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Leseprobe »Sex und Moral«: Sexuelle Kommunikation

Sex und Moral endlich voneinander zu trennen, war eine wichtige Errungenschaft. Warum sollten wir jetzt beides wieder zusammenfügen? Ein Grund dafür ist, dass Sex für alle Beteiligten etwas Schönes sein sollte – es aber leider nicht immer ist. Ein anderer Grund ist, dass Sex vor dem Hintergrund einer ungerechten und ungleichen Gesellschaft passiert – nicht alle haben immer dieselben Möglichkeiten zu äußern, was sie sexuell gerne wollen oder eben nicht wollen. Spätestens seit #MeToo sollte dies offensichtlich geworden sein.
Pärchen im Bett, er liest ein Buch

Sexuelle Kommunikation

Wie viel Kommunikation ist zu viel Kommunikation?

Wir haben gesehen, dass wir sexuelle Kommunikation nicht auf Ablehnung oder Einwilligung zum Sex reduzieren sollten. Allerdings habe ich oben auch schon kurz angemerkt, dass man die Befürchtung haben könnten, zu viel Kommunikation mache die Romantik oder Erotik der sexuellen Handlung kaputt. Wir bewegen uns hier auf einem schmalen Grad: Zum einen wollen wir sicherstellen, dass alle beteiligten Personen auch wirklich zustimmen können  – trotz bestehender sozialer Ungleichheiten –, zum anderen wollen wir natürlich guten Sex haben und diesen nicht durch Worte ‚zerstören‘. Ein Beispiel ist hier hilfreich: 1991 hat das Antioch College in Ohio als Ergebnis einer von Frauen initiierten Kampagne ein Regelwerk zur Verhinderung von Sexualstraftaten auf dem Campus eingeführt. Die Idee war: Alle beteiligten Personen müssen für jede sexuelle Aktivität eine positive Zustimmung geben. Positive Zustimmung ist dabei definiert als willige und verbal artikulierte Übereinstimmung mit der sexuellen Aktivität. Die ersten vier Regeln lauten folgendermaßen:

1. Die Person, die die sexuelle Handlung initiiert, ist dafür verantwortlich, verbal nach positiver Zustimmung der anderen Personen zu fragen.

2. Die Person, mit der die sexuelle Handlung initiiert wird, muss verbal ihre positive Zustimmung zum Ausdruck bringen oder verbal Ablehnung signalisieren.

3. Jedes neue Level der sexuellen Handlung erfordert positive Zustimmung.

4. Die Benutzung zuvor ausgemachter Kommunikations- formen wie Gesten oder Safe Words ist erlaubt, bedarf aber einer zuvor stattfindenden Diskussion und muss von allen Personen verbal akzeptiert werden, bevor die sexuelle Handlung beginnt.

Obwohl diese Regeln zwar der grundsätzlichen Idee von Zustimmung verhaftet bleiben – und damit dem Modell, bei dem eine Person Sex initiiert, während eine andere der Handlung »nur« zustimmt –, berücksichtigen sie, dass sexuelle Handlungen sich verändern können und aus unterschiedlichen Ebenen bestehen. Das bedeutet, jede neue sexuelle Handlung braucht erneute Zustimmung und erhöht somit die Kommunikation während der sexuellen Aktivität. Bevor wir aber etwas dazu sagen können, ob dieses Modell zu viel Kommunikation beinhaltet oder nicht, müssen wir zunächst klären, wie viel eigentlich kommuniziert werden soll. Wie also lautet die Regel, nach der jedes neue Level einer sexuellen Handlung positive Zustimmung erfordert? Was sind die einzelnen Level einer sexuellen Handlung und welche Veränderung der sexuellen Handlung erfordert erneute Zustimmung? Natürlich ist Petting ein anderes Level als Küssen und sexuelle Penetration ein anderes Level als Petting, aber was ist mit den diversen Stufen und Details zwischen diesen grob einteilenden Kategorien? Ist die Berührung des Oberschenkels ein anderes Level als die Berührung der Rippenbögen? Das Küssen auf den Mund etwas anderes als das Küssen des Nackens? Bedarf jede neue sexuelle Stellung auch neuer positiver Zustimmung oder gilt das nur für bestimmte sexuelle Stellungen? Und wenn ja, für welche?

Diese Fragen sind angesichts der Vielfalt und Unbestimmbarkeit von Sex nur schwer zu beantworten. Natürlich kann es nicht schaden, wenn wir uns regelmäßig versichern, dass es den anderen beteiligten Personen auch noch gut geht – aber bedarf es dafür der Zustimmung oder vielleicht etwas ganz anderem? Das Problem der Antioch-Regeln scheint darin zu liegen, dass Zustimmung weiterhin von einer aktiv fragenden Person und einer passiv zustimmenden Person ausgeht. Aber sexuelle Handlungen werden nicht durchgängig von einer Person initiiert, sondern erfordern die aktive Interaktion von mindestens zwei Personen.

Dies gibt Anlass zu der folgenden Überlegung: Die Befürchtung, dass wir den Sex mit zu viel Kommunikation zerstören könnten, ergibt sich vor allem, wenn wir sexuelle Kommunikation ausschließlich im Sinne von Zustimmung betrachten. Tatsächlich scheint es gerechtfertigt, davon auszugehen, dass konstantes Fragen nach Zustimmung der sexuellen Handlung die Intimität nehmen könnte. Willst du das? Ist das jetzt auch noch ok? Darf ich hier anfassen? Oder hier? Hier ist einfach das zugrundeliegende Bild falsch, denn es geht davon aus, dass eine Person konstant nach Zustimmung fragt, während die andere Person annimmt und ablehnt. Ja. Nein. So ja. Da lieber nicht. Aber vielleicht hier. Sexuelle Handlungen, zumindest solche, die von allen Beteiligten gewünscht sind, erfordern aber die aktive Interaktion und lassen sich nur schlecht in das Schema einer fragenden und einer antwortenden Person packen. Sexuelle Kommunikation muss also nicht bedeuten, dass wir konstant nach Zustimmung fragen – so wie die Antioch-Regeln es nahelegen –, sondern bedeutet vielmehr, dass wir Sprache benutzen, um unsere Wünsche, Bedürfnisse und Grenzen zu zeigen und der anderen Person, die Möglichkeit geben, dies auch zu tun. Und tatsächlich ist diese Überlegung gar nicht so weit hergeholt – die meisten Personen kommunizieren über und während ihrer sexuellen Handlungen in vielfältiger Weise. Das bedeutet aber auch, dass wir das Zustimmungsmodell hinter uns lassen und stattdessen darüber nachdenken sollten, wie sexuelle Kommunikation abseits von Zustimmung aussehen kann.

Sex als Einladung

Sexuelle Kommunikation beschränkt sich normalerweise nicht auf ein schlichtes »Ja« oder »Nein«. Schließlich benutzen wir Worte, um uns gegenseitig anzutörnen, nach unserem gegenseitigen Wohlbefinden zu fragen, sexuelle Fantasien zu artikulieren, Wünsche auszudrücken und vieles mehr. Die Philosophin Quill Kukla schlägt aus diesen und anderen Gründen vor, dass wir über Sex – vor allem moralisch guten – nicht als Aufforderung oder Anfrage nachdenken sollten, sondern vielmehr als Einladung. Einladungen sind komplexe Sprechakte, die uns weder verpflichten noch mit einer vollkommen neutralen Wahl zurücklassen. Wie auch Derrida schon schrieb: »Eine Einladung lässt uns frei, andernfalls wäre es ein Zwang. Eine Einladung sollte niemals implizieren, dass wir gezwungen sind zu kommen oder dass es notwendig ist, dass wir kommen. Aber eine Einladung muss dringlich sein und nicht gleichgültig. Es sollte niemals implizieren, dass wir völlig frei sind, nicht zu kommen und dass es keinen Unterschied macht, ob wir kommen oder nicht.«

Wir können jederzeit entscheiden, eine Einladung abzulehnen, ohne dass die andere Person übermäßig gekränkt sein darf, aber eine Einladung impliziert, dass die andere Person uns wirklich gerne bei sich hätte und zu Recht traurig ist, wenn wir nicht kommen. Wenn wir die Einladung annehmen, dann sind beide – einladende und eingeladene Person – in einem Zustand von Dankbarkeit; ich bedanke mich für die Einladung und du bedankst dich dafür, dass ich die Einladung angenommen habe. Natürlich sind wir nicht völlig frei, Einladungen auszusprechen; wir können niemanden zu einer Party einladen, die wir selbst nicht veranstalten, und als Lehrer*in oder Professor*in kann man seine Schüler*innen und Studierenden nicht zu einer Party mit viel Alkohol oder Drogen einladen, auch wenn diese die Möglichkeit hätten, die Einladung abzulehnen.

Die Idee ist: Das Initiieren von Sex hat meistens die Form einer Einladung. Einladungen eröffnen die Möglichkeit zu Sex – und nicht nur als hypothetische und neutrale Möglichkeit: Jemanden zum Sex einzuladen heißt auch zu zeigen, dass man wirklich gerne Sex mit der anderen Person hätte. Und wenn eine Einladung zum Sex angenommen wird, dann sind beide Personen dankbar. Einladungen können aber abgelehnt werden, ohne dass die einladende Person das Recht hat, verletzt oder verstimmt zu sein – natürlich darf sie enttäuscht sein. Einladungen zum Sex müssen sich – wie auch alle anderen Formen von Einladungen – an bestimmte Regeln halten; ich kann nicht einfach jeden in jeder Situation zum Sex einladen, so wie ich auch zu keiner Party einladen kann, die ich nicht selbst veranstalte. Ich kann auch keine Personen zu meiner Party oder zum Sex einladen, die ich selbst überhaupt nicht kenne. Außerdem kann sich die eingeladene Person natürlich, auch wenn sie die Einladung angenommen hat, jederzeit anders entscheiden. Wenn ich auf deine Einladung hin zu deiner Party komme und mich dann langweile, kann ich auch einfach wieder gehen – nichts kann mich daran hindern. Was dann auch bedeuten würde: Wenn ich plötzlich doch keine Lust mehr auf Sex habe, dann kann ich auch wieder aufhören, Sex zu haben.

Einladungen – für den Fall, dass sie angenommen werden – rufen einen Zustand von Dankbarkeit bei beiden Parteien hervor. Aber sollten wir auch grundsätzlich dankbar sein für jede sexuelle Einladung? Es scheint zunächst auf der Hand zu liegen, dass Dankbarkeit nicht alleine deshalb angebracht ist, weil wir eine Einladung zum Sex erhalten. Dies kann zwei Gründe haben: Zum einen sind die meisten ‚Einladungen‘ – und vor allem jene, für die man keine Dankbarkeit verspürt – unlautere Einladungen, also Einladungen, die sich eben nicht an die Regeln halten, wie zum Beispiel die Einladung von völlig Fremden. Natürlich könnte man hier einwenden, dass es auch andere Beispiele gibt, bei denen wir keine Dankbarkeit empfinden, die sich aber dennoch an die Regeln halten. Wenn mich eine lange und sehr gute, aber ausschließlich platonische, Freundin überraschend zum Sex einlädt, verspüre ich nicht unbedingt Dankbarkeit. Allerdings sollte man hier genauer hinterfragen, warum keine Dankbarkeit verspürt wird. So ist es doch sehr wahrscheinlich, dass wir uns über unsere Freundin und ihre Einladung ärgern, weil wir zu Recht befürchten, dass sich mit dieser Einladung der Charakter der Freundschaft verändert. Angenommen, unsere Freundin ist nun aber gar nicht sauer, wenn wir die Einladung ablehnen, und unsere Freundschaft verändert sich durch die Einladung auch gar nicht, dann haben wir sehr wohl Anlass zur Dankbarkeit. Schließlich zeigt uns unsere Freundin damit, wie gern sie uns hat.

Der zweite Grund, warum wir denken könnten, dass Dankbarkeit nicht angebracht ist, ist dieser: Dankbarkeit, gerade die von Frauen, ist häufig eine heikle Angelegenheit. Dankbarkeit kann in einer sexistischen Gesellschaft wie der unseren schnell umgedeutet werden, als wäre Dankbarkeit nicht einfach nur Dankbarkeit, sondern bereits die Annahme der Einladung. Aber im Kontext einer ernst gemeinten Einladung, die sich an die Regeln hält, würden wir wahrscheinlich tatsächlich Dankbarkeit für eine Einladung zum Sex empfinden – schließlich zeugt diese Einladung davon, dass der einladenden Person der Sex mit uns etwas bedeuten würde.

Dankbarkeit ist also tatsächlich eine angebrachte Reaktion auf Einladungen zum Sex, die sich an die Regeln halten – auch wenn man die Einladung ablehnt. Nun könnte man aber einwenden, dass Einladungen eine Handlungsmöglichkeit offerieren, die nicht einfach grundlos zurückgewiesen werden darf, wenn die Einladung regelgerecht erfolgt. Dies würde uns allerdings unter einen unangenehmen Druck setzen, dem aufgrund der Sozialisierung vielleicht gerade Frauen Probleme hätten, sich zu widersetzen. Anders gefragt: Wenn wir das Initiieren von Sex als Einladung verstehen, haben wir dann nicht weniger Möglichkeiten abzulehnen als bei einer simplen Anfrage zu Sex? Stellen wir uns wieder das oben genannte Beispiel vor: Meine gute, platonische Freundin Mia lädt mich unerwarteterweise zum Sex ein. Und weiter angenommen, ich habe eine klassische Sozialisierung als Frau erhalten; es ist mir zuwider andere Personen zu enttäuschen und ich gehe Konflikten lieber aus dem Weg. Setzt mich Mias Einladung nun so stark unter Druck, dass meine Handlungsmöglichkeiten dadurch eingeschränkt sind? Ja. Aber nur, wenn ich davon ausgehen muss, dass Mia sauer ist, wenn ich ihre Einladung nicht annehme. Erfolgt die Einladung aber regelgerecht – und hier liegt der Trick  , darf Mia zwar enttäuscht sein, aber eben nicht sauer. Nun könnte man aber argumentieren, dass meine Sozialisation so stark ist, dass ich es schon nicht ertragen könnte, Mia enttäuscht zu sehen. Und tatsächlich scheint das ein realistisches Szenario zu sein: Nehmen wir mal an, Mia lädt mich zu ihrem 40. Geburtstag ein. Die Ablehnung – auch wenn ich es wirklich unter keinen Umständen schaffen kann, weil ich mit hohem Fieber im Bett liege – wird mir schwerfallen, weil ich Mia nicht enttäuschen möchte.

Würde ich nicht mit Fieber im Bett liegen, würde ich vielleicht aus Pflichtbewusstsein zu der Party gehen, auch wenn ich gar keine Lust habe. Es ist also tatsächlich gar nicht so weit hergeholt, anzunehmen, dass ich auch aus Pflichtbewusstsein mit Mia Sex haben würde, obwohl ich keine Lust dazu habe. Andererseits – und das scheint hier der entscheidende Faktor – kann ich zu Recht annehmen, dass Mias Enttäuschung davon abhängt, warum ich ablehne. Wenn ich mit Fieber im Bett liege, wird Mia weniger enttäuscht über meine Ablehnung sein – auch wenn sie natürlich weiterhin enttäuscht sein wird, dass ich nicht mit ihr feiern kann – als wenn ich ablehne, weil ich lieber den Tatort im Fernsehen schauen möchte. Und so auch bei meiner Ablehnung auf die Einladung nach Sex.

Wenn ich Mia erkläre, dass ich sie auch gerne mag, aber Angst habe, dass Sex unsere Freundschaft verändern oder sogar zerstören würde, ist Mia wahrscheinlich weniger enttäuscht als wenn ich ihr sage, dass ich gerade lieber eine Tierdoku im Fernsehen sehen würde. So gesehen macht Mias Einladung tatsächlich Handlungsmöglichkeiten auf statt diese zu verschließen, denn sie gibt mir die Möglichkeit zu kommunizieren, warum ich die Einladung nicht annehmen kann oder möchte.

Das Initiieren von Sex impliziert also nicht automatisch die Form einer Anfrage oder Aufforderung, sondern könnte auch als Einladung verstanden werden. Einladungen geben dabei allen beteiligten Personen mehr Möglichkeiten, ihre sexuelle Handlungsfähigkeit auszuschöpfen. Außerdem implizieren Einladungen, dass Sex – wenn die Einladung nicht unlauter ist – etwas Schönes ist und dass wir aktiv daran teilnehmen; egal, ob wir die Einladung dazu annehmen oder ablehnen. Zustimmung dagegen fokussiert darauf, dass wir ‚erlauben‘, dass etwas mit uns geschieht. Dennoch hat eine Einladung ein mit Zustimmung gemeinsames Problem: Obwohl Einladungen besser verdeutlichen können, wie Sex initiiert werden sollte, stellt sich auch hier die Frage, ob sie auch die Möglichkeit bieten, den einmal initiierten Sex vorzeitig zu beenden. Wir können zwar eine Party vorzeitig verlassen, und es gibt nicht viel, was der*die Gastgeber*in tun kann, um uns davon abzuhalten, aber wie ‚verlassen‘ wir eine einmal begonnene sexuelle Handlung? Fallen wir wieder auf das »Nein heißt Nein«-Modell zurück? Sex können wir vorzeitig beenden, indem wir mittendrin unsere Ablehnung, unser »Nein«, äußern.

Aber wie schon angesprochen, klappt das nicht immer. Manchmal wird unser »Nein« nicht als Ablehnung gelesen, manchmal schaffen wir es einfach nicht, überhaupt »Nein« zu sagen, auch wenn der Sex mittlerweile nicht mehr willkommen ist. Auf dieses Problem gehe ich im nächsten Kapitel genauer ein; interessanterweise hat die BDSM- Community (Bondage & Discipline, Dominance & Sub- mission, Sadism & Masochism) schon längst eine Lösung gefunden, der aber immer noch viel zu wenig Bedeutung für die generelle Diskussion über sexuelle Aktivitäten beigemessen wird.

Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Sex und Moral« bietet den Rest des Kapitels und mehr.

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