deshalb unterliegt es auch selbstkonsistenzerhöhenden Verzerrungen. Das steigert das Gefühl der Identität, also einer Kontinuität zwischen dem, was wir früher zu sein glaubten und was wir jetzt zu sein glauben: Wir glauben, zu wissen, wer wir sind.
Soziales Spiegeln
Selbstwahrnehmung und Selbsterinnerung sind Prozesse, die ganz im Privaten ablaufen können. In der sozialen Interaktion kommt eine dritte Quelle selbstrelevanter Informationen ins Spiel: die Meinung anderer von uns selbst. Cooley verglich 1902 die Rolle anderer mit einem Spiegel: »Each to each a looking glass, reflects the other that doth pass« [6]. Nach dieser Auffassung sehen wir uns selbst so, wie wir uns im Spiegel sehen, den uns andere vorhalten. Wir halten uns z. B. für freundlich, wenn wir aus den Reaktionen anderer schließen, dass sie uns für freundlich halten (ob sie diese Meinung wirklich haben, steht auf einem anderen Blatt). Verkürzte Darstellungen des sozialen Spiegelns gehen davon aus, dass wir uns so sehen, wie andere uns tatsächlich sehen. Wir würden uns sozusagen objektiv aus ihrer Perspektive betrachten. Aber das geht natürlich nicht; wir können nur aus unserer Perspektive vermuten, wie andere uns sehen: Wir tendieren dazu, uns so zu sehen, wie wir glauben, dass andere uns sehen.
Literatur
- Feingold, A. (1992). Good-looking people are not what we think. Psychological Bulletin, 111, 304–341.
- Denissen, J. J. A., Penke, L., Schmitt, D. P. & van Aken, M. A. G. (2008). Self-esteem reactions to social interactions: Evidence for sociometer mechanisms across days, people, and nations. Journal of Personality and Social Psychology, 95, 181–195.
- Schütz, A. (2003). Psychologie des Selbstwertgefühls (2. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer.
- Robins, R. W., Tracy, J. L., Trzesniewski, K., Potter, J. & Gosling, S. D. (2001). Personality correlates of self-esteem. Journal of Research in Personality, 35, 463–482.
- Neyer, F. J. & Asendorpf, J. B. (2018). Psychologie der Persönlichkeit (6. Aufl.). Berlin: Springer-Verlag.
- Cooley, C. H. (1902). Human nature and the social order. New York: Charles Scribner’s Sons.
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