Leseprobe »Vom Baby zum Kleinkind«: Grobmotorik
Motorik ist die Fähigkeit, sich zu bewegen. Während viele Säugetiere schon wenige Stunden nach der Geburt in der Lage sind, aufzustehen und selbstständig ihre Umgebung zu erkunden, gilt das nicht für Menschenkinder. Babys sind »Nesthocker«. Von alleine können sie sich noch nicht einmal umdrehen. Auf dem Rücken liegend gleichen sie kleinen Käfern, die mit den Beinchen (oder Ärmchen) rudern können – viel mehr ist noch nicht möglich.
Innerhalb der ersten Lebensjahre ändert sich das jedoch sehr schnell! So kann jedes normal entwickelte dreijährige Kind rollen, kriechen, stehen, laufen, balancieren, hüpfen und werfen. Dafür muss es seine Muskulatur kräftigen und verschiedene Bewegungsabläufe einüben. Reifung und Erfahrung hängen dabei eng zusammen: Ein Neugeborenes ist noch viel zu schwach, um seinen Kopf zu heben, den Rücken stramm zu halten oder gar auf eigenen Beinen zu stehen. Die Muskeln, die es dafür braucht, reifen aber nur dann, wenn sie auch beansprucht werden. Ein Kind, das immer nur liegt oder getragen wird, wird sich grobmotorisch langsamer entwickeln als ein Kind, das sich viel bewegt.
Auch die Fähigkeit, Bewegungen verschiedener Gliedmaßen gut zu koordinieren, will geübt sein. Vielleicht erinnern Sie sich noch daran, wie schwer es war zu lernen, wie man Dreirad fährt, auf einer Schaukel schaukelt oder im Wasser schwimmt? Das hängt weniger damit zusammen, dass man so viel Kraft für diese Tätigkeiten braucht, als vielmehr damit, dass man wissen muss, wie genau die Bewegung verschiedener Körperteile aufeinander abgestimmt werden soll. Grobmotorik erfordert Kraft und Erfahrung.
Man kann Kinder zwar unterstützen, sich neue Fähigkeiten anzueignen, aber jede Hilfe wird nur dann effektiv sein, wenn das Förderangebot zur rechten Zeit kommt. Laufübungen werden ein Kind im Alter von fünf Monaten nicht dazu bringen, alleine zu gehen, während die gleichen Übungen ein paar Monate später eher effektiv sind. Auch das freie Sitzen kann das Kind nicht zu jeder beliebigen Zeit lernen, sondern erst, wenn die Rückenmuskulatur stark genug dafür ist. Startet man zu früh, kann das sogar schädliche Folgen haben! Es geht also darum, für jeden Entwicklungsstand die passenden Herausforderungen zu finden.
Allgemeine Trends der grobmotorischen Entwicklung
Die motorische Entwicklung von Kindern lässt sich durch zwei allgemeine Trends beschreiben: Mit dem »cephalo-caudalen Trend« (»vom Kopf zum Schwanz«) ist gemeint, dass Kinder als Erstes lernen, durch Anspannung der Nackenmuskulatur den Kopf von einer Unterlage abzuheben, sich im nächsten Schritt mit gestärkten Rücken- und Armmuskeln im Liegen von einer Unterlage abstützen können und erst am Schluss genügend Kontrolle über ihre Beine erlangen, um zu rollen, zu robben, zu krabbeln, zu stehen und schließlich auch zu laufen, zu hüpfen und zu springen. Ihre Körperbeherrschung entwickelt sich sozusagen »von oben nach unten«. Das ist aber nicht der einzige Entwicklungstrend.
Mit dem »proximo-distalen Trend« (»von innen nach außen«) ist gemeint, dass Kinder erst ihren Rumpf (Bauch und Rücken) kontrollieren, später die Arm- und Beinbewegungen und am Schluss die Hände und Finger oder ihre Füße und Zehen. (Die Bewegungskontrolle über Hände und Finger wird im Kapitel »Feinmotorik« noch genau besprochen.) Natürlich sind das alles nur sehr allgemeine Beschreibungen, aber sie helfen dennoch, die vielen einzelnen kleinen Entwicklungsschritte, die man in den ersten Lebensjahren beobachten kann, zu ordnen.
Beziehung der Grobmotorik zu anderen Lebensbereichen
Die Fähigkeit, sich einen Überblick zu verschaffen und sich im Raum fortzubewegen, hat beachtliche Auswirkungen auf andere Entwicklungsbereiche: Erst wenn das Kind seinen Kopf frei wenden kann, erschließt sich die Umwelt seiner Wahrnehmung in vollem Umfang. Es kann sich nach Geräuschen umdrehen oder Objekte mit dem Blick verfolgen. Sobald das Kind selbstständig seine Position im Raum bestimmen kann, kommt es an alle möglichen Dinge heran, die es interessieren. Es kann sich von Zimmer zu Zimmer bewegen, sich besser alleine beschäftigen oder anderen folgen. Es wird dadurch aber auch mehr Gefahren begegnen. Deshalb kommt es nun häufiger zu Ermahnungen und Begrenzungen. Diese neuen Erfahrungen beeinflussen die Wahrnehmung, die Denkentwicklung, die sozialen Beziehungen, die Selbstregulation und die Gefühle. Alles hängt zusammen.
Was Sie beim Umgang mit den folgenden Meilensteinen beachten sollten
Auf den folgenden Seiten finden Sie Beschreibungen einzelner Fähigkeiten, die mit der Grobmotorik zusammenhängen. Wir beginnen mit der Kontrolle über die Kopf- und Rumpfmuskulatur, kommen dann zu den Beinen und machen anschließend mit der Fortbewegung weiter: Zunächst geht es um die Bewegung am Boden, dann im Stehen. Auch die Balance ist Thema. Zu den anspruchsvolleren Übungen gehören hier das Hüpfen, Werfen und Fangen. Alle geschilderten Fähigkeiten lassen sich im Alltag leicht beobachten und sind wichtig für die weitere Entwicklung.
Wenn Sie das Buch einfach aus Interesse an der frühkindlichen Entwicklung lesen, macht es Ihnen vielleicht Spaß, sich Gedanken darüber zu machen, wie die verschiedenen Teilfähigkeiten zusammenhängen oder welche weiteren Meilensteine in die Sammlung aufgenommen werden könnten. Wenn Sie mithilfe des Buches die Entwicklung eines ganz konkreten Kindes begleiten möchten, lesen Sie bitte unbedingt die Hinweise zur Dokumentation, die Sie in der Einleitung finden, und nutzen Sie am besten die MONDEY-Kurzskala am Ende des Buches! Sie können auch Eintragungen auf den Buchseiten selbst vornehmen. Falls Sie eine Bestandsaufnahme vornehmen möchten, tragen Sie das heutige Datum ein und entscheiden Sie, ob die Fähigkeit aktuell gekonnt wird (Haken) oder nicht (Strich). Eine Bestandsaufnahme sollte nach Möglichkeit am Stück (das heißt für alle Meilensteine im Buch hintereinander) vorgenommen und nach wenigen Tagen abgeschlossen werden. Wurde die Bestandsaufnahme schon gemacht und das Kind hat den Meilenstein zu diesem Zeitpunkt noch nicht erreicht, können Sie später, wenn Sie das Verhalten zum ersten Mal beobachten, das entsprechende Tagesdatum eintragen. Zeigt das Kind das Verhalten an einem anderen Tag noch einmal, wird das zweite Datum notiert. Wollen Sie Ihre Entwicklungsdokumentation später auswerten, so ist es erforderlich, dass Sie die Überprüfung der bis dahin noch nicht erreichten Meilensteine mindestens alle zwei Wochen einmal durchführen.
Die vorliegende Buchausgabe enthält ganz am Ende auch eine Abbildung, aus der hervorgeht, in welchem Zeitpunkt Kinder einen gegebenen Meilenstein typischerweise erreichen. Sie können also prüfen, ob das beobachtete Kind hinsichtlich einer bestimmten Fähigkeit im Normbereich liegt. Möchten Sie dies gerne interaktiv tun, können Sie auch unter www.mondey.de einen eigenen Account anlegen und sich für die »Ampelfunktion« anmelden. Dann werden Sie bei jeder neuen Eintragung automatisch darüber informiert, ob der Sie interessierende Entwicklungsbereich »normal« entwickelt ist (Ampelschaltung grün), ob einzelne Meilensteine verspätet vorkommen (Ampelschaltung gelb) oder ob Anlass besteht, das Kind Fachleuten vorzustellen.
Beachten Sie ganz allgemein, dass jedes Kind seine ganz eigene Entwicklungslinie hat. So kann es durchaus sein, dass bestimmte Fähigkeiten gar nicht gezeigt werden. Zum Beispiel krabbeln nicht alle Kinder, bevor sie laufen, und mitunter finden sich höchst einfallsreiche Formen der Fortbewegung, die in keinem Buch stehen.
Gerade im Hinblick auf die Grobmotorik lässt sich das Entwicklungstempo nur bedingt beeinflussen. Es ist daher nicht sinnvoll, die Fähigkeiten eines einzelnen Kindes ständig mit Normtabellen zu vergleichen oder zu viel »Training« durchzuführen. Jedes Kind hat sein eigenes Tempo! Weil am Ende aber alle Kinder, bei denen keine Behinderung vorliegt, das Laufen und andere grobmotorische Fähigkeiten erlernen, dürfen Erwachsene, die die Kinder begleiten, sich entspannen und sich einfach mit den Kindern an ihren Fortschritten freuen. Wenn Sie wissen, welche Entwicklungsschritte aufeinanderfolgen, wird Ihnen das leichter fallen.
1 Das Köpfchen alleine heben
Der Kopf von Babys ist groß und schwer, wenn man ihn ins Verhältnis zum gesamten Körper setzt. Ihn zu heben, kostet viel Kraft. Es ist daher eine enorme Leistung, wenn es einem Baby erstmals gelingt, den Kopf selbstständig von der Unterlage zu lösen und oben zu halten. Warum sollte es diese Anstrengung auf sich nehmen? Ein kleines Baby verbringt zunächst viel Zeit in Bauchlage. Hier sind seine Möglichkeiten, die Umwelt neugierig zu erkunden, eingeschränkt. Es wird schnell langweilig. Wenn man nicht immer auf die gleiche Seite schauen möchte oder sich vom rechten auf das linke Ohr legen will, muss man erst lernen, den Kopf zu heben. Kinder, denen das gelingt, sind normalerweise auch in der Lage, den Kopf nicht nach hinten fallen zu lassen, wenn man sie an den Händen von der Rückenlage zum Sitzen hochzieht. Für beides braucht man eine kräftige Nacken- und Rückenmuskulatur.
Hinweise zur Förderung:
Als Erwachsener können Sie das Baby unterstützen, indem sie Anreize dafür schaffen, den Kopf von der Unterlage zu lösen. Lagern Sie das Kind in Bauchlage mit dem Kopf nach vorn auf der Wickelkommode, stellen Sie sich in Augenhöhe davor, und locken Sie es mit Ihrer Stimme. Oder legen Sie interessante Spielzeuge so auf eine Unterlage, dass das Baby sie nur sehen kann, wenn es den Kopf anhebt. Das macht am meisten Sinn, wenn das Kind schon von selbst mit dem Abstützen begonnen hat. Dann ist der beste Zeitpunkt, es zusätzlich zu ermutigen und sich mit ihm zu freuen, wenn die Anstrengung zum Ziel führt! Achten Sie darauf, dass das Kind sein Gesicht oder seinen Kopf nicht verletzen kann, falls es zwischendurch aufgibt und sich fallen lässt. Die Unterlage sollte aber flach und fest sein. Den Kopf von einem Kissen zu heben, ist viel schwerer als von einer Decke oder Matratze.
2 Den Kopf frei bewegen
Da unsere Augen fest im Kopf verwachsen sind, können wir den Blick nur begrenzt durch Augenbewegungen verändern und müssen auch unseren Kopf mitdrehen, wenn wir Dinge scharf sehen wollen, die sich nicht innerhalb eines schmalen Winkelbereichs vor unserer Nase befinden. Für Babys erschließt sich mit der Kopfkontrolle die Möglichkeit, interessante Dinge, die sich aus ihrem Blickfeld heraus bewegen, mit den Augen zu verfolgen. Dafür muss die Nackenmuskulatur gestärkt werden. Anfangs sind die Kopfbewegungen ruckartig und es kann leicht passieren, dass der schwere Kopf zur Seite kippt. In den ersten Lebenswochen ist es daher sehr wichtig, den Nacken des Kindes stets gut abzustützen, wenn man es trägt!
