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Lexikon der Astronomie: Röntgendoppelstern

Röntgendoppelstern aus Riesenstern und Schwarzem Loch Röntgendoppelsterne (X-ray binaries, XRBs) sind Doppelsternsysteme (Binärsysteme, engl. binary system) mit deutlich ausgeprägter Röntgenleuchtkraft. Typischerweise ist die kompakte Komponente die dominante und entscheidende Röntgenquelle.

Ein Stern zu Gast beim Wirt

Nach einem gängigen Modell wird die Röntgenemission dadurch erklärt, dass Materie von einem 'Wirtsstern' oder Donatorstern zum 'Parasiten', der kompakten Komponente, gelangt. Die Materie wird vom tiefen Gravitationspotential der kompakten Komponente angezogen und aufgesammelt. Dieser Prozess heißt Akkretion. Dabei entsteht ein charakteristisches Leuchten im hochenergetischen Bereich der elektromagnetischen Strahlung: Röntgenstrahlung wird ausgesendet.

zwei Szenarien

1) Für den Materieübertritt gibt es zwei Szenarien: Entweder es kommt zum Massenüberfluss durch den inneren Lagrange-Punkt des Doppelsternsystem. An diesem charakteristischen Punkt zwischen zwei Massen heben sich die Gravitationskräfte beider Komponenten gerade gegenseitig auf. Dieses Phänomen heißt in der Fachwelt Roche lobe overflow, weil hier der Donatorstern sein Roche-Volumen überschreitet.
2) Oder es kommt im zweiten Szenario zur Wind-Akkretion. Hier wird der Teilchenwind des Begleitsterns zum Teil eingefangen und findet auf diese Weise den Weg zum kompakten Objekt. Als kompaktes Objekt kommen sämtliche Typen in Frage: Weißer Zwerg, Neutronenstern, Quarkstern, stellares Schwarzes Loch – oder vielleicht sogar die Alternativen zum klassischen Loch, nämlich Gravastern oder Holostern.

Unterteilung der Röntgendoppelsterne

  • Die Low-Mass X-ray Binaries (LMXBs) bestehen aus stellarem Schwarzem Loch oder Neutronenstern plus leichtem Stern, der eine Masse von zwei Sonnenmassen nicht überschreitet. Entsprechend sind die Donatorsterne in LMXBs kühler und besitzen keine starken Winde. Ihre Sternwinde sind eher schwach ausgeprägt und vergleichbar dem Sonnenwind.
  • Ist der Donatorstern schwer und wiegt mehr als zwei Sonnenmassen, so spricht man von High-Mass X-ray Binaries (HMXBs). HMXBs zeigen deshalb starke Sternenwinde der massereichen Begleiter, die oft junge Sterne vom Spektraltyp O oder B sind und oftmals den Wolf-Rayet Typus entsprechen. Sie beherbergen auch ein stellares Schwarzes Loch oder Neutronenstern als kompakte Komponente.
  • Handelt es sich bei der kompakten Komponente definitiv um ein Schwarzes Loch, so verwendet man meist in der Terminologie den Begriff Mikroquasar oder auch Black Hole X-ray Binary (BHXB). Manchmal sprechen Astronomen dennoch von Mikroquasaren, auch wenn die kompakte Komponente ein Neutronenstern sein könnte. Das erklärt sich dadurch, dass sie häufig nicht genau wissen, um welches Objekt es sich bei der kompakten Komponente handelt. So wird schon seit geraumer Zeit SS 433 als Mikroquasar bezeichnet, obwohl man erst seit kurzem relativ sicher weiß, dass sich hier ein stellares Schwarzes Loch befindet. Die Differenzierung ob Neutronenstern oder Loch gelingt dann, wenn Astronomen die Masse der kompakten Komponente ableiten können (z.B. aus den Kepler-Gesetzen): Liegt sie oberhalb von etwa drei Sonnenmassen, kann man sich ziemlich sicher sein, ein stellares Schwarzes Loch entdeckt zu haben. Andere Objekte passen einfach nicht in die Beobachtungen und Modellvorstellungen. Der genaue Massenwert ist noch unbekannt, weil man die exakte Massenobergrenze der Neutronensterne – infolge Unsicherheiten bei der Zustandsgleichung – noch nicht genau kennt. Aktuell besteht ein Spielraum bei der Obergrenze für Neutronensterne von 1.8 bis 3.2 Sonnenmassen.
  • Handelt es sich um einen akkretierenden Pulsar, also ebenfalls ein Neutronenstern, so hat sich für den Röntgendoppelstern die Bezeichnung AXP eingebürgert. Dies steht für Accreting X-ray Pulsar, also übersetzt akkretierenden Röntgenpulsar.
  • Ist die kompakte Komponente ein Weißer Zwerg, so nennt man diese Röntgendoppelsterne kataklysmische Veränderliche (engl. cataclysmic variables, CVs). Da die Strahlungsemission mit der gravitativen Energie des kompakten Objekts skaliert und Weiße Zwerge weniger kompakt sind als Neutronensterne und diese wiederum weniger kompakt als Schwarze Löcher, ist die kontinuierliche Röntgenemission kataklysmischer Veränderlicher eher unterdrückt. Es kann allerdings heftige Ausbrüche geben, also intensive Röntgenstrahlung auf kurzen Zeitskalen (Röntgenbursts). Sie ereignen sich dann, wenn akkretierte Materie auf der Oberfläche des Zwergs 'niederregnet'. Wenn der Weiße Zwerg eine kritische Masse angesammelt hat, die so genannte Chandrasekhar-Masse von etwa 1.46 Sonnenmassen, explodiert das System in einer charakteristischen Supernova vom Typ Ia. Diese besonders hellen Ausbrüche nutzen Astronomen als Standardkerzen zur Eichung von Helligkeiten, zur Entfernungsbestimmung und zur Messung kosmologischer Parameter, die Zustand und Dynamik des Universums festlegen.

Wer pustet da?

Die HMXBs haben also einen massereichen Donatorstern der starke Winde auf das kompakte Objekt bläst. Aus diesem Grund kann der Abstand der Doppelsternkomponenten größer sein, als bei den LMXBs (vergleiche Wind-Akkretion). Der Teilchenwind kann durch die Absorption von UV-Photonen getrieben werden, die von der kompakten Quelle, beispielsweise der Akkretionsscheibe, stammen (engl. line driven wind). Dies funktioniert nur, wenn der Wind nicht allzu hoch ionisiert ist. Andernfalls ist der Wind nämlich transparent für UV-Photonen und Röntgenstrahlung könnte den Wind heizen. Die hochenergetische Röntgenstrahlung kann z.B. von einer 'Blase' sehr heißen Plasmas, der Korona, emittiert werden. Koronen bilden sich in Verbindung mit dem Akkretionsfluss aus und fluktuieren sowohl zeitlich, als auch räumlich.

HMXBs magnetischer als LMXBs

Die Magnetfelder der HMXBs scheinen stärker ausgeprägt zu sein, als bei den LMXBs. Dieser Sachverhalt könnte auf effizientere Dynamos schnell rotierender kompakter Objekte zurückgeführt werden. Durch gravitomagnetische Prozesse wie dem Lense-Thirring-Effekt kann eine rotierende Raumzeit Magnetfeldlinien, die im Akkretionsfluss 'eingefroren' sind, mitschleppen. Dadurch werden die Feldlinien verdrillt, 'aufgezogen' und damit verstärkt. Besonders effizient ist solch ein Dynamo bei schnell rotierenden Schwarzen Löchern, die durch die Kerr-Lösung mathematisch beschrieben werden.
Der Lense-Thirring-Effekt hat noch einen anderen interessanten Aspekt, der für Röntgendoppelsterne eine Rolle spielt: Die gravitomagnetischen Kräfte können auf die Akkretionsscheibe einwirken. Dies führt zu einer kreiselartigen Torkelbewegung (Lense-Thirring-Präzession), die mit einer charakteristischen Frequenz assoziiert ist. Sie heißt Lense-Thirring-Frequenz und wird mit einer der beobachteten Frequenzen von Quasi-periodische Oszillationen (QPOs) in Verbindung gebracht.

wunderbare Mira

Röntgendoppelstern Mira A und Mira B im Röntgenlicht Kürzlich, Ende April 2005, gelang den Röntgenastronomen eine wunderbares Foto, das die Vorstellung des Materialüberflusses in engen Röntgendoppelsternen beeindruckend untermauerte. Die Abbildung rechts zeigt die Beobachtung des veränderlichen Sterns Mira, die mit dem Röntgensatellit Chandra gemacht wurde (Credit: NASA/CXC/SAO/M. Karovska et al., 2005; ePrint Publikation unter astro-ph/0503050). Die Astronomen beobachteten in diesem Doppelsternsystem im Sternbild Cetus (dt. Walfisch) einen Röntgenausbruch, der in der Fachwelt soft X-ray transient, also ein vorübergehender Ausbruch im Bereich weicher Röntgenstrahlung, genannt wird. Man sieht hier den klassischen Fall, wie ein Riese einen Zwerg füttert: Rechts im Bild sieht man den Roten RiesenMira A, präzise gesagt handelt es sich um einen AGB-Stern. Dieser Sternengigant hat den 600fachen Sonnenradius; säße er anstelle der Sonne in unserem Sonnensystem, würde seine Oberfläche zwischen den Umlaufbahnen von Mars und Jupiter liegen. Links befindet sich – versteckt in einer heißen 'Gaswolke' – die kompakte Komponente, Mira B (VZ Ceti), die ein Weißer Zwerg ist. Der Abstand der beiden Sterne beträgt nur rund 70 Astronomische Einheiten (entsprechend 0.6 Bogensekunden), so dass auf den Zwerg Materie des Riesen überfließen kann. Im 420 Lichtjahre entfernten Doppelsternsystem Mira AB findet der Materieüberfluss durch Windakkretion statt und ähnelt damit eher den symbiotischen Sternen. Zwar entsteht der Eindruck, dass hier rechts das deformierte Roche-Volumen abgebildet wäre, doch ist das nur die durch den Sternenwind nicht kugelförmige Helligkeitsverteilung des Riesen. Mira A verliert durch den Sternenwind 10-7 Sonnenmassen pro Jahr (Bowers & Knapp, 1988). Das Verblüffende an diesem Bild ist neben der hohen räumlichen Auflösung des Systems, dass erstmal ein einzelner AGB-Stern als starke Röntgenquelle in Erscheinung getreten ist. Der Röntgenausbruch wird nun damit erklärt, dass eine große Materiemenge aus der Sternoberfläche geschossen wurde. Dieser Vorgang ist durchaus mit den magnetohydrodynamisch getriebenen Sonnenflares vergleichbar: Die Magnetfeldlinien in der Umgebung der Sternoberfläche vernichten sich gegenseitig durch magnetische Rekonnexion. Somit wird magnetische Energie in kinetische Energie des Plasmas umgewandelt und treibt einen Materieauswurf aus der Sternoberfläche an.
Durch Massenauswurf-Ereignisse (engl. mass ejection events) erhöht sich auch kurzzeitig die Akkretionsrate auf den Weißen Zwerg. So trägt auch der Akkretionsfluss zum Ausbruch bei, falls die plötzliche 'Überfütterung des Zwergs' für Strahlungsausbrüche in der Gasscheibe sorgt oder ein jet-artiger Auswurf beim Zwerg angeregt wird. Doch Zwerge vertragen nicht soviel Futter: Sollte Mira B zuviel Material anhäufen und die Chandrasekhar-Masse überschritten werden, könnte dem Riesen Mira A die gut gemeinte Fütterung die Existenz kosten. Denn dann explodiert der Weiße Zwerg in einer Supernova Typ Ia und zerstört das Doppelsternsystem. Merke: Unterschätze nie David, Goliath!

Anmerkung: Mira-Veränderliche

Mira A ist der Prototyp der so genannten Mira-Veränderlichen (Mira-Sterne, kurz Miras). Sie sind regelmäßige Pulsationsveränderliche mit langen Perioden von hundert bis zu tausend Tagen. Miras Periode beträgt etwa 330 Tage und kann mit dem bloßen Auge verfolgt werden. Die periodisch Helligkeitsschwankung ist das 'Wunderbare' an Mira und gab ihm im 17. Jahrhundert seinen lateinischen Namen.

Weitere Informationen

  • Die Autoren
- Dr. Andreas Müller, München

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