Direkt zum Inhalt

Leseprobe »Von Artificial zu Augmented Intelligence«: Mehr Zukunft wagen

Über kaum etwas wird so inflationär gesprochen wie über die digitale Transformation oder die vermeintlich endlosen Möglichkeiten neuer Technologien – von Blockchain übers Metaversum und Künstliche Intelligenz. Anhand des Konzepts der Augmented Intelligence werden nicht nur zahlreiche Denkfehler der augenblicklichen Debatte offenbart. Vielmehr lenken die Autoren den Blick auf die Kunst. Diese schärfe nicht nur unseren Blick dafür, wie die Möglichkeitsräume, die sich mittels Technologie und Software ergeben, gezielt genutzt werden können. Der Blick auf die Kunst rückt auch den Menschen wieder gezielt ins Zentrum der digitalen Transformation und zeigt eindrucksvoll auf: Wir haben es in der Hand, die Zukunft zu gestalten!
Marty McFly alias Michael J. Fox und Christopher Lloyd als Doc Brown im Film »Zurück in die Zukunft« von 1985.

Eine der ersten Science-Fiction-Erzählungen geht so: Es leben Aliens auf dem Mond. Diese »Mondgeschöpfe« durchqueren mit ihren schwammigen und porösen Körpern scharenweise ihre Welt, »teils zu Fuß, mit Beinen ausgerüstet, die länger sind als die unserer Kamele, teils mit Flügeln«. Einige sterben während der Tageshitze ab, aber das ist nicht weiter schlimm, da sie während der Nacht wieder aufleben, »umgekehrt wie bei uns die Fliegen«.

Was uns wie eine Fantasterei erscheint, mag dem Autor keineswegs so absurd vorgekommen sein. Denn aufgeschrieben wurden diese Zeilen im Jahr 1609, also rund 350Jahre bevor Neil Armstrong seinen Fuß auf den Mond setzte. Mit »Somnium«, lateinisch für »Traum«, beschreibt der Astronom und Naturphilosoph Johannes Kepler eine fiktionale Reise zum Mond, jenem Erdtrabanten also, dem auch Galileo Galilei dank dem technologischen Fortschritt seiner Zeit  – einem Fernrohr  – zur gleichen Zeit viel Aufmerksamkeit schenkte. Walt Disney griff Keplers Traum vom Mond 195 in seiner humorvollen Kulturgeschichte des Erdtrabanten  – Disneyland: Man and the Moon  – wieder auf. In einer kurzen Trickfilmsequenz sitzt Kepler in seinem Bett und verfasst einen Text über eben jenen Mond. Während er schreibt, ereignet sich eine Sonnenfinsternis und er schläft ein. Da tauchen vier Zwerge (»Monddämonen«) an seinem Fenster auf und tragen das Bett mit dem schlafenden Mathematiker auf dem Mondschatten (der sogenannten Keplerbrücke) zur Mondoberfläche. Dort erwacht Kepler und trifft auf ein seltsames Wesen, das aus nur einem Auge auf zwei Beinen besteht. Beide beobachten sich gegenseitig durch ein Fernrohr. Kepler: »Amazing!«

Eine reizvolle Anekdote, vielleicht, und doch ungemein aktuell. Warum? Es mag uns heute schwerfallen, dies zu glauben, aber Wissenschaft und Fiktion waren einander zu Zeiten Keplers nicht fremd. Zwar wusste man schon einiges über den Mond, wie auch über die anderen Planeten und deren Umlaufbahn. Die Details aber überließ man der Vorstellungskraft. Was uns heute als »Gedöns« oder Fantasterei vorkommt, war in ihrer Bedeutung zu jener Zeit kaum zu überschätzen, da die Suche nach der vera causa oftmals mit großen Gefahren für Leib und Leben verbunden war. Mal wurde die Natur gewalttätig, mal die Inquisition. Wer das Risiko einging, der wollte schon lieber einen magischen Magnetberg im Nordmeer  – 33  deutsche Meilen im Durchmesser, umgeben von Bernstein  – finden als ein unsichtbares und schwer greifbares Gravitationsfeld. Es war die Vorstellungskraft, die zum Treiber der Wissenschaften wurde.

Im Verlauf der Zeit verlor die fantastische Vorstellungskraft hingegen an Kraft. Dort wo Kepler und seine Zeitgenossen noch aufs Mystische verwiesen, sahen seine Nachfahren der Industrialisierung Naturgesetze walten. Wo zuvor noch die Magie oder göttliche Gewalt ihr Unwesen trieben, sah man fortan Mechanik am Werk. »Betrachte das gesamte Weltsystem, das Ganze und jedes seiner Teile: Du wirst sehen, dass es nichts anderes ist als eine große Maschine, unterteilt in unzählbare Vielfalt kleinerer Maschinen«, schrieb der Philosoph David Hume im 18. Jahrhundert. Die Welt glich fortan einem Uhrwerk. Und Fortschritt ist seither deterministisch bestimmt. Wer käme heute noch auf die Idee, an der Uhr zu drehen?

Der Glaube an die Technologie ersetzte dabei zwar nicht die Vorstellungskraft. Sowohl Keplers »Traum« als auch die Dystopien von Aldous Huxley und H.G. Wells eint die Bedeutung der Fiktion. Letztere hatte aber keinen Platz mehr in einer zunehmend aufgeräumten, rationalen, auf Gleichförmigkeit ausgelegten Gegenwart. Fortan gehörte die Vorstellungskraft und die ihr innewohnende Varianz in die Zukunft. Dort, und nur dort, durfte man sich austoben. In der Folge entfremdeten sich Wissenschaft und Fiktion zusehends.

Heute ist der Beziehungsstatus »kompliziert«. In Gestalt von einigen wenigen Visionären hält die Fiktion gelegentlich Einzug in unsere Welt. Es sind moderne Geschichtenerzähler, eigenwillige und auch deshalb unergründliche Genies, die seltsam entrückt die öffentliche Debatte bestimmen und vom autonomen Fortschritt künden. Überschrift: »Fortschritt durch Technik«. Der Mensch bleibt Zuschauer (eben nicht »Vorsprung durch Menschen«). Jedenfalls tritt der Mensch nur selten als Autor oder gestaltende Kraft in Erscheinung. Gegessen wird, was auf den Tisch kommt. Und während wir dasitzen, nimmt der Fortschritt Fahrt auf. Es fällt uns schwer, Schritt zu halten. Zusehends leben wir in einem Zustand, den wir nicht mehr verstehen, benutzen Technik, die wir nicht erklären können, und treffen persönliche Entscheidungen, obwohl wir deren gesamtheitlichen Folgen  – sofern wir sie denn überblicken können  – nicht gutheißen. In immer schnellerer Abfolge werden uns Technologien und deren Verheißungen als »normal« präsentiert, bevor diese überhaupt real existieren. Quantencomputing? Schon lange da. Autonomes Fahren? So was von 2015. Metaversum, Blockchain, Web3? Been there, done that! Wem da nicht schwindelig werde, der sei nicht informiert, schrieb der Philosoph Peter Sloterdijk. Und während wir als Zuschauer versuchen, mit der technologischen Entwicklung und den Erzählungen der Visionäre Schritt zu halten, nehmen uns die Fliehkräfte der Moderne mehr Halt, als dass sie uns geben. Kraft- und mutlos finden wir uns wie im Schleudergang zunehmend an den Extrempositionen ein  – zwischen den Positionen der dystopischen Aussteiger und jenen der Technologieutopisten wird es einsam.

Verstärkt wird das Gefühl zusehends durch allerlei Krisen. Durch Krieg, Klimakrise, Pandemie, in sich zusammenfallende Wertschöpfungsketten, Chipkrise, Arbeiterlosigkeit, und, und, und scheinen die gängigen Erklärmodelle, die bisher die Welt zusammenhielten, an Klebekraft zu verlieren. Wir nähern uns dem Ende der Metaerzählungen, wie Jean-Francois Lyotard es beschrieben hat: »Es gibt keine umfassende Erzählung mehr  – wie einst die aufklärerische von der Rationalisierung der Welt oder die emanzipatorische vom Marxismus.« Für Lyotard ist dies mehr als nur eine Randerscheinung, sondern vielmehr der Beginn einer neuen Epoche zunehmender Individualisierung: »Die Postmoderne beginnt dort, wo dieses Ganze aufhört.« Was bleibt ist ein Gefühl der Ohnmacht, von dem all jene zehren, die dem Determinismus das Wort reden.

All das muss nicht sein.

Die digitale Transformation ist nicht einfach etwas, das passiert. Sie ist auch nicht etwas, das einigen wenigen Experten vorbehalten ist. Die transformative Kraft der Digitalisierung steht uns allen offen.

Vor diesem Hintergrund ist es unser Ziel, in den Worten des Philosophen Wittgensteins, einen »Aspektwechsel« zu wagen  – einen alternativen Blick auf die digitale Transformation also, der für sich nicht in Anspruch nimmt, die existierenden Sichtweisen zu ersetzen. Vielmehr geht es uns darum, eine positivere, selbstbestimmtere und auch kreativere Perspektive auf die Herausforderungen wie auch Chancen der digitalen Transformation zu wagen.

Dabei wollen wir bewusst einen weiten Bogen spannen. Vor dem Einblick kommt der Überblick. Wir setzen einzig Neugier und Interesse, vielleicht auch ein wenig Geduld, aber bewusst keine Fachkenntnis voraus. Das mag ein unüblicher Ansatz sein. Wir sind aber zutiefst davon überzeugt, dass das nachhaltige (und immer wiederkehrende) Gelingen der digitalen Transformation kein exklusives Vorhaben sein darf. Sie erfordert Teilhabe. Und Teilhabe erfordert  – neben Neugier, Antrieb, Mut  – das Wissen über den weiteren Kontext, in dem man sich bewegt. Oder in den Worten von Wolf Lotter: »Wenn man einkaufen geht, muss man nicht notwendigerweise wissen, wie das Warenmanagement sowie die Kassensysteme funktionieren. Aber man sollte schon wissen, dass man in einem Supermarkt ist.« Doch wo beginnt man, wenn alles in Bewegung zu sein scheint?

Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Von Artificial zu Augmented Intelligence« bietet den Rest des Kapitels und mehr.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.