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Lexikon der Astronomie: Antimaterie

Antimaterie besteht aus Antiteilchen. Antiteilchen unterscheiden sich von 'normalen' Teilchen nur im Vorzeichen aller additivenQuantenzahlen. Zu den additiven Quantenzahlen gehört die elektrische Ladung, die Baryonenzahl, aber auch die verallgemeinerten Ladungsbegriffe wie Farbladung und schwache Hyperladung. Alle anderen Eigenschaften, wie Masse, Spin, Isospin und Lebensdauer sind identisch.

Kein schöner Tanz: Paarvernichtung

Trifft ein Teilchen auf sein Antiteilchen, so vernichten sie sich gegenseitig. In der Physik heißt dieser Vorgang Paarvernichtung oder Annihilation. Aus der Vernichtung der Teilchen geht elektromagnetische Vernichtungsstrahlung (Annihilationsstrahlung) hervor.

Dann lieber 'Teilchen aus dem Nichts'

Der umgekehrte Vorgang passiert jedoch auch: die Paarerzeugung. Dabei wandelt sich Strahlungsenergie in Materie um. Das Erstaunliche an diesem Phänomen ist, dass aus Photonen mit Ruhemasse null massebehaftete Teilchen, also Teilchen endlicher Ruhemasse, hervorgehen. Es gilt dabei immer die strenge Einhaltung der Energieerhaltung. Das berühmte Masse-Energie-Äquivalent, E = mc2, das Albert Einstein 1905 in seiner Speziellen Relativitätstheorie (SRT) abgeleitete, kann herangezogen werden, um die Energie der Strahlung zu berechnen. Weil die Teilchen vollständig zerstrahlen, geht ihre gesamte Masse in Strahlungsenergie. Neben Energieerhaltung ist auch die Drehimpulserhaltung zu beachten, daher ist in der Regel für diesen Prozess ein Rückstosskern oder Rückstossteilchen vonnöten.

Beispiel: Elektron & Positron

Das bekannteste Beispiel, weil in der Natur häufig anzutreffen, ist die Erzeugung oder Vernichtung eines Elektron-Positron-Paares. Jedes dieser Teilchen hat eine Ruhemasse von 511 keV, nur unterscheiden sie sich in der elektrischen Ladung: das Elektron ist negativ, das Positron positiv geladen. Treffen diese beiden Teilchen zusammen, so entsteht die charakteristische Vernichtungsstrahlung in Form von zwei entgegengesetzt auseinander laufenden Gammaphotonen mit einer Energie von jeweils 511 keV. Elektron und Positron haben sich vernichtet. Es müssen zwei Photonen entstehen, weil neben der Energieerhaltung auch die Erhaltung von Impuls und Drehimpuls beachtet werden muss.
Die beiden Leptonen, Elektron und Positron, sind leichte Teilchen. Demzufolge wäre die Vernichtungsstrahlung aus einem Proton und einem Antiproton, die jeweils 2000fach schwerer sind als das Elektron bzw. Positron entsprechend noch hochenergetischer! In der Natur ist das sicher weniger häufig realisiert, jedoch gibt es astrophysikalische Quellen bei denen dieser Prozess in Erwägung gezogen wird. In der Teilchenphysik bzw. Hochenergiephysik werden bei hohen Energiedichten virtuelle Paare aus schweren Teilchen und Antiteilchen erzeugt. Die Nukleonen sind Baryonen und bestehen aus drei Quarks. Präzise gesagt nennt man sie die drei Valenzquarks. Sie wechselwirken durch den Austausch von Gluonen miteinander, die die starke Kraft vermitteln. Im Rahmen der Heisenbergschen Unschärfe der Quantentheorie können sich die Gluonen in virtuelle Paare aus Quark und Antiquark verwandeln. Dann existiert für kurze Zeit im Nukleon neben drei Valenzquarks ein so genannter Quark-See aus vielen Quark-Antiquark-Paaren.

Star Treks Pioniere

Der Quantenphysiker Paul Dirac (1902 – 1984) hat als erster die Existenz von Antimaterie 1928 theoretisch vorhergesagt, indem er eine speziell relativistische Erweiterung der Quantenmechanik formulierte (Dirac-Theorie). Dabei stellte sich heraus, dass der Spin der Teilchen eine natürliche Eigenschaft in der relativistischen Quantenmechanik ist.
In der Dirac-Theorie tauchte neben dem Elektron sein Antiteilchen, das Positron, auf. Im Speziellen war es dieses Teilchen, das später, im Jahr 1932, von C.D. Anderson experimentell gefunden wurde. Antiproton und Antineutron (mit entsprechendem Quarkinhalt anti-u, anti-u, anti-d bzw. anti-u, anti-d, anti-d) folgten viel später, in den Jahren 1955 und 1958.

Endlich Antiatome

Es ist möglich aus Antiteilchen Antiatome experimentell herzustellen. Dies ist jedoch sehr aufwendig, weil aus oben erläuterten Gründen die Antiatome gut von der normalen Materie abgeschirmt werden muss. Dies gelingt mit so genannten magnetischen Fallen. Am CERN ist es im Jahre 1995 für sehr kurze Zeit gelungen das einfachste Antiatom, nämlich Antiwasserstoff, herzustellen, wo ein Positron um ein negativ geladenes Antiproton 'kreist'! Die Herstellung von Antimaterie wird weiter intensiviert, um sie längere Zeit bestehen lassen zu können, beispielsweise dadurch dass ein Strahl relativistischer Teilchen auf Materie prallt, einem Prozess, wo auch Antiteilchen freigesetzt werden.
Teilchen, die ihr eigenes Antiteilchen sind, nennt man Majorana-Teilchen. So nimmt man vom elektrisch neutralen und sehr leichten, schwach wechselwirkenden Neutrino an, dass es ein Majorana-Teilchen ist. In Experimenten, die den doppeltenBeta-Zerfall und die Erhaltung der Leptonenzahl untersuchen, versuchen Physiker dies nachzuweisen.

Antimaterie im Kosmos – na klar!

Die Frage, ob isolierte Galaxien aus Antimaterie bestehen, ist nicht ohne weiteres zu beantworten, weil die Photonen die gleichen Eigenschaften hätten, wie bei einer Galaxie mit normaler Materie. Nur die Teilchenemission der Galaxie scheint ein Weg zu sein, um darüber eine Aussage treffen zu können. Man geht davon aus, dass die Materie gegenüber der Antimaterie bei weitem überwiegt, weil ansonsten im Überlappungsgebiet eine signifikante Emission von Annihilationsstrahlung beobachtet werden müsste. Tatsächlich wird die Annihilationsstrahlung von Elektronen und Positronen als Gammaspektrallinie bei 511 keV Ruheenergie von Astronomen beobachtet. So nutzten Astronomen des Max-Planck-Instituts für Astrophysik 2004 das SPI-Instrument an Bord des Gammasatelliten Integral, um die Gammalinie im Zentrum der Milchstraße zu beobachten (Churazov et al., astro-ph/0411351). Die Linie verriet, dass das interstellare Gas in der Sagittarius-Region etwa 7000 bis 40000 Grad heiß ist.
Im lokalen Universum beobachten wir eine Dominanz der 'normalen' Materie. Der Ursprung dieser Materie wird mit der Baryogenese beschrieben. In diesem Modell der Kosmologie wird davon ausgegangen, dass die 'normale' Materie nicht in allen Entwicklungsphasen des Universums dominant war. In einer der frühesten Stadien des Kosmos gab es vermutlich sogar fast gleich viel Materie und Antimaterie. Diese Phase heißt GUT-Ära. In dieser Epoche war es so heiß, etwa 1016 GeV, dass drei der vier Naturkräfte zur X-Kraft 'verschmolzen waren'. Diese Eigenschaft heißt auch GUT-Symmetrie. Die Großen Vereinheitlichten Theorien werden zugrunde gelegt, um den GUT-Kosmos zu beschreiben. Die GUT erlaubt, dass die Erhaltung der Bayonen- und Leptonenzahl verletzt werden kann. So ist es ohne weiteres möglich, dass sich über verschiedene Teilchenreaktionen ein Missverhältnis zwischen den Mengen an Materie und Antimaterie herausstellt. Es genügt bereits eine winzige Materie-Antimaterie-Asymmetrie, in der auf jedes Antiteilchen ein plus ein Milliardstel Teilchen kommen. Sobald die GUT-Symmetrie infolge der Abkühlung des Universums durch Expansion gebrochen wird (unterhalb etwa 2 × 1016 GeV), gilt die Baryonenzahlerhaltung. Dann kann das Verhältnis Materie zu Antimaterie für den ganzen Kosmos nicht mehr geändert werden! Die bis dato vorhandene Materie und Antimaterie vernichtete sich zu gleichen Anteilen gegenseitig. Die daraus hervorgehende Annihilationsstrahlung verwandelte den frühen Kosmos in ein Strahlenmeer aus Photonen. Diese Urstrahlung ist heute noch nachweisbar: Es ist die kosmische Hintergrundstrahlung, die hier ihren Ursprung fand. Die Strahlung war in ihrer Bildungsphase noch 'eingeschlossen' in ein dichtes Urplasma. Anfangs bestand das Urplasma aus Quarks und Leptonen. In folgenden Entwicklungsphasen bildeten sich Baryonen, Mesonen, später Nukleonen in der primordialen Nukleosynthese und schließlich Atome in der Rekombinationsära. Erst in dieser relativ späten Entwicklungsphase des Kosmos, bei einer kosmologischen Rotverschiebung von z = 1100 oder 380000 Jahre nach dem Urknall, konnten die Urphotonen ihren 'Käfig' aus dichtem Plasma verlassen: Die Hintergrundstrahlung verließ die letzte Materiefläche (engl. last scattering surface), an der sie streute und war frei. Man spricht im Physikerjargon auch von der Entkopplung der Hintergrundstrahlung. Springen wir noch einmal an den Punkt, wo die Vernichtungsstrahlung entstand: Der geringe Anteil an Materie, der keinen passenden Antimateriepartner fand, zerstrahlte nicht und überdauerte das Inferno. So erklärt die minimale Materie-Antimaterie-Asymmetrie der GUT-Ära das Vorhandensein und die Dominanz der Materie heute, im lokalen Kosmos.

Antimaterie im Alltag der Physiker

Die Antimaterie ist schon lange Gegenstand der Science-Fiction Literatur, aber an sich nicht so exotisch, wie dort dargestellt wird. An Teilchenbeschleunigern ist die kurzzeitige Existenz von Antiteilchen ein alltägliches Phänomen. Erinnert sei noch an den Warpantrieb in der SF-Serie Star Trek und das positronische Gehirn des Androiden Lt. Commander Data bei Star Trek – The Next Generation. In beiden Fällen sollten erhebliche Schwierigkeiten darin bestehen, die Antimaterie von der normalen Materie abzuschirmen. Die positronischen Ströme könnten magnetisch auf Sollbahnen gehalten werden. Offensichtlich hat diese hoch entwickelte Zivilisation Mittel und Wege gefunden, dies in den Griff zu bekommen.

  • Die Autoren
- Dr. Andreas Müller, München

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