Hinweise zur Förderung:
Möchten Sie das Kind fördern, Kopfkontrolle zu erwerben, dann warten Sie am besten, bis es sich in Bauchlage bereits gut aufstützen kann, denn das ist ein Zeichen dafür, dass die Nackenmuskulatur bereits kräftig genug ist, den Kopf zu halten. Wenn das Kind auf dem Rücken liegt, können Sie nun versuchen, es an beiden Händen langsam hochzuziehen. Lässt es das Köpfchen dabei nicht mehr nach hinten hängen, sondern hält es zwischen den Schultern, dann stimmt die Körperspannung. Halten Sie es von nun an häufig mit dem Blick nach vorn gerichtet auf dem Schoß und setzen sich an Plätze, wo sich Menschen oder Objekte vorbeibewegen. Das Kind wird von ganz alleine üben, seinen Kopf zu wenden. Wenn es gerade erst damit beginnt, seine Nackenmuskulatur zu kräftigen, wird es sich zunächst mit dem Hinterkopf an Ihrer Brust anlehnen und den Kopf gestützt drehen. Sobald Sie merken, dass es schon stark genug dafür ist, den Kopf auch alleine zu balancieren, fordern Sie es ruhig immer wieder dazu auf, indem Sie Ihre Körperhaltung so ändern, dass der Kopf für eine kurze Zeit frei gehalten werden muss.
3 Sich in Bauchlage mit gestreckten Armen aufstützen
Diese Fähigkeit erfordert viel Muskelarbeit des Oberkörpers. Neben dem Nacken sind jetzt auch die Schultern, die Arme und der untere Rücken beteiligt. Die Hände und Handgelenke halten das Gewicht des Oberkörpers – gleichzeitig steigt die Beweglichkeit des Kopfes, der nun flexibel in jede Richtung gewendet werden kann. Das Kind verschafft sich so einen Überblick über das, was vor ihm liegt. Ist es bereits geübt darin, sich in Bauchlage auf den gestreckten Armen abzustützen, wird es bei nächster Gelegenheit versuchen, einen Arm von der Unterlage zu lösen, um nach einem Spielzeug zu greifen, das vor ihm liegt. Notieren Sie das erste Beobachtungsdatum, wenn Sie sehen, dass nicht nur der Kopf, sondern auch der Oberkörper mit gestreckten Armen von der Unterlage abgehoben wird und das Kind diese Position mehr als drei Sekunden halten kann!
Hinweise zur Förderung:
Wollen Sie das Kind ermutigen, Arme, Brust, Schultern und Kopf von der Unterlage zu lösen, dann schaffen Sie Anreize! Lagern Sie es auf dem Bauch und lassen Sie interessante Dinge vor seinem Kopf passieren. Angenehme neue Geräusche, die nicht weit vom Kopf entfernt zu hören sind, regen Anfänger dazu an, den Kopf nach oben zu recken. Lieblingsspielzeuge, die das Baby gerne haben möchte, geben dem schon geübten Kind Impulse, einen Arm von der Unterlage zu lösen und nach dem Spielzeug zu greifen. Dabei hilft es, wenn die Unterlage nicht zu weich und nicht zu hart ist. Eine weiche Matte macht die Übung besonders anstrengend und ein Steinboden macht sie besonders gefährlich, denn es kann immer noch passieren, dass der Kopf auf den Boden fällt, wenn die Kraft nicht mehr reicht. Wenn das Kind einen vollen Bauch hat oder müde ist, wird es wenig Lust auf diese Anstrengung haben. Wählen Sie lieber einen Zeitpunkt, wenn das Kind ausgeruht und aufmerksam ist!
Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch bietet den Rest des Kapitels und mehr über Beobachtung, Begleitung und Förderung in den ersten Jahren vom Baby zum Kleinkind.
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