Sportpsychologie: Stressregulation durch Sport
In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden mehrere Modelle entwickelt, in denen die stressregulativen Wirkweisen von Bewegung und Sport zusammengefasst wurden. Fuchs und Klaperski (2018) untergliedern grob in die Stressentstehung und die Stressbewältigung. Im Prozess der Stressentstehung kann zwischen einer stressorreduzierenden und ressourcenstärkenden Wirkweise von Bewegung und Sport differenziert werden (Abb. 25.4, in dieser Leseprobe nicht enthalten). Bei vorliegendem Stress kommt auf Ebene der Stressbewältigung eine reaktionsverringernde Wirkweise hinzu, wobei zwischen kognitiven, affektiven, behavioralen und biologischen Wirkungen unterschieden werden kann. In diesem Zusammenhang ist auch von palliativ-regenerativer Stressbewältigung die Rede. Mit »palliativ« ist gemeint, dass durch Sport unangemessen hohe oder lange Reaktionen auf Stress verhindert werden. »Regenerativ« meint, dass Bewegung und Sport den betroffenen Personen helfen, in einem Reaktionsparameter rasch auf den Ausgangszustand zurückzukehren. All diese Wirkweisen können dazu genutzt werden, um sog. »Stresspuffer-Effekte« von Bewegung und Sport zu begründen. Das heißt, sie liefern mögliche Erklärungen, weshalb Personen mit einem körperlich aktiven Lebensstil bei hohen Stressbelastungen weniger gesundheitliche Beeinträchtigungen hinnehmen müssen (Gerber und Pühse 2009; Klaperski 2018). Darüber hinaus wird in dem Modell eine generell gesundheitsstärkende Wirkung abgebildet. Damit soll zum Ausdruck kommen, dass regelmäßige körperliche Aktivität auch unabhängig vom Stressbelastungsgrad einer Person zu gesundheitswirksamen Effekten führen kann.
25.7.1 Sind sportlich aktive Personen weniger gestresst oder führt Stress zu weniger sportlicher Aktivität?
Zum Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und Stress liegen diverse empirische Studien vor (Klaperski 2018; Stults-Kolehmainen und Sinha 2014). Während die meisten querschnittlichen Studien darauf hindeuten, dass ein hohes Maß an körperlich-sportlicher Aktivität mit einer geringeren Stresswahrnehmung assoziiert ist (z. B. Aldana et al. 1996; Lovell et al. 2015), lassen sich aus diesen Befunden keine kausalen Rückschlüsse ziehen. Mit anderen Worten bleibt unklar, ob die statistischen Zusammenhänge darauf beruhen, dass körperliche Aktivität stressmindernd wirkt oder gestresste Personen einfach dazu neigen, weniger körperlich und sportlich aktiv zu sein. Längsschnittliche Studien deuten darauf hin, dass zwischen körperlicher Aktivität und Stress mit großer Wahrscheinlichkeit ein reziproker Zusammenhang besteht. So zeigen prospektive Studien einerseits, dass sich der bei Baseline erfasste Umfang an körperlicher Aktivität zur Vorhersage einer verminderten Stresswahrnehmung beim Follow-up eignet (Jonsdottir et al. 2010; Schnohr et al. 2005). Andererseits zeigen mehrere Studien, dass Stress zu verminderter körperlicher Aktivität führt, und zwar unabhängig davon, ob ein experimenteller Ansatz gewählt (Roemmich et al. 2003), Stress auf Tagesebene erfasst (Sonnentag und Jelden 2009) oder länger anhaltende Stressbelastungen (Oaten und Cheng 2005) erhoben wurden. Lutz et al. (2010) fanden zudem heraus, dass es während Stressphasen Personen, bei denen körperliche Aktivität eine feste Lebensgewohnheit darstellt, leichter fällt, körperlich aktiv zu bleiben als Personen, die erst kürzlich mit dem Sporttreiben begonnen haben. Schließlich kommt Klaperski (2018) in einer Literaturübersicht über randomisierte Kontrollgruppenstudien zum Ergebnis, dass in sechs von insgesamt elf vorliegenden Untersuchungen ein signifikanter (stressreduzierender) Einfluss der Intervention auf die Stresswahrnehmung nachgewiesen werden konnte (Studienbox: Einfluss von Stress auf das Bewegungsverhalten: Eine Metaanalyse).
