Leseprobe »Leben geht nur vorwärts«: Wann haben wir genug psychologisiert?
Wann haben wir genug psychologisiert?
Die Psychologie hat in großen Gruppen in unserer Gesellschafft einen starken Einfluss gewonnen. Wir achten sehr auf unsere Gefühle und unsere psychische Befindlichkeit. Bei anderen beobachten wir deren Macken ganz genau und analysieren, was dahintersteckt – Narzissmus, toxische Muster, schwierige biografische Erfahrungen. Gleichzeitig ist es sehr en vogue, sich um sein inneres Kind zu kümmern, Self-Love und Self-Care zu praktizieren und stets auf die eigenen Grenzen zu achten. Eine Absage an ein Ehrenamt wird nicht mehr begründet mit »Keine Lust, keine Zeit«, sondern mit »Ich lerne gerade, mich abzugrenzen«. Und wenn wir den Eindruck haben, dass jemand eine schwierige Phase durchmacht, dann schicken wir ihn zur Psychotherapeutin. Auch uns selbst analysieren wir viel, der Blick geht oft in die Vergangenheit: Was hat dazu geführt, dass wir uns heute so fühlen, so handeln, diese Ängste haben? Wie wurden wir von Eltern, Lehrern und der Welt behandelt, sodass wir uns heute unwohl fühlen?
Im ersten Teil des Buches möchte ich dieses Psychologisieren als Errungenschaft würdigen und klarmachen wofür es gut ist gleichzeitig aber auch auf dessen Grenzen hinweisen. Es geht also auch darum, wann uns das Psychologisieren nicht mehr weiterbringt, uns im Gegenteil eher auf der Stelle treten lässt. Denn wenn es überhandnimmt, beschäftigen wir uns womöglich zu wenig damit, wie wir der Gegenwart gut begegnen und unser Leben entsprechend unserer Werte gestalten.
Das liegt zum einen daran, dass der Trend zum Psychologisieren stark einhergeht mit einem Trend zur Nutzung von Psychotherapie. Dort geht es um ähnliche Themen, und viele psychologische Techniken, etwa rund um die Themen inneres Kind, Self-Love und Self-Care, sind auch über die Psychotherapie in die Gesellschaft geschwappt. Wissenschaftliche Studien zur Wirksamkeit von Psychotherapie geben uns interessante Hinweise darauf, wann und wie uns das Psychologisieren weiterbringen kann und wo seine Grenzen liegen.
Psychische Probleme sind kein Tabu mehr
Im Jahr 2023, in dem ich dieses Buch geschrieben habe, bin ich fünfzig Jahre alt geworden. In diesem halben Jahrhundert ist im Umgang mit psychischen Problemen und in der Anwendung von Psychotherapie unglaublich viel passiert.
Als ich noch ein Kind war, in den 80er-Jahren, da gab es kaum psychische Störungen oder Probleme, und mit Psychotherapie hatte man nichts zu tun. Vielleicht wurde mal gemunkelt, dass jemand aus der Nachbarschaft einen »Nervenzusammenbruch« hatte oder dass ein Problem »psychosomatisch« sei. Das war dann irgendwie dubios und ging hoffentlich irgendwann wieder vorbei.
Die Nachkriegsgeneration, die damals die Gesellschaft bestimmte, war darauf gepolt, alles möglichst gut hinzubekommen, den »Hintern zusammenzukneifen«, möglichst normal zu sein, den Nachbarn zu gefallen und nicht durch Probleme oder »Extrawürste« aufzufallen. Schwierige Gefühle, Ängste, starke Sorgen oder Probleme waren kein großes Thema.
Beschäftigung mit der Biografie ist nicht alles
Es gibt mehrere Gründe, warum ich den starken Fokus auf schwierige Kindheitserlebnisse, Traumatisierungen und das innere Kind mittlerweile häufig auch problematisch finde. Deshalb möchte ich auch unbedingt meine Überlegungen dazu mit dir teilen. Ich habe dazu Thesen aufgestellt, die ich dir gerne genauer erklären würde.
These 1: Nicht jedes blöde Erlebnis ist ein Trauma, und ein Schutz vor allen Herausforderungen ist auch nicht gut
Wie besprochen ist ein Trauma eine hoch bedrohliche Situation. Sie kann zu massiven psychischen Folgen führen. Wir erleben aber mittlerweile einen völlig übertriebenen und maßlosen Gebrauch des Begriffs »Trauma« für alle möglichen negativen Erlebnisse. Es gibt gesellschaftliche Gruppen, in denen alles, was in irgendeiner Form negative Gefühle auslösen könnte, als »Trauma« bezeichnet wird. Das geht bis hin zu Triggerwarnungen auf Büchern, in denen (auch) von Gewalt, Krieg oder Tod erzählt wird. Damit wird angezeigt: Ich soll bloß gut aufpassen, wenn ich dieses Buch aufschlage, denn womöglich ertrage ich es nicht und werde traumatisiert. Sicherlich ist es möglich, dass so ein Buch bei mir unangenehme Gefühle auslöst – vielleicht treten mir auch Tränen in die Augen, oder ich habe schlechte Träume, wenn ich es vor dem Einschlafen lese – aber mit einem Trauma (wie oben kurz definiert) hat das einfach nichts zu tun.
Diese übermäßige Sensibilität wird in unserer Gesellschafft insbesondere von jüngeren, besser gebildeten Gruppen vorgelebt und auch eingefordert. So erscheinen die Triggerwarnungen auf Büchern gehäuft in Literaturlisten für Studierende. Auch ich habe schon einmal von einem Studierenden auf meine Bitte hin, in einem Onlineseminar die Kamera anzuschalten, den Trauma-Knock-out erfahren: Diese Exposition sei für ihn so belastend und traumatisierend, dass er unzumutbar lange brauche, um sich davon zu erholen, deshalb könne er seine Kamera nicht anschalten. Das war wohlgemerkt ein Seminar mit einem hohen Anteil an Selbsterfahrung und persönlicher Reflexion mit viel Eigenbeteiligung und häufiger Kleingruppenarbeit. Die Teilnahme war komplett freiwillig. Alle anderen hatten die Kamera an und bewerteten die relativ persönlichen Begegnungen, die dadurch möglich wurden, sehr positiv.
Sicherlich kann es nicht schaden, gelegentlich sein Augenmerk darauf zu richten, dass auch vermeintliche Kleinigkeiten bei manchen Menschen womöglich nachhaltige Sorgen und Ängste auslösen können. Aber es gibt auch vernünftige Grenzen. Wenn man jedes alltägliche Erlebnis vor allem in Hinblick auf sein Traumapotenzial bewertet, kommt man irgendwann im Alltag einfach nicht mehr zurecht.
Deshalb möchte ich die Adressaten und manchmal auch die Einfordernden solcher Triggerwarnungen meinerseits warnen: Es gibt kein Leben ohne unangenehme Erlebnisse! Krankheit, Tod, Krisen aller Art warten auf jeden von uns. Das lässt sich gar nicht vermeiden. Wenn wir jeder entfernten Berührung mit einem Problem oder einem unangenehmen Gefühl aus dem Weg gehen wollen, sind wir irgendwann nicht mehr lebensfähig. Im Gegenteil: ohne ein gewisses Maß an Herausforderungen und Hürden bauen wir nicht die Resilienz auf, die wir benötigen, um im Leben zurechtzukommen. Das Beispiel meiner jungen Kollegin oben macht das deutlich. Wenn man nie Schwierigkeiten erlebt hat, ist man diesen, sobald sie dann doch irgendwann auftreten, vielleicht nicht gewachsen. Denn die Betroffenen lernen nicht, damit umzugehen, und die Angst vor Hürden oder Problemen kann riesig werden. Hundertprozentige Traumavermeidung wird niemals negative Gefühle besiegen können!
Nur wenn wir schon Hürden überwunden haben, können wir auch das Selbstvertrauen entwickeln, dass wir uns den Herausforderungen des Lebens schon werden stellen können. Jede Hürde, die wir überwunden haben, erweitert enorm unseren Handlungsspielraum und verstärkt ein begründetes Gefühl von Kompetenz und Selbstwirksamkeit. Natürlich müssen wir nicht jede Hürde angehen – wir dürfen uns auch mal zurücklehnen und den einfachen Weg gehen. Wenn ich allerdings alle Herausforderungen vermeide, lässt das ein durchaus begründetes Gefühl von Unsicherheit oder Inkompetenz zurück. Deshalb ist es wichtig, nicht jedes unangenehme Erlebnis und jede Hürde zum »Trauma« aufzubauschen – einmal ganz abgesehen davon, dass es die Erfahrungen von Menschen, die wirklich schlimme Traumata erlebt haben, indiskutabel nivelliert.
Viele Kinder und junge Menschen sind heute vielleicht eher zu wenig Herausforderungen ausgesetzt. Denn unsere Kinder wachsen immer behüteter auf und haben immer weniger unbeaufsichtigten Bewegungsfreiraum. Zum Beispiel spielen Kinder heute im Schnitt zwei Jahre später draußen als ihre Elterngeneration, nämlich erst mit etwa elf statt wie früher mit durchschnittlich neun Jahren.
Durch »helikopterartiges« Umkreisen wollen viele Eltern ihren Kindern Hindernisse aus dem Weg räumen, sie unbelastet und beschützt wissen und sicherlich auch Traumata vermeiden. Es kann aber passieren, dass sie damit manchmal das Gegenteil erreichen. Denn es ist für Kinder wichtig, auch unbeaufsichtigt zu spielen, Abenteuerspiele zu spielen, bei denen zum Beispiel neues Terrain erkundet wird, und sich – natürlich immer im altersangemessenen Maße – auch einmal Risiken zuzumuten. Dadurch lernen sie, Unsicherheit und Aufregung auszuhalten und Herausforderungen ohne Ängste anzugehen.
Wildes Spielen, bei dem geklettert, schnell gerannt oder weit gesprungen wird, hat positive Effekte nicht nur für die körperliche und sportliche Entwicklung, sondern auch auf die psychische und soziale Reife sowie die kognitive Entwicklung. Auch ist das eigen verantwortliche und wilde Spielen förderlich für das Verständnis von Regeln und Grenzen. Kinder, die sich beim Rangeln bereits einmal einen schmerzhaften blauen Fleck eingefangen oder beim Schnitzen einen kleinen Schnitt im Finger geholt haben, gehen viel achtsamer miteinander und mit gefährlichem Werkzeug um. Es wäre deshalb vermutlich wichtiger, Kinder »so sicher wie nötig« zu erziehen anstatt »so sicher wie möglich«. Dann können sie besser lernen, Risiken gut einzuschätzen und damit angemessen umzugehen. Ganz abgesehen davon spielen Kinder, die allein rausdürfen, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch mehr draußen und sitzen weniger vorm Bildschirm. Das ist wichtig für die Prophylaxe etwa von Übergewicht, Sehschwäche und anderen chronischen Erkrankungen und fördert ein gesundes Leben.
These 2: Niemand fühlt sich immer super
Menschen, die sich immerzu pudelwohl fühlen, die gibt es nicht. Jeder Mensch kennt Momente der Unsicherheit, der Selbstkritik oder der Einsamkeit. Es wurde schon erklärt, was sogenannte Barnum- Statements sind – »Ich bin selbst mein schärfster Kritiker«, gehört zu ihnen, ist dies doch einer der Sätze, denen so viele Menschen zu- stimmen, so dass sie in jedem Horoskop zu finden sind! Niemand ist also in jedem Moment seines Lebens mit sich einverstanden, zufrieden, selbstbewusst und in völliger innerer Balance.
Damit will ich die Beschäftigung mit eigenen negativen Gefühlen nicht rundum abwerten. Es steckt, wie erwähnt, viel Potenzial für Erkenntnisgewinn darin. Allerdings ist es auch nicht sehr zielführend, bei jedem negativen Gefühl in der Vergangenheit nach dem dazugehörigen Trauma zu graben. Denn selbst wenn du eine überforderte oder genervte Mutter in dieser Biografie findest, was machst du dann damit? Du hast vielleicht eine Schuldige für dein Leid gefunden – aber die kann wiederum genauso gut begründet vorbringen, dass auch sie nur ein Mensch mit seelischen Verletzungen ist, die es ihr unmöglich machen, immer liebevoll und fürsorglich zu sein. Den negativen Gefühlen in der Gegenwart kannst du dich nur selbst stellen. Die damals genervte und überforderte Mutter kann dir dabei vermutlich nicht helfen. Dein Blick muss folglich weg von der damaligen Situation direkt in den erst einmal unangenehmen Moment in der Gegenwart gerichtet werden.
Gewisse seelische Erschütterungen und Frustrationen sind Teil des Lebens. Und gelegentliche Unsicherheiten gehören zum ganz normalen menschlichen Erleben schlicht dazu. Wo allerdings genau die Grenze zwischen »normalen«, »schwierigen« oder gar »traumatisierenden« negativen Erlebnissen verläuft, das ist dabei manchmal natürlich schwer zu sagen – zumal es um Erinnerungen geht, die sich für die Beteiligten auch sehr unterschiedlich darstellen können. Wenn man sich aber vor Augen führt, dass Menschen soziale Wesen sind und ohne die anderen nicht überleben könnten, ist eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit anderen Menschen aus evolutionärer Perspektive sogar sinnvoll: Ich sollte mich ganz prinzipiell besser ab und zu infrage stellen und unsicher sein, ob ich bei anderen ankomme. Dadurch bin ich in einer Gruppe viel flexibler, als wenn ich völlig von mir überzeugt bin und mich dadurch mit einer Gruppe eventuell nicht gut arrangieren kann.
Das gilt auch umgekehrt: Wäre dir als Kind jede Frustration dieser Art erspart geblieben, hättest du es nicht geschafft, auch ein wenig abzuhärten und resilient zu werden, gegen die Frustrationen, die auch später im Leben unweigerlich auf dich warten. Oder du wärst im Trauma-Vermeidungs-Helikopter-Teufelskreis gelandet und hättest heute andere negative Gefühle, nämlich Ängste vor jeder Herausforderung.
Insgesamt ist die Biografiearbeit also ein sehr wertvoller Zwischenschritt, aber noch nicht die Lösung für all unsere emotionalen Probleme.
These 3: Man sollte Erinnerungen nicht überbewerten – sie können auch falsch sein
Davon abgesehen ist Erinnerung – auch die Erinnerung an Ereignisse in meiner Biografie – immer auch in hohem Maße konstruiert. Das Gedächtnis funktioniert nicht wie eine Kamera, die Aufnahmen von Situationen macht, die dann irgendwo als saubere Kopie gespeichert werden. Stattdessen konstruiert es die erinnerten Bilder und Sinneseindrücke wieder neu und nutzt dafür alle möglichen Schlüsselreize, zum Beispiel Wissen über die Vergangenheit oder die Gefühle, die ich gerade erlebe. Dadurch können sich Erinnerungen auch verändern, oder es können Ereignisse erinnert werden, die gar nicht passiert sind.
Es gibt auch viele wissenschaftliche Untersuchungen zu der Frage, ob Menschen falsche Erinnerungen gezielt »implantiert« werden können, zum Beispiel mit angeleiteten Vorstellungsübungen zu der Situation, die erinnert werden soll. Solche Studien wer- den insbesondere in der Kriminalistik und Forensik durchgeführt, beispielsweise um einzuschätzen, wie akkurat Zeugenaussagen sein können. Dabei zeigt sich, dass es ziemlich einfach ist, Menschen mit bestimmten Anleitungen dazu zu bringen, falsche Dinge zu erinnern.
Viele Menschen kennen es von sich selbst, dass sie Kindheitserinnerungen haben, die einfach nicht stimmen können. Zum Beispiel erinnert sich mein Cousin ziemlich bildlich an einen Kindheitsurlaub in Österreich – da war er aber gar nicht dabei, weil er diesen Urlaub bei unseren Großeltern verbracht hatte, was er lange nicht wusste. Die Bilder von den Bergen im Fotoalbum, die Erzählungen von dem Gewitter auf der Wanderung – das alles hat sich bei ihm als eigene Erinnerung festgesetzt. Dazu gehört auch, dass manchmal verschiedene Beteiligte ein und dasselbe Ereignis völlig unterschiedlich erinnern.
Erinnerungen sind auch abhängig von der aktuellen Stimmung – sie sind »stimmungskongruent«. Das heißt, wenn du grade ausgelassen und gut gestimmt bist, wirst du dich eher an lustige oder schöne Sachen erinnern – oder du wirst ein Ereignis, das du erinnerst, eher positiv einschätzen. Wenn du dich gerade selbstbewusst fühlst, wirst du eher Dinge erinnern, die dazu passen. Eine negative, depressive Stimmung führt dagegen wahrscheinlicher dazu, dass Dinge negativer erinnert werden oder auch mehr negative Dinge falsch erinnert werden.
In diesem Zusammenhang gibt es schon seit Jahrzehnten eine große Debatte darüber, ob Erinnerungen, die durch Therapien oder andere gezielte psychologische Techniken auftauchen, zutreffen oder nicht – den sogenannten »Memory War« (»Erinnerungskrieg«), der vor allem in den 80er- und 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA tobte. Achtung: Klar erinnerte Traumata, die eine Person schon seit ihrer Kindheit mit sich herumschleppt und denen sie nicht entkommen kann, sind nicht gemeint. Sondern es geht um Erinnerungen, die auftauchen, nachdem zum Beispiel gezielt Vorstellungsübungen mit »Rückführungen« in die Kindheit auf der Suche nach Traumata durchgeführt werden, bei denen dann genau solche Traumabilder auf einmal auftauchen und sich wie eine Erinnerung anfühlen. Letztlich kann man nicht in jedem Einzelfall sicher sagen, ob eine solche Erinnerung mit einem realen Erlebnis korrespondiert oder nicht – nicht jede derartige »Erinnerung« ist wirklich passiert. Es gibt falsche Erinnerungen. Und es treten auch immer wieder Fälle auf, in denen sehr eindeutig durch gezielte therapeutische Techniken falsche Missbrauchserinnerungen entstanden sind.
Wichtig ist mir dabei: Das alles hat in den meisten Fällen nichts mit Einbildung, Lügen, Erfindung, Manipulation oder Ähnlichem zu tun. Sondern so funktioniert einfach unser Gedächtnis. Erinnerung ist Konstruktion, die zu dem passt, was wir von uns wissen und glauben oder wie es uns gerade geht. Dies passiert in der Regel natürlich unbewusst. Aber man kann sich solche Effekte durchaus auch bewusst machen. Wenn ich gerade in einer depressiv-grüblerischen Stimmung versunken bin, werden meine spontanen Erinnerungen eher kongruent mit dieser Stimmung sein. Wenn ich mir diese Stimmung und ihre Effekte auf meine Erinnerungen klar vor Augen führe, kann ich davon auch etwas Abstand bekommen, und der Effekt der Stimmung wird schwächer. Aus diesem Grund gibt es übrigens auch als gute Technik gegen depressive Stimmung den Vorschlag, sich gezielt an positive Ereignisse im eigenen Leben zu erinnern. Denn umgekehrt können auch positive Erinnerungen die Stimmung hochziehen – so wie gezielte negative Erinnerungen die Stimmung natürlich drücken können. Vielleicht hast du solche Erfahrungen selbst auch schon gemacht.
These 4: Die Dosis entscheidet über »Medikament oder Gift«
Ich möchte immer wieder betonen, dass die Auseinandersetzung mit eigenen Mustern und Blockaden durchaus gut und richtig sein kann. Aber nur in der richtigen Dosis. Und sie sollte vor allem dem Ziel dienen, zu verstehen, was man selbst anders machen kann, um besser die eigenen Bedürfnisse verfolgen zu können und dabei störenden Mustern zu entkommen oder besser damit zu leben. Andernfalls kann es eher schwierige Konsequenzen haben.
Was passiert ist, ist passiert – und ob sich ein Leben wirklich anders entwickelt hätte, wenn die Mutter nicht manchmal etwas ruppig reagiert hätte, wer weiß das schon wirklich? Mal ganz zu schweigen von den Situationen, in denen ausgeprägte falsche Traumaerinnerungen produziert werden – dann wird womöglich den Eltern oder anderen nahen Bezugspersonen massives Fehlverhalten vorgeworfen, das in Wirklichkeit nie stattgefunden hat. Das ist höchst unfair und beschädigt in der Regel auch die Beziehungen zwischen allen Beteiligten massiv.
Zudem ist die psychotherapeutische Behandlung mit einem starken Fokus auf Traumatisierung nicht immer hilfreich. Viele Betroffene erleben dadurch auch Verschlechterungen in ihrer Stimmung. Das führt dazu, dass von manchen Traumaexperten mittlerweile auch die sogenannte »Present-Centered Therapy« empfohlen wird. Diese richtet sich statt auf die Arbeit am Trauma in erster Linie auf die Verbesserung der aktuellen Lebenssituation. Sie ist häufig ebenso wirksam wie Traumatherapie, wird von den Betroffenen aber oft besser akzeptiert. Darüber hinaus kann sie einfacher sein, denn man muss sich nicht mit den schwierigen Traumaerinnerungen auseinandersetzen.
Ich beschäftige mich dann mehr damit, wie (schlecht) es mir geht und warum, als damit, wie es mir besser gehen kann. Dahinter steckt oft auch die Annahme, dass es mir eh erst besser gehen kann, wenn ich irgendetwas irgendwie aufgearbeitet habe. Das funktioniert aber so nicht – ohne ein aktives Anders-Herangehen an mein Leben wird sich in aller Regel wenig ändern.
Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Leben geht nur vorwärts«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.