Leseprobe »Sex und Moral«: Haben wir ein Recht auf Sex?
Haben wir ein Recht auf Sex?
Um guten Sex zu haben, müssen wir wissen, was wir wollen, und um zu wissen, was wir wollen, müssen wir uns ausprobieren. Das erfordert meist (wenn auch nicht immer) sexuelle Interaktion mit anderen Menschen. In Kap. 4 haben wir aber gesehen, dass es keine moralischen Verpflichtungen gibt, Sex in ‚romantischen‘ Beziehungen zu haben. Das heißt, die, die uns nahestehen, sind nicht dazu verpflichtet, uns dabei zu unterstützen, dass wir uns sexuell ausprobieren können, wenn sie das nicht wollen. Jetzt könnte man natürlich sagen, dass es zwar keine sexuellen Verpflichtungen innerhalb von ‚romantischen‘ Beziehungen gibt, aber womöglich gibt es welche außerhalb von ‚romantischen‘ Beziehungen. Das würde voraussetzen, dass sexuelle Bedürfnisse und das Entdecken solcher Bedürfnisse elementare Bedürfnisse sind – also Bedürfnisse, bei denen es unser Recht ist, sie auszuleben.
Die Frage, ob wir ein Recht auf Sex haben, kann auf zwei unterschiedliche Weisen interpretiert werden: Erstens, haben wir ein Recht darauf, Sex zu haben (auch wenn niemand mit uns Sex haben will)? Zweitens, haben wir ein Recht darauf, Sex zu haben, der vielleicht gesellschaftlich tabuisiert ist, wenn wir jemanden haben, der dieses sexuelle Erlebnis mit uns teilen möchte?
Die erste Frage scheint angesichts der oben geführten Argumentation absurd, schließlich haben wir gesehen, dass nach allen gegenwärtigen Zustimmungstheorien die Antwort offensichtlich ist: Um moralisch zulässigen Sex zu haben, brauchen wir Zustimmung, und Zustimmung können wir nicht erzwingen. Wenn es also niemanden gibt, der mit uns Sex haben will, dann können wir keinen Sex mit anderen haben. Also nein, wir haben kein Recht auf Sex. Die Frage ist aber trotzdem alles andere als absurd, denn es gibt eine Männerrechtsbewegung, die öffentlich dafür plädiert, dass Männer ein Recht auf Sex haben. Als Incels – aus den englischen Worten Involuntary (unfreiwillig) und celibate (Zölibat) – beschreiben sich heterosexuelle Männer, die unfreiwillig keinen Geschlechtsverkehr haben und an die Ideologie einer hegemonialen Männlichkeit glauben. Sie sind antifeministisch und häufig auch rassistisch und der Überzeugung, dass ihnen als ‚höhergestellten‘ Menschen Sex zusteht; in ihren Forenbeiträgen im Internet rufen sie daher zu Vergewaltigung auf und zur Rache an allen, die ihnen ihre ‚Rechte‘ nicht einräumen wollen. Es lohnt sich deswegen noch mal einen genaueren Blick auf den Kern der Zustimmungsdebatte zu werfen. Moralisch gesehen, dürfen wir keinen Sex mit jemandem haben, solange diese Person keinen Sex mit dir will. Denn, wie Rebecca Solnit analog bemerkt: Wir können auch nicht das Sandwich mit jemandem teilen, solange diese Person das Sandwich nicht mit uns teilen will.
Diese Analogie kann allerdings zu Recht in Frage gestellt werden. Stellen wir uns vor, unser Kind kommt aus der Grundschule nach Hause und erzählt uns, dass alle anderen Kinder ihre Sandwiches untereinander teilen, aber eben nicht mit ihr. Und stellen wir uns außerdem vor, dass unser Kind schwarz oder übergewichtig oder behindert ist oder kein Deutsch spricht und wir zu Recht annehmen, dass dies der Grund ist, warum niemand ein Sandwich mit unserem Kind teilen möchte. Unter diesen Gesichtspunkten scheint es nicht mehr so einfach zu sagen, dass keines der anderen Kinder eine Verpflichtung hat, das Sandwich mit unserem Kind zu teilen. Aber: Sex ist kein Sandwich! Sex ist etwas zutiefst persönliches, das uns in unserer körperlichen Integrität verletzen kann. Während es vielleicht angebracht wäre, eine Regel an der Grundschule zu etablieren, dass Sandwiches gerecht unter allen geteilt werden müssen, wäre es sehr unangebracht, eine gesellschaftliche Regel zu etablieren, nach der wir Sex gerecht unter allen teilen müssten. Wir haben eben kein Recht auf Sex mit Personen, die keinen Sex mit uns wollen, und wir haben auch keine sexuelle Verpflichtung, nach der wir unseren Sex gerecht unter allen aufteilen müssen.
Es gibt kein Recht auf Sex per se. Aber es gibt ein Recht darauf, dass wir Sex mit Personen haben können, die Sex mit uns haben wollen – auch wenn der spezifische Sex, den wir vielleicht gemeinsam probieren oder ausleben wollen, von anderen tabuisiert wird. In einer Gesellschaft, in der zum Beispiel homosexueller Sex tabuisiert ist, habe ich trotzdem ein Recht darauf, homosexuellen Sex zu haben – solange andere auch mit mir homosexuellen Sex haben wollen und ihre Zustimmung dazu geben. Natürlich haben wir nicht auf alle Formen von Sex ein Recht, sondern eben nur auf solche, die wir mit Personen praktizieren können, die ihre Zustimmung (am besten in Form von sexueller Kommunikation) geben können. Wir haben zum Beispiel kein Recht auf Sex mit Kindern.
Natürlich gibt es auch Fälle, wo unsere Intuitionen nicht ganz so klar sind. Manche würden vielleicht dazu tendieren zu sagen, dass wir keinen Sex mit geistig behinderten Personen haben dürfen. Hierauf kann man allerdings nach der Theorie, die dieses Buch entwickelt hat, eine Antwort geben: Wir dürfen Sex mit geistig behinderten Personen haben, solange diese an einer sexuellen Kommunikation – wie oben skizziert – teilnehmen können. Was ist aber mit einem Fall von inzestuösem Sex unter Geschwistern, bei dem durch sichere Verhütung ausgeschlossen ist, dass es Nachwuchs mit potenziell genetischen Erkrankungen gibt? Nach der hier skizzierten Theorie, sollte Sex unter Geschwistern moralisch unproblematisch sein, solange die Geschwister Zustimmung in Form von sexueller Kommunikation geben. Aber nicht alle teilen diese Intuition.
Aber auch ohne diese streitbaren Fälle sind die Dinge komplizierter als wir zunächst annehmen würden. Wir haben gesehen, dass wir in einer ungleichen Gesellschaft leben, in welcher einige Menschen mehr und andere weniger Möglichkeiten haben – nicht nur um ungewollten Sex abzulehnen, sondern auch bestimmte sexuelle Bedürfnisse auszuleben. Die Problematik des Rechts auf Sex findet sich nicht nur in Incel-Foren, sondern ganz praktisch auch in der Erfahrung vieler trans* Frauen oder behinderter Personen. Trans* Frauen werden oft von lesbischen cis-Frauen ausgeschlossen, und behinderte Personen werden nur selten überhaupt als potenzielle Sexpartner*innen angesehen. Wie gesagt, es gibt keine moralische Verpflichtung, dass wir Sex gleich verteilen müssen, wir müssen also auch nicht bestimmte sexuelle Bedürfnisse entwickeln, damit alle Personen gleichermaßen sexuell begehrt werden. Trotzdem verschleiert dies eine wichtige Einsicht: Unsere persönlichen (sexuellen) Präferenzen sind eben doch nicht nur persönlich!
Wir bewegen uns hier auf einem schmalen Grad zwischen dem Wissen, dass wir keine Verpflichtung zu sexuellen Handlungen mit anderen Personen haben, und der Tatsache, dass wen oder was wir begehren von gesellschaftlichen (und damit leider patriarchischen und sexistischen) Normen und Vorstellungen geprägt ist. Frauen entscheiden zwar autonom, wen oder was sie begehren – auch wenn dies eine Selbstobjektifizierung beinhaltet – unsere Interessen aber sind zumindest teilweise ideologische Interessen, die sich aufgrund unserer Sozialisation gebildet haben und somit vielleicht nicht immer unsere eigenen. Wen wir begehren und wen nicht ist eine politische Frage. Und es ist eine Frage, die wir uns im Zusammenhang mit sexueller Handlungsfähigkeit stellen müssen; bei sexueller Handlungsfähigkeit kann es nicht nur darum gehen, dass wir die Handlungsfähigkeit einiger weniger – sprich: weißer cis-Frauen – ausweiten, sondern dass wir die Handlungsfähigkeit aller ausweiten.
Sexuelle Kommunikation muss also auch eine Selbstreflexion beinhalten, in der es nicht nur darum geht, unsere eigenen Bedürfnisse und unser eigenes Begehren zu entdecken und zu artikulieren, sondern auch darum, darüber nachzudenken, warum wir den, die oder das begehren. Unsere sexuellen Präferenzen sind nicht fixiert und unveränderbar, sondern gesellschaftlich geprägt und variabel; ebenso wie unsere Vorstellungen davon, wer überhaupt sexuelle Handlungsfähigkeit hat und haben sollte. Es gibt kein Recht auf Sex und auch keine Verpflichtung zu Sex, es wäre aber moralisch wünschenswert, dass wir uns damit auseinandersetzen, warum wir begehren, was und wen wir begehren – und dass wir uns gegenüber neuem Begehren im Rahmen sexueller Kommunikation öffnen.
Ein Plädoyer für mehr Respekt im Bett
Wie oben gezeigt wurde, ist Sex dann moralisch zulässig, wenn er die folgenden Bedingungen erfüllt: Alle beteiligten Personen haben die Fähigkeit Zustimmung zu erteilen, sind genügend informiert und geben ihre Zustimmung freiwillig. Darüber hinaus habe ich dafür argumentiert, das Kriterium der Freiwilligkeit in Form von Handlungsfähigkeit vor dem Hintergrund sozialer Ungleichheit zu verstehen sowie die performative Handlung von Zustimmung als sexuelle Kommunikation zu fassen. Sexuelle Kommunikation gibt uns Handlungsfähigkeit trotz der gegebenen sozialen Ungleichheiten und führt außerdem zu relationaler Verantwortung. Und moralisch zulässiger Sex, der Zustimmung als sexuelle Kommunikation beinhaltet, hat zudem große Chancen auch einfach guter Sex zu sein.
Ich grenze mich hiermit also sowohl von Theorien ab, die daran festhalten, dass wir eine kontextunabhängige und allgemeingültige Definition von Zustimmung benötigen, als auch von Theorien, die fordern, dass das Zustimmungskriterium durch ein weiteres Kriterium ergänzt werden muss, nämlich zum Beispiel dem des Respekts oder der Gleichheit, damit wir nicht nur moralisch legitimen, sondern tatsächlich guten Sex haben. Stattdessen plädiere ich dafür, dass Zustimmung neu definiert werden muss. Zustimmung kann nur dann unsere Handlungsfähigkeit vergrößern und potenziell Ungleichheiten verkleinern, wenn wir erstens Zustimmung als sexuelle Kommunikation verstehen, bei der wir darüber reden, was wir wie mit wem machen wollen, welche Grenzen wir haben und wie wir eine begonnene Handlung wieder beenden können, und wenn zweitens Zustimmung untermauert ist durch eine normative Theorie relationaler Verantwortung. Sexuelle Kommunikation macht es möglich, dass wir unsere eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Grenzen artikulieren, entdecken, ausprobieren und ausleben können – und das in einem Kontext relationaler Verantwortung; in einem Kontext also, in dem wir uns gegenseitig respektieren als die konkreten Personen, die wir sind.
Hier habe ich die Idee von gelungenem Sex um zwei Aspekte erweitert: Sex mit Zustimmung in Form von sexueller Kommunikation schützt uns nicht nur vor moralischen Verletzungen, sondern sorgt auch dafür, dass wir unsere sexuelle Identität entfalten können. Zudem handelt es sich dabei um Sex mit Respekt, denn sexuelle Kommunikation ist untermauert durch eine normative Theorie der gegenseitigen Verantwortung für unser gegenseitiges Wohlbefinden und unsere Handlungsfähigkeit.
Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Sex und Moral« bietet den Rest des Kapitels und mehr.
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