Studienbox
Einfluss von Stress auf das Bewegungsverhalten: Eine Metaanalyse
Um herauszufinden, wie sich beruflicher Stress auf das Bewegungsverhalten von Personen auswirkt, kombinierten Fransson et al. (2012) die Daten von 14 europäischen Kohortenstudien. Baseline-Daten lagen von insgesamt 170 162 Personen vor. Davon konnten 56 735 Personen zwischen zwei und neun Jahre lang nachverfolgt werden. Die Ergebnisse der querschnittlichen Daten deuten darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit, körperlich inaktiv zu sein, bei beruflich gestressten Personen um 26 % höher ausfällt als bei Personen ohne übermäßigen Berufsstress. In den prospektiven Analysen zeigte sich ein ähnlicher Befund, wobei bei gestressten Personen immer noch ein um 21 % erhöhtes Risiko vorlag, während des Follow-up-Zeitraums körperlich inaktiv zu werden.
25.7.2 Schützt sportliche Aktivität bei Stress vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen?
Ob Bewegung und Sport dazu in der Lage sind, Menschen vor stressbedingten Gesundheitsbeeinträchtigungen zu schützen, wird in der Wissenschaft schon seit längerem diskutiert. Die erste Studie zu dieser Thematik wurde anfangs der 1980er Jahre von Kobasa et al. (1982) publiziert. In den folgenden 35 Jahren sind zahlreiche Originalarbeiten erschienen, die an dieser Stelle nicht ausführlicher dargestellt werden können. In ihrem Review kamen Gerber und Pühse (2009) zum Ergebnis, dass die Mehrheit der vorliegenden Studien die Gültigkeit der »Stresspuffer-Hypothese« (zumindest teilweise) stützen, und zwar unabhängig vom Alter und Geschlecht der Untersuchungspersonen bzw. vom gewählten Untersuchungsdesign (quer- vs. längsschnittlicher Ansatz). Einschränkend gilt es anzufügen, dass in vielen der frühen Studien sowohl die körperliche Aktivität als auch die Gesundheitsindikatoren über Selbstauskünfte der Untersuchungspersonen erhoben wurden. In neueren Studien wurde diesem Manko begegnet, indem diese Variablen mittels objektiver Verfahren (z. B. Akzelerometrie, Fitness-Tests, physiologische Risikomarker) erfasst wurden (Gerber et al. 2017a; Holtermann et al. 2010; Puterman et al. 2010). Eine dieser Studien ist in der folgenden Studienbox genauer beschrieben (Studienbox: Fitness-bedingte Stresspuffer-Effekte). Ebenso wurde in einer neueren Untersuchung ein personenzentrierter Ansatz gewählt, um herauszufinden, ob mithilfe bestimmter statistischer Verfahren stressresiliente Personen identifiziert werden können (d. h. Personen, die trotz hoher Stressbelastung keine psychischen Symptome aufweisen). Dabei konnte aufgezeigt werden, dass stressresiliente Personen im Durchschnitt einen höheren Umfang an körperlicher und sportlicher Aktivität angeben als Personen, die hohen Stressbelastungen ausgesetzt sind, bei denen aber gleichzeitig eine hohe Symptombelastung vorhanden ist (Gerber et al. 2014b). Inzwischen liegen auch einige experimentelle Studien vor, in denen mit den Untersuchungspersonen eine Bewegungs- und Sportintervention implementiert wurde. O’Dougherty et al. (2012) führten mit 303 amerikanischen Frauen über 16 Wochen ein aerobes Ausdauertraining durch. Dabei zeigte sich, dass in der Ausdauergruppe der Einfluss kritischer Lebensereignisse auf die Entwicklung depressiver Symptome abgepuffert werden konnte, was in der Kontrollgruppe nicht der Fall war. Klaperski und Fuchs (2014) kamen in einer Studie mit 149 männlichen Untersuchungsteilnehmern zu einem ähnlichen Fazit, wobei sie nicht kritische Lebensereignisse, sondern die allgemeine Stresswahrnehmung untersuchten. Für weiterführende Literatur zur Dreiecksbeziehung zwischen a) Stress, b) körperlicher Aktivität und spezifischen Gesundheitsindikatoren wie Übergewicht/Adipositas, Schlaf, Gehirn/Kognition und Herzgesundheit sei an dieser Stelle auf Holmes (2018), Ludyga (2018), Brand (2018) sowie Deiseroth und Hanssen (2018) verwiesen (Exkurs: Erklärung von Stresspuffer-Effekten).
Exkurs
Erklärung von Stresspuffer-Effekten
Stresspuffer-Effekte können auf eine stressorreduzierende, eine ressourcenstärkende oder eine reaktionsmindernde Wirkweise zurückgeführt werden (Abb. 25.4, in dieser Leseprobe nicht enthalten). Ersteres ist dann der Fall, wenn Bewegung und Sport dazu beitragen, dass bestimmte Stressoren gar nicht erst auftreten (z. B. Vorbeugung von chronischen Erkrankungen oder sozialer Isoliertheit). Zweiteres trifft dann zu, wenn Bewegung und Sport dazu beitragen, dass bestimmte Ressourcen gestärkt werden, die sich ihrerseits günstig auf den Stressbewältigungsprozess auswirken (z. B. Aufbau von Selbstvertrauen und mentaler Stärke, Verfügbarkeit von sozialem Rückhalt im Bedarfsfall; für einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand siehe Fuchs und Klaperski 2018). Die reaktionsmindernde Wirkweise meint, dass physiologische, psychologische oder verhaltensbezogene Stressreaktionen geringer ausfallen (reduzierte Reaktivität) oder schneller wieder das Ausgangsniveau hergestellt werden kann (verbesserte Regeneration).
Studienbox
Fitness-bedingte Stresspuffer-Effekte
Um herauszufinden, ob ein hoher Fitness-Zustand den gesundheitsschädigenden Einfluss von Stress »abpuffert«, führten Forschende aus der Schweiz und Schweden mit rund 200 im Gesundheitswesen beschäftigten Personen eine Untersuchung durch. Der Fitness-Zustand wurde objektiv mittels eines submaximalen Fitness-Tests erfasst (»Åstrand-Fahrradergometer-Test«). Basierend auf alters- und geschlechterspezifischen Normen wurden die Teilnehmenden in drei Gruppen mit niedrigerer, mittlerer und hoher Fitness kategorisiert. Die Stressbelastung wurde mit einem Fragebogen erfasst. Darauf aufbauend wurden zwei Gruppen gebildet (hohe vs. niedrige Stressbelastung). Darüber hinaus wurden sowohl die psychische Gesundheit (Depression, Burnout) als auch Risikomarker für kardiovaskuläre Krankheiten erfasst (z. B. Blutdruck, BMI, Blutfettwerte, Blutzucker). Insgesamt zeigten die Ergebnisse, dass sich die drei Fitness-Gruppen bei tiefer Stressbelastung kaum in den untersuchten Gesundheitsparametern voneinander unterschieden. Bei hoher Stressbelastung waren bei den Untersuchungsteilnehmern mit niedriger Fitness jedoch mehr gesundheitliche Beeinträchtigungen zu erkennen als bei Personen mit mittlerer und hoher Fitness. Beispielhaft sind in Abb. 25.5 die Befunde für die depressive Symptombelastung und das Low-Density-Lipoprotein (LDL)-Cholesterin dargestellt. Hinsichtlich des LDL-Cholesterins gelten Werte von ≥3,0 mmol/l als klinischer Cut-off, der gemäß der europäischen Richtlinien (De Backer et al. 2003) nicht überschritten werden sollte (Abb. 25.5, in dieser Leseprobe nicht enthalten).
Physiologisch lässt sich eine reduzierte Stressreaktivität bei körperlich aktiven oder fitten Personen mit der sog. »Cross-Stressor-Adaptations-Hypothese« (»CSA-Hypothese«) begründen (Sothmann 2006). Diese geht davon aus, dass a) die physiologische Reaktivität auf körperliche, kognitive und psychosoziale Stressreize gleichermaßen zu einer Aktivierung des SAM-Systems sowie der HHN-Achse führen und b) wiederholte Erfahrungen mit einem ausreichend intensiven und andauernden Belastungsreiz in einem Organismus spezifische und unspezifische Anpassungsvorgänge hervorrufen. Im Sinne einer spezifischen Anpassung kann angenommen werden, dass regelmäßige körperliche Aktivität insbesondere bei Stressoren mit einem körperbezogenen Belastungselement zu einer verminderten Reaktivität führt, während im Sinne einer unspezifischen Anpassung erwartet werden kann, dass sich auch bei sportfremden Belastungen (z. B. bei psychosozialem Stress) ähnliche Effekte ergeben. Die »CSA-Hypothese« ist theoretisch plausibel, da trainingsbedingte Anpassungen oftmals zu gesamtheitlichen Veränderungen von Gewebestrukturen führen und davon auszugehen ist, dass sich Veränderungen in einem stressmodulierenden Teilsystem auf die Gesamtheit aller an der Stressregulation beteiligten Systeme auswirken (Sothmann 2006).
Die Gültigkeit der »CSA-Hypothese« wurde in mehreren Metaanalysen überprüft; diese haben jedoch zum Teil widersprüchliche Befunde ans Licht gebracht. Während sich die »CSA-Hypothese« stützen ließ, wenn spezifisch auf kardiovaskuläre Marker fokussiert wurde (Crews und Landers 1987; Forcier et al. 2006), traf dies unter Einbezug weiterer Reaktivitätsindikatoren nicht zu (Jackson und Dishman 2006). Jackson und Dishman (2006) kamen zum Fazit, dass fitte Personen bei experimentellen Stressaufgaben keine geringere Stressreaktivität aufweisen als unfitte Kontrollpersonen. Allerdings stellten sie fest, dass sich fitte Personen schneller von Stress erholen. Einzuschränken ist, dass in der Metaanalyse von Jackson und Dishman (2006) vorwiegend Studien einbezogen wurden, in denen die Probanden mit kognitiven Stressoren konfrontiert wurden. Im Vergleich dazu kommen neuere Studien, in denen psychosoziale Stressoren verwendet wurden (Exkurs: Psychosozialer Stress in Laborstudien), überwiegend zum Schluss, dass trainierte Personen eine geringere Stressreaktivität aufweisen, insbesondere im Hinblick auf die HHN-Achsen-Aktivität (Gerber 2018; Mücke et al. 2018). Studien verdeutlichen indes auch, dass der stressmildernde Einfluss von regelmäßiger körperlicher Aktivität oder einer hohen Fitness von weiteren Faktoren abhängt. So zeigte sich bei Gerber et al. (2017b), dass der im Labor feststellbare, mit körperlicher Aktivität verbundene Schutzeffekt bei Personen mit einer allgemein hohen Stressbelastung besonders hoch ausfällt. Ähnlich verdeutlichen Puterman et al. (2011), dass körperliche Aktivität insbesondere dann mit einer geringeren Stressreaktivität assoziiert ist, wenn Personen eine Tendenz aufweisen, lange über Probleme nachzugrübeln. Die bisher einzige Interventionsstudie deutet darauf hin, dass sich die Reaktivität auf experimentell induzierten Stress nach einem mehrwöchigen Ausdauertrainingsprogramm verringert (Klaperski et al. 2014). Empirisch starke Belege existieren ferner dafür, dass körperliche Aktivität unmittelbar vor Exposition mit einem Laborstressor zu einer geringeren Reaktivität führt (Hamer et al. 2006). Dieser Befund ist insofern wichtig, als sich das stressmildernde Potenzial von körperlicher Aktivität nicht erst nach wochenlangem Training zeigt, sondern Personen unmittelbar von jeder einzelnen Trainingsepisode profitieren (Methoden: Erfassung physiologischer und psychologischer Stressreaktionen in Laborstudien).
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