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Lexikon der Astronomie: Vereinheitlichung

Vereinheitlichung oder Unifikation ist eine erfolgreiche Strategie, die in der modernen Physik verfolgt wird. Physiker versuchen verschiedene Phänomene in der Natur einheitlich zu beschreiben. Diese Strategie als Leitprinzip ist ästhetisch und pragmatisch, denn sehr viele unterschiedliche Sachverhalte können mit demselben Apparat formuliert werden. Letztlich offenbart dies eine tiefe Einsicht in die Natur, weil es zeigt, dass Vieles nach immer wiederkehrenden Prinzipien funktioniert. Man kann sagen, dass Selbstähnlichkeit ein fundamentales Naturgesetz ist. Dies ist auch die Basis für Interdisziplinarität, denn selbstähnliche Prinzipien können so fachübergreifend ausgetauscht werden. Der Betrachter empfindet dies als ästhetisch. Warum das so ist, ist eher eine philosophische und psychologische Frage ('Finde schön, was so ist wie Du.').

Etappenziele der Vereinheitlichung in der Physik

Newton

Die Vereinheitlichung der Physik zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Physik: Als erste Vereinheitlichung wird heute, wenn auch trivial erscheinend, die Newtonsche Gravitationstheorie angesehen. Im 17. Jahrhundert gelang es dem englischen Physiker, Mathematiker und Astronom Sir Isaac Newton irdische Kräfte (fallende Körper) und kosmische Kräfte (Planetenbewegung) zu vereinheitlichen und als wesensgleich anzuerkennen. Vor dem Hintergrund seiner Zeit ist das eine enorme gedankliche Leistung, weil er die menschliche Erfahrungswelt 'Erde' mit der göttlichen Welt 'Himmel' gleichsetzte. Die Entwicklung des adäquaten mathematischen Formalismus (zeitgleich, aber unabhängig voneinander mit dem deutschen Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz), der Infinitesimalrechnung, war eine weitere seiner herausragenden Leistungen.

Maxwell

Im 19. Jahrhundert folgte dann die zweite große Vereinheitlichung der Physik in Form des Elektromagnetismus durch James Clerk Maxwell. Elektrische und magnetische Phänomene konnten in Gestalt der Maxwell-Gleichungen zusammengefasst werden. Magnetische und elektrische Felder können auf der Grundlage dieser Theorie ineinander verwandelt werden und die Unterscheidung ihres Wesens ist hinfällig. Aus den Maxwell-Gleichungen folgt auch, dass (Licht oder allgemeiner gesprochen Strahlung) eine elektromagnetische Welle ist, die sich auch im Vakuum ausbreiten kann.

Einstein

Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Relativitätstheorie von Albert Einstein entwickelt. In dieser Theorie wurden die physikalischen Begriffe Masse und Energie vereinheitlicht. In der berühmten Gleichung E = mc2 kommt dies zum Ausdruck. Gleichwohl vereinheitlichte die Einsteinsche Theorie Raum und Zeit zur Raumzeit.

Kaluza & Klein

Die Kaluza-Klein-Theorie wurde ebenfalls Anfang des 20. Jahrhunderts, kurz nach der Allgemeinen Relativitätstheorie entwickelt (ART). Einsteins ART wurde hier mit Maxwells Elektrodynamik verknüpft – Schönheitsfehler: die Kaluza-Klein-Theorie erfordert eine räumliche Extradimension. Die Erfolge der Quantentheorie ließen die Kaluza-Klein-Theorie in Vergessenheit geraten. Erst Ende des 20. Jahrhunderts erinnerten sich die Stringtheoretiker an diese äußerst interessante 5D-Feldtheorie, die viele Aspekte (wie die Kompaktifizierung) birgt, die heute wieder als bedeutsam erachtet werden.

Planck & Kollegen

Ebenfalls Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Quantentheorie ausgearbeitet. Die Quantenelektrodynamik (QED) kann als quantisierte Weiterentwicklung der klassischen Elektrodynamik Maxwells verstanden werden. Das Austauschquant dieser elektromagnetischen Wechselwirkung, das Vektorboson, ist das Photon. Aus heutiger Sicht ist die QED die erste Quantenfeldtheorie (QFT) gewesen, die entwickelt wurde. Später ist es gelungen, auch die anderen fundamentalen Wechselwirkungen in der Natur (bis auf die Gravitation) unter einheitlicher Perspektive durch Austauschteilchen (intermediäre Bosonen) zu beschreiben, die zwischen verallgemeinerten Ladungen (elektrische Ladung, schwache Ladung, Farbladung, Masse als gravitative Ladung) vermitteln. Durch den Austausch intermediärer Bosonen 'spüren' (generalisierte) Ladungsträger Kräfte.

Vereinheitlichungen von Quantenfeldtheorien

Die erste Vereinheitlichung von Quantenfeldtheorien war die elektroschwache Theorie. Die Konzepte der QED konnten mit denjenigen der schwachen Wechselwirkung vereinheitlicht werden. Die Physiker Sheldon Lee Glashow, Steven Weinberg und Abdus Salam konnten so in der elektroschwachen Theorie neue Teilchen und deren nicht verschwindenden Ruhemassen vorhersagen! Dabei handelte es sich um die beiden W- und das Z-Teilchen, die intermediären Bosonen der schwachen Wechselwirkung, die auch tatsächlich entdeckt wurden – ein unglaublicher Erfolg der Unifikation.
Die Erfolge des Vereinheitlichungsgedankens spornten weiter an, auch die anderen Wechselwirkungen in eine einheitliche Formulierung einzubetten. Den Physikern gelang es, auch die starke Wechselwirkung als dritte Kraft mit der elektroschwachen Theorie zu 'verheiraten': das Resultat sind die Großen Vereinheitlichten Theorien (GUT). Die zentrale Aussage der GUT ist, dass ab Energien von 1016 GeV die schwache, starke und elektromagnetische Wechselwirkung wesensgleich sind: Teilchenphysiker nennen sie die X-Kraft. Eine Konsequenz der GUT ist auch, dass es keinen Unterschied mehr gibt zwischen Quarks und Leptonen, den fundamentalen Konstituenten der Materie! In der Kosmologie sind die Astrophysiker von der Gültigkeit des berühmten Urknall-Modells überzeugt. Die GUT-Ära herrschte nach diesen Ideen kurz nach der Inflationsära vor. Als das Universum etwa 10-36 Sekunden alt und etwa 1027 Kelvin heiß war, verschwand die X-Kraft und die Symmetriebrechung splitterte sie auf.
Elektromagnetische, schwache und starke Wechselwirkung versammeln sich unter der Bezeichnung Standardmodell der Teilchenphysik. Bis auf das Higgs-Boson wurden alle Teilchen dieses 'Teilchenzoos' experimentell gefunden! Im neuen Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider am CERN, der Ende 2007 in Betrieb genommen wird, setzen die Forscher große Hoffnungen auch das letzte Teilchen des Standardmodells zu entdecken.

Eichtheorien

Die Quantenfeldtheorien etablierten eine neue Sprache für alle Wechselwirkungen. Die intermediären Bosonen sind Eichbosonen (Eichfelder) und können in eine Eichtheorie (engl. gauge theory) eingebettet werden. Eine Theorie bzw. eine Wechselwirkung ist eindeutig durch die Angabe ihrer Lagrangedichte oder alternativ des Wirkungsfunktionals festgelegt. Mathematisch folgt daraus eindeutig die Feldgleichung der Theorie. Die Feldgleichung wird als Bewegungsgleichung dynamischer Felder, der Naturkräfte in Quantenform, verstanden.

Grand Unified Theories (GUT) and Unified Theories (UT)

ultimative Vereinheitlichung zur Theorie von Allem

Bisher ist es allerdings nicht gelungen, die Gravitation konsistent mit den anderen drei quantisierten Kräften zu beschreiben. Der Apparat der Quantenfeldtheorien versagt bei der Schwerkraft. Dennoch gibt es bereits einen Namen für das entsprechende Austauschteilchen der Gravitation: das Graviton. Die Vereinigte Theorie (engl. Unified Theory, UT) oder Theorie von Allem (engl. Theory Of Everything, TOE), die die Gravitation in quantisierter Form in die GUT einbindet, wird nach wie vor gesucht. Unter der Bezeichnung Quantengravitation werden diejenigen Theorien zusammengefasst, die den Versuch unternehmen, das Gravitationsfeld zu quantisieren. Bisher werden dafür ausschließlich die Stringtheorien favorisiert. Allerdings ist es den Stringtheoretikern noch nicht gelungen, stringtheoretische Aspekte in überzeugender Weise mit dem wohl verifizierten Standardmodell zu harmonisieren, z.B. Massen von beobachteten Teilchen aus der Theorie abzuleiten. Eine besondere heiße Spur, die einen Durchbruch in der physikalischen Forschung verspricht, ist die AdS/CFT-Korrespondenz. Sie konnte zu einer Dualität von Eichung und Gravitation verallgemeinert werden. Diese Aspekte werden zurzeit intensiv erforscht.
Mittlerweile wird eine weitere Möglichkeit verfolgt: Sie heißt Loop-Quantengravitation (LQG). Die LQG leistet weniger als die Stringtheorien, weil sie nur versucht die Gravitation zu quantisieