Direkt zum Inhalt

Wie wollen wir leben?: Welches Gesundheitssystem wir uns wünschen

Wenn wir glückliche und zufriedene Menschen wollen, die sich entsprechend ihrer Möglichkeiten kreativ entfalten können und deren Leben Bedeutung hat, dann erreichen wir das nicht mit dem Eingriff ins Gehirn, um den göttlichen Menschen zu schaffen. Dieses grundlegende Verständnis erfordert erweiterte Ansätze in einem Gesundheitssystem.
Mit naturnahen Lebensmitteln gelingt das Abnehmen besser als mit technisch aufbereiteten (raffinierten) Produkten. Denn Letztere sind häufig leichter zu verdauen und erhöhen den Blutzucker stärker, was sich durch Sport kaum kompensieren lässt.

Kein Land der Welt gibt pro Kopf der Bevölkerung mehr Geld für die Gesundheitsversorgung aus als die USA, und zwar bei weitem nicht. Die Kosten in den USA betragen 9400 Dollar, das ist weit mehr als doppelt so viel wie im Durchschnitt der kapitalistischen Länder der westlichen Welt (3600 Dollar). Die USA geben 17 % ihres Bruttoinlandsproduktes für die Gesundheitsversorgung aus, das ist ein einsamer Spitzenwert in der Welt [1].

In Deutschland lag im Jahr 2017 der Anteil der Gesundheitsausgaben bei 11,5 %, die Kosten pro Kopf bei etwa 4500 €. Noch im Jahr 2015 waren es nur etwa 4000 € gewesen, in 2005 weniger als 3000 €. Deutschland hat in der EU nach Luxemburg die zweithöchsten Gesundheitsausgaben pro Kopf und den höchsten Anteil des Bruttoinlandsproduktes an diesen Ausgaben (EU-Durchschnitt 9,9 %). Wie jeder weiß, sind US-Amerikaner trotz ihrer exorbitant hohen Gesundheitsausgaben dennoch nicht gesünder als der Rest der Welt: In 39 Ländern ist die Lebenserwartung höher als in den USA, wo sie im Jahr 2014 mit 78,8 Jahren einen Höchststand erreichte, um seitdem wieder leicht zu fallen (2017: 78,5 Jahre). Alleine in 18 Ländern der EU ist die Lebenserwartung höher als in den USA, darunter auch Deutschland, wo sie bei 81 Jahren liegt. Die Ursachen für diese Entwicklungen waren schon vielfach Thema in diesem Buch. Die steigenden Suizidzahlen in den USA waren bereits in Kap. 3 ein Thema. Noch brisanter aber ist, dass zwischen 1990 und 2017 die Sterblichkeit durch Überdosen von Drogen um fast 400 % zunahm. Es sind aber noch weitere Faktoren dafür verantwortlich, dass die Lebenserwartung in den USA seit fünf Jahren ein Plateau erreicht hat. Die Sterblichkeitsraten bei Menschen im mittleren Lebensalter (25– 64 Jahre) aufgrund von Übergewicht und Bluthochdruck stiegen in diesem Zeitraum um 114 % bzw. 79 %, und die Mortalität aufgrund von alkoholassoziierten Erkrankungen wie Leberzirrhose stieg um 40 % [2]. Während die amerikanische Presse diese Zahlen auf den amerikanischen Lebensstil (insbesondere Bewegungsmangel und Übergewicht, siehe Kap. 2) zurückführt [3], sieht Hans Rosling, von dem wir auch schon in Kap. 2 hörten, andere wesentliche Faktoren dafür, dass es um die amerikanische Volksgesundheit trotz der gewaltigen finanziellen Aufwendungen für das Gesundheitssystem so schlecht bestellt ist: »Die Antwort [auf die Frage, warum US-Bürger nicht das gleiche Gesundheitsniveau erreichen können, und mit den gleichen Aufwendungen, wie andere kapitalistische Länder, die über ähnliche Ressourcen verfügen] ist übrigens nicht schwer zu finden: Es liegt daran, dass es in den USA keine staatliche Krankenversicherung gibt, die von den meisten Bürgern der anderen Länder […] als selbstverständlich angesehen wird. Unter dem gegenwärtigen US-amerikanischen System suchen reiche, privat versicherte Patienten häufiger einen Arzt auf als es notwendig ist, während arme Patienten sich nicht einmal einfache, kostengünstige Behandlungen leisten können und früher sterben, als es sein müsste. Ärzte vergeuden Zeit für unnötige und sinnlose Behandlungen, die besser dafür genutzt werden könnte, Leben zu retten oder ernste Krankheiten zu behandeln.« [1].

Hier wird also die Frage des Gesundheitssystems – und mehr noch: des gesamten politischen Systems – maßgeblich für die Frage nach Gesundheit oder Krankheit eines Volkes. Dabei ist natürlich auch amerikanischen Wissenschaftlern völlig klar, dass es vielerlei soziale Determinanten für Gesundheit gibt. Wo und unter welchen Bedingungen wir geboren werden und aufwachsen, ist wahrscheinlich viel bedeutsamer für unsere körperliche und vor allem psychische Gesundheit als irgendwelche Gene, die uns von unseren Eltern mitgegeben wurden. Diese Bedingungen entscheiden, wie wir leben, arbeiten und altern. Und auch amerikanischen Wissenschaftlern ist klar, dass die fehlende Investition in soziale Dienste und Bildung sowie ein fehlgesteuertes medizinisches Versorgungssystem dafür verantwortlich sind, dass trotz des gewaltigen finanziellen Aufwandes, den das amerikanische Volk für seine Gesundheit betreibt, das Ergebnis weit hinter den Möglichkeiten zurückbleibt [4]. Es ist auch die Verantwortung von Ärztinnen und Ärzten, auf die Bedeutung sozialer Bedingungen für die Gesundheit eines Volkes hinzuweisen, und sie sollten ihren Einfluss und ihr Ansehen nutzen, um die Politik zu bestimmen. Sie müssen eine Öffentlichkeit dafür entwickeln, dass die Krankheit eines individuellen Patienten durch Faktoren beeinflusst ist, die außerhalb der Kontrolle von Patient und Arzt sind. Ein Mensch, der sich schlecht ernährt und dessen Erkrankung durch diese Ernährung mitbedingt ist, kann oft nichts für die Armut, die diese Ernährung bedingt.

In Kap. 7 habe ich berichtet, dass heute Neurowissenschaftler aus dem genetischen Risikoprofil eines Menschen, dem sogenannten »polygenetischen Risikoscore«, sein Risiko für eine bestimmte Erkrankung zu berechnen versuchen. Ähnliches wurde nun auch als »polysozialer Risikoscore« vorgeschlagen [5]. Wenn es sinnvoll ist, ein Krankheitsrisiko aus dem genetischen Profil eines Menschen abzuleiten, dann ist das genauso sinnvoll für sein soziales Profil. Wie sehr zum Beispiel Armut oder ein Mangel an Bildung Risikofaktoren für Krankheit, gerade für psychische Erkrankungen, sind, werde ich im nächsten Abschnitt noch genauer ausführen. Einem polygenetischen Risikoscore einen polysozialen Risikoscore gegenüberzustellen, ist ein wichtiger Schritt, weil damit ausgedrückt wird, dass Krankheit eben nicht nur durch fehlgesteuerte individuelle Biologie entsteht, sondern auch durch die individuelle Stellung des einzelnen Menschen im System. Es entspricht aber viel weniger dem Selbstverständnis von Ärzten, prophylaktisch tätig zu werden als kurativ. Ärzte ergreifen in der Regel ihren Beruf, weil sie erkrankte Menschen heilen oder zumindest deren Leiden lindern wollen. Es ist unbestritten, dass die Medizin gewaltige Fortschritte in der Therapie der meisten Krankheiten gemacht hat. Unsere Anstrengungen, die molekularen Vorgänge der Krankheitsentstehung besser zu verstehen, dürfen nicht nachlassen. Wer wäre zum Beispiel im Falle einer Krebserkrankung nicht dankbar für die Errungenschaften der modernen Krebstherapie, die heute meist eine deutliche Lebensverlängerung und oft sogar eine gänzliche Heilung ermöglichen? Für Ärzte sind es besondere Momente, wenn sie einen Patienten nach schwerer, oft lebensbedrohlicher Krankheit geheilt nach Hause entlassen können, und für viele stellt dies das wesentliche – absolut legitime – Motiv für die Wahl dieses Berufes dar. Wir erleben es viel weniger als Belohnung, den Ausbruch einer Erkrankung zu verhindern, also präventiv tätig zu werden. Dennoch ist es ebenso unbestritten, dass es nicht kurative, sondern vor allem Maßnahmen der sozialen Medizin waren, die zu der enormen Zunahme der Lebenserwartung in den letzten 100 Jahren geführt haben. Natürlich musste man zunächst verstehen, wie sich Infektionskrankheiten durch Krankheitserreger verbreiten. Dann aber waren es vornehmlich Maßnahmen zur Verbesserung der Hygiene, die Überwachung von Nahrungsmitteln und die systematische Impfung von ganzen Völkern, die zur drastischen Reduktion der Sterblichkeit durch Infektionskrankheiten geführt haben. Tuberkulose, Pest und Cholera spielen heute in der ganzen Welt keine Rolle mehr, weil wir sie durch hygienische Maßnahmen praktisch ausgerottet haben. Die Prophylaxe durch sozialmedizinische Maßnahmen war hier entscheidend, kurativ (durch Gabe von Antibiotika) werden wir erst tätig, wenn es irgendwo auf der Welt zum Aufflammen eines Krankheitsherdes kommt (zum Beispiel, wenn es im Rahmen von Naturkatastrophen zum Zusammenbruch von Trink- und Abwasserversorgung und in der Folge zum Ausbruch der Cholera kommt).

Kurative Medizin ist auch ein Wirtschaftsfaktor mit gewaltiger volkswirtschaftlicher Bedeutung. In Deutschland ist jeder achte Erwerbstätige im Gesundheitswesen tätig, das waren im Jahr 2019 5,6 Mio. Menschen (Deutschland hat etwa 45 Mio. Erwerbstätige). Das sind fast siebenmal so viele Menschen wie in der Autoindustrie Beschäftigte (2019: 830 000 Erwerbstätige inklusive aller Arbeitnehmer in der Automobilzulieferindustrie), die gerne von sich behauptet, dass sie der wichtigste Wirtschaftszweig Deutschlands ist. Und selbst wenn die Zahl der Krankenhäuser in Deutschland seit Jahrzehnten stetig abnimmt und nach einem Gutachten der Bertelsmann-Stiftung, das 2019 für viel Diskussion gesorgt hat, noch immer viel zu hoch ist, so haben Krankenhäuser doch ein bedeutendes wirtschaftliches Gewicht: Im Jahr 2018 wendete die gesetzliche Krankenversicherung alleine für die Krankenhausbehandlung in einem der mehr als 1900 Krankenhäuser 77 Mrd. € auf, und der Wert steigt stetig um mehrere Prozent jährlich. Im Jahr 2000 lagen die Aufwendungen noch bei 44 Mrd. €. Die gesamten Gesundheitsausgaben in Deutschland lagen 2017 bei 376 Mrd. € (zum Vergleich: der Bundeshaushalt 2020 lag vor Verabschiedung eines Nachtragshaushalts durch die Corona-Krise bei 362 Mrd. €). Für jeden von diesem System Profitierenden kann ein weiterer Zuwachs nur gewünscht sein. Krankenhausbetreiber wünschen sich zu 100 % belegte Betten, Ärzte wünschen sich volle Praxen, Medizintechnikhersteller wollen immer neue, teure (und ohne Zweifel immer bessere) Geräte verkaufen, und Pharmahersteller wünschen sich Patienten, die neue, teure und nicht zwingend immer bessere Medikamente einnehmen. Der Gesundheitssektor ist aus diesem Grund auch ein Innovationstreiber, denn Innovationen versprechen Milliardengewinne. In den letzten Jahrzehnten sind Hunderte Biotech-Unternehmen entstanden, die sich der Aufklärung der molekularen Grundlagen aller möglicher Erkrankungen und der Entwicklung von Medikamenten verschrieben haben, die sich maßgeschneidert gegen subtile Dysfunktionen, die diesen Erkrankungen zugrunde liegen, richten. Biotechnologie, und gerade Medikamentenentwicklung, ist ein Risikogeschäft. Von der ersten Idee, oder dem ersten Molekül, bis zum Markteintritt eines neuen Medikamentes verstreichen meist mehr als zehn Jahre, Zeit, in denen diese Firmen viele (Hundert) Millionen Euro oder Dollar verbrennen. Dann jedoch genügt ein einziges Medikament, das von den amerikanischen oder europäischen Zulassungsbehörden Wirksamkeit und Verträglichkeit bescheinigt bekommt, um die Investitionskosten vielfach wieder einzuspielen. Ich habe schon mehrfach in diesem Buch darauf hingewiesen, dass dieses Geschäftsmodell in der Krebsmedizin in den letzten Jahren extrem erfolgreich war. Dennoch schätzt man auch hier, dass 40 % aller Krebserkrankungen durch Veränderungen des Lebensstils (z. B. Vermeidung von Übergewicht und Bewegungsmangel, siehe Kap. 6), also durch einfache und recht günstige prophylaktische Maßnahmen, vermeidbar wären. Wir haben in Kap. 3 aber auch gesehen, dass sich die Erfolge in der Psychopharmakologie in den letzten 20 Jahren demgegenüber bescheiden ausnehmen, und über die Gründe dafür habe ich auch schon spekuliert. Die Schwierigkeiten liegen hier in einem grundlegenden Unverständnis der Beziehungen zwischen Hirnfunktion und psychischem Erleben, und dieses wiederum ist eben nicht nur durch Hirnchemie bestimmt, sondern auch durch die Stellung des Individuums in seinem sozialen System. Das heißt aber eben auch, dass die Prophylaxe psychischer Erkrankungen viel mehr als in der Vergangenheit in den Fokus nicht nur der Psychiatrie, sondern der Politik rücken muss. Hier brauchen wir viel mehr prophylaktische – d.h. sozialmedizinische – Ansätze, und das wird auch ganz neue Allokationen von Ressourcen erfordern. Damit mich niemand missversteht: Wir brauchen bessere Therapien, vor allem auch besser wirksame und besser verträgliche Medikamente für die Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen, und wir brauchen Investitionen in diese Forschung. Aber wenn wir glücklichere und zufriedenere Menschen wollen, die sich entsprechend ihrer Möglichkeiten kreativ entfalten können und deren Leben Bedeutung hat, dann erreichen wir das nicht mit dem Eingriff ins Gehirn, um den göttlichen Menschen zu schaffen. Und dieses grundlegend andere Verständnis erfordert dann auch andere, erweiterte Ansätze in einem Gesundheitssystem.

Literatur

  1. Factfulness RH (2018) Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Ullstein, Berlin
  2. Woolf SH, Schoomaker H (2019) Life expectancy and mortality rates in the United States, 1959–2017. JAMA 322:1996–2016
  3. CNN (2019) US life expectancy is still on the decline. Here’s why. CNN, 26. November. https://edition.cnn.com/2019/11/26/health/us-life-expectancy-declinestudy/index.html. Zugegriffen: 14. Mai 2020
  4. Mani A, Mullainathan S, Shafir E, Thao J (2013) Poverty impedes cognitive function. Science 341:976–980
  5. Figueroa JF, Frakt AB, Jha AK (2020) Addressing social determinants of health: time for a polysocial risk score. JAMA. Apr 3. doi: https://doi.org/10.1001/jama.2020.2436. Epub ahead of print

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.