Leseprobe »Musterbruch«: Überraschende Lösungen für wirkliche Gleichberechtigung
Weibliche Mindervertigkeitsgefühle abbauen
»[A]s a woman you’re always either too old or too young for things, because the perfect age is when you’re a man.« @cassrattray
Eine wichtige Voraussetzung für Gleichberechtigung ist, dass wir uns gleichwertig fühlen. Nur dann können wir uns auf Augenhöhe begegnen. In allen anderen Fällen bleiben wir in einem Machtgefälle, das Aushandlungsprozesse erschwert. Bedauerlicherweise fühlen sich viele Frauen mindestens unbewusst den Männern gegenüber alles andere als gleichwertig. Dabei basieren die weiblichen Minderwertigkeitsgefühle auf zwei zentralen Pfeilern: Erstens bringen wir in unserer Gesellschaft den Frauen bei, dass ihr Aussehen zentral für ihren Wert ist, und zweitens, darauf gehen wir später noch ein, bringen wir Frauen bei, dass sie nicht annähernd so relevant wie Männer sind.
Beginnen wir mit dem Thema Schönheit. Eine meiner Lieblingsszenen in der großartigen BBC -Kurzserie Fleabag geht so: Fleabag und ihre Schwester sitzen in einem Vortrag einer renommierten Feministin. Es geht um gesellschaftliche Schönheitsideale. Die Rednerin fragt als Warm-up das Publikum: »Wer von Ihnen würde zwei Jahre ihres Lebens für den perfekten Körper opfern?« Fleabag und ihre Schwester haben die Arme schneller oben, als die Kamera auf sie schwenken kann. Alle anderen schauen entsetzt in ihre Richtung und schütteln den Kopf. Darf man als Feministin einem Schönheitsideal nachhecheln? Ganz ehrlich, ich hätte mich auch gemeldet. So bitter und widersprüchlich das zu meiner inneren Haltung ist.
Mädchen wachsen auch heute immer noch mit der Ausrichtung auf, dass ihr Aussehen eine Art Kapital ist. Gleichzeitig definieren sich Mädchen und Frauen viel mehr über andere, sie sind interdependent, denn sie bekommen von klein auf beigebracht, ihren Fokus nicht auf sich selbst, sondern auf andere zu legen. Das hat aber auch eine Kehrseite, denn deswegen hat sowohl reales als auch imaginiertes Feedback mehr Gewicht für sie, berichtet die Psychologin Astrid Schütz in einem Interview. Ihr Selbstbewusstsein ist damit eher von anderen abhängig. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Mädchen und Frauen sich eher mit einem Ideal vergleichen. Jungs und Männer beziehen sich dementgegen eher auf eine reale Gruppe, also ihr direktes Umfeld.
Viele Frauen haben ein sehr schwieriges Verhältnis zu ihrem Körper. Wer das nicht glaubt oder nachvollziehen kann (etwa, weil er ein Mann ist), dem empfehle ich den Dokumentarfilm Embrace, in dem die australische Fotografin Taryn Brumfitt der Frage nachgeht, warum so viele Frauen mit ihrem Körper unzufrieden sind. Brumfitts Botschaft lautet: »Liebe deinen Körper, wie er ist, er ist der einzige, den du hast!«
Der Film schockiert, denn er zeigt sehr gut auf, wie schlecht das Verhältnis vieler Frauen zu ihrem Körper ist – und zwar völlig unabhängig davon, wie normschön er tatsächlich ist. Mehrere Frauen antworten auf die Frage: »How would you describe your body?« mit »Disgusting«, und das sind keine bedauerlichen Einzelfälle. Auch auf Plattformen wie Instagram ist immer wieder zu lesen, dass viele Frauen sehr mit ihrem Aussehen kämpfen.
Als junge Frau war ich auch nicht mit meinem Körper zufrieden. Aber ich kann wenigstens sagen, dass ich ihn nie gehasst habe. Es gab allerdings eine lange Phase, in der ich mich viel mit der Menge an Kalorien beschäftigt habe, die ich aufnehme, und überzeugt war, dass alles jenseits von Kleidungsgröße 36 nicht attraktiv ist. Wenn mich heute jemand wie im Film fragen würde: »Wie würdest du deinen Körper beschreiben?«, lautete meine Antwort in etwa so: »Ein bisschen moppelig, aber insgesamt sehr zweckmäßig. Mein Körper kann nämlich sehr gut kuscheln, mit viel Freude Kuchen essen und einfach so mit einem Schraubendreher Rigips-Dübel in die Wand drehen. Top Körper! Gerne wieder!«
Älterwerden ist eine echte Chance, ein besseres Verhältnis zu seinem Körper zu bekommen. Ich habe mir den Prozess so erklärt: Solange man noch nah am Jugend-, Schönheits- und Schlankheitsideal ist, sind Abweichungen schmerzhaft. Mit einigen Tricks, ein bisschen Diät und Schminke robbt man sich dann weiter an den Idealzustand heran.
Dann wird man vierzig und älter, und irgendwann sind es nicht fünf graue Haare, sondern so viele, dass man sie nicht zählen kann, und so viele Falten, dass man sie nicht wegschminken kann. Dieser Übergang tut kurz weh und dann ist man zu weit weg von den Magazin-Schönheitsansprüchen und dann ist es einem (weitgehend) herzlich egal.
Jedenfalls: Je weniger mir all die Äußerlichkeiten an mir wichtig sind, desto egaler sind sie mir auch an anderen. Denn was zur Hölle geht mich der Körper anderer Menschen an? Mir ist irgendwann auch klar geworden, dass ich mich noch nie aufgrund eines bestimmten Aussehens in jemanden verliebt habe, und ich empfinde wirklich Mitleid für Menschen, denen das so wichtig ist, dass sie ihre Partnerwahl extrem einschränken müssen, weil sie eben beispielsweise nur blonde Frauen mit Kleidergröße 36 attraktiv finden können oder nur Sex haben können mit Frauen, die sich ihre Schamhaare rasieren.
Schönheit ist ohnehin vergänglich. Wir müssen deswegen weg von der Vorstellung, dass Schönheit überhaupt ein Kriterium ist, das uns liebenswert macht. Diese Love-your-Body-alle-Menschen-sind- schön-Appelle sind, wenn man genauer darüber nachdenkt, nicht zielführend. Warum sollen alle schön sein müssen? Wenn man ständig dazu aufruft, dass alle Menschen schön sind, dann folgt man weiter einem Schönheitsparadigma. Denn es geht offenbar nicht, dass man nicht schön ist. Alle sind schön, nur divers schön oder individuell schön, aber eben auf jeden Fall schön. Ohne das Schönsein geht es offenbar nicht. Die Dimension ist schön/hässlich. Was anderes kommt nicht infrage.
Bezogen auf mein Aussehen fühle ich in der Zwischenzeit eher so was wie eine Egalness. Deswegen rufe ich zur Aussehen-Egalness auf! Eine Aussehen-Egalness-Bewegung würde insgesamt helfen, ein entspannteres Verhältnis zum eigenen Körper zu bekommen. Gelingen kann das vielleicht, indem man sich stärker auf das fokussiert, was ein Körper einem ermöglicht, als darauf, wie ein Körper aussieht. Und auch da sollten Höchstleistung oder Perfektion kein Kriterium sein. Denn spätestens mit zunehmendem Alter (oft aus verschiedensten Gründen weit vorher) wird auch die Funktionsfähigkeit eingeschränkt sein. Vielleicht helfen euch diese zwei Gedanken, um zukünftig liebevoller auf euch zu blicken:
Wenn ihr diese Antworten habt, behaltet sie im Kopf, und traut den Menschen in eurem Umfeld zu, dass sie ebenso auf euch blicken, wie ihr liebevoll auf sie blicken könnt.
Kennt ihr folgendes Phänomen: Ihr seht ein älteres Foto von euch von vor – sagen wir – drei Jahren: Denkt ihr manchmal: »Oh, da sehe ich eigentlich ganz gut/jung/schlank/erholt/ fröhlich aus!« Ja? Ihr werdet genau dasselbe in drei Jahren von einem Foto denken, das heute jemand von euch macht. Und in drei Jahren wieder und dann wieder. Also könnt ihr das auch gleich von euch denken, und zwar heute und jetzt.
Frauen sichtbar machen
Die Soziologin Franziska Schutzbach leitet die empfundene weibliche Minderwertigkeit auch historisch ab. Ganze Wissenschaftszweige wie die Evolutionsbiologie, die Philosophie, die Psychologie und die Medizin haben sich jahrhundertelang damit beschäftigt nachzuweisen, dass Frauen bestenfalls so etwas wie unvollkommene Männer sind. So kommt es, dass das »Weibliche also nicht als etwas Eigenes betrachtet [wurde], sondern es existierte nur im Verhältnis zum Männlichen, als dessen Abweichung«.
Diese Denkweise ist uns bis heute erhalten geblieben und beeinflusst unsere Sicht auf Frauen als etwas Mangelhaftes. Geht es um die großen Leistungen der Geschichte, fallen uns kaum Frauen ein. Probiert es aus:
Ich habe Chat GPT stellvertretend befragt. Denn die arme KI ist nicht wirklich intelligent, sondern kann nur antworten, was die Mehrheitsmeinung ist. Sie nennt deswegen zufällig ausschließlich Männer:
Was hier eine lustige Spielerei ist, ist das, was Mädchen in der Schule lernen: Es gibt eigentlich keine relevanten Frauen, welche die Geschichte beeinflusst haben. Frauen sind nicht genial, sie erfinden nichts, sie bestimmen nichts, sie komponieren nichts, sie haben keine relevante Literatur verfasst. Männer hingegen schon.
Das prägt enorm und begegnet uns überall. Beim Stadtspaziergang, wenn wir auf Plätzen und in Parks hauptsächlich Statuen von Männern sehen, und in Museen. Der letzten Auswertung der Künstlerinnengruppe Guerrilla Girls für das Metropolitan Museum in New York zufolge gilt: »Weniger als vier Prozent der Künstlerinnen in den Abteilungen für moderne Kunst sind Frauen, aber 76 Prozent der Nackten sind weiblich.«
In Filmen könnt ihr per Bechdel-Test herausfinden, ob Frauen im Film nicht nur hübsch anzuschauendes Beiwerk sind. Nämlich dann, wenn diese drei Fragen mit »Ja« beantwortet werden können: Gibt es mindestens zwei Frauenrollen? Sprechen sie miteinander? Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann?
Auch Männer sollten sich klarmachen, wie Frauen in der Geschichte, im Kino, in der Kunst und sonst überall stattfinden (oder eben nicht stattfinden). Denn sonst gewinnen sie vielleicht den Eindruck, dass sie wichtiger und relevanter sind. Sie müssen also selbst den Schritt aus der eindimensionalen Männerwelt wagen.
Dabei sollten wir im Kopf behalten, dass Männer in der Geschichte der Welt nicht nur deswegen sichtbar sind, weil die Geschichtsschreiber selbst Männer sind.
Wir sollten auch daran denken, dass Frauen aufgrund ihrer gesellschaftlich verankerten Sorgepflichten viel schwierigere Voraussetzungen haben, überhaupt die Zeit und Muße zu finden, in einen kreativen Prozess einzusteigen. Sie sind es schließlich, von denen erwartet wird, sich um andere zu kümmern. Frauen halten Männern den Rücken frei.
Nur selten ist das umgekehrt. Wann also zwischen Kinderversorgung und Wäschebergen komponieren, literarische Werke schaffen, ein Gemälde malen, eine Skulptur bildhauen? Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass Berühmtheiten wie Simone de Beauvoir, Cindy Sherman, Katharine Hepburn oder Condoleezza Rice keine Kinder haben oder hatten.
Frühe Strömungen der Philosophie, die bis heute in unsere Weltsicht wirken, messen dem autonomen Wesen viel Bedeutung bei, übersehen aber, dass völlige Autonomie mindestens psychologisch gesehen keine Entsprechung in der Realität hat. Wir sind als Wesen nicht unabhängig von unseren Bedürfnissen und wir sind als Mitglied einer Gesellschaft ebenfalls nicht unabhängig, weil die Rahmenbedingungen uns vorgeben, was wir tun können und was nicht – und auch, was von uns erwartet wird. »Diese individuelle Autonomie müsste eigentlich ehrlicherweise als unabgesprochenes Ausleben individualisierter Vorstellungen zu Lasten anderer bezeichnet werden«, schreibt der Autor Paul in Links leben mit Kindern. Das gilt eben vor allem für Männer, da Autonomie einen der zentralen Männlichkeitsaspekte darstellt. Ihre Freiheit und Autonomie, große Werke zu schaffen, wird durch unsichtbare Sorgearbeit im Hintergrund erst ermöglicht. Sie sind carefree, also sorglos, weil ihre Mütter oder Partnerinnen ihre Bedürfnisse erfüllen, für sie kochen, ihre Wäsche waschen, ihnen Anerkennung und Liebe schenken.
Für ein patriarchales System ist es außerdem von großem Vorteil, Frauen mit Nebenschauplätzen beschäftigt zu halten. Damit kommen wir wieder zum ersten Pfeiler der weiblichen Minderwertigkeitsgefühle – der Fixierung auf das Aussehen. Wenn Frauen sich damit beschäftigen, wie sie schön, schlank, rasiert und frizzfrei sein und Männern gefallen können, haben sie, plakativ gesagt, keine Zeit, sich mit anderen Fragen zu beschäftigen. Man stelle sich vor, was mit der Welt geschehen würde, wenn ein weibliches Morgen- oder Ausgehritual lediglich duschen und Haare durchkämmen bedeuten würde. Wenn all diese Zeit alternativ in Denken investiert würde … Ich vermute, wir wären dann deutlich schneller als in den vom Weltwirtschaftsforum 2022 errechneten 130 Jahren bei der Gleichberechtigung angelangt.
Es wäre also ein ungeahnt machtvoller Hebel, wenn Frauen sich nicht latent minderwertig fühlen würden – denn diese Minderwertigkeitsgefühle sind nicht nur in Sachen Körper- und Schönheitsempfinden relevant.
Frauen würden sich anders fühlen, wenn ihnen ad hoc nicht männlich gelesene Repräsentant*innen zu den weiter oben genannten Fragen einfallen würden. Denn: Es gibt diese Frauen – nur leider kennen sie wenige.
Bei Frauen werden immer noch Schönheit und Aussehen betont und bei Männern die Leistung. Das fängt mit kleinsten Banalitäten an wie der, dass wir Mädchen mit »Na, du Schöne?« und Jungs mit »Na, kleiner Mann?« ansprechen. In Kinderbüchern, -filmen und -serien lernen die Kinder, dass männliche Protagonisten Abenteuer erleben und weibliche Charaktere als netter Sidekick vorkommen.
In der Schule sieht es nicht besser aus. Schlagt einfach mal ein Schulbuch auf und zählt, wie viele Frauen beziehungsweise Männer genannt werden. Katharina Herrmann hat das für das Magazin 54 Books in ihrem Artikel Auch ein Land der Dichterinnen und Denkerinnen getan: 2015 zählte sie in ihrem Deutschbuch von der Antike bis in die Gegenwart 17 Frauen und 125 Männer. Sieht es in den Büchern eurer Kinder besser aus? In den Lehrbüchern meiner Kinder leider nicht.
Dieses Ungleichverhältnis wirkt, und wenn wir selbstbewusste(re) Mädchen und Frauen haben wollen, müssen wir gegensteuern. Hier gilt: »Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen«, aber wir können schon im Kleinen Verbesserungen erzielen.
Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Musterbruch« bietet den Rest des Kapitels und mehr.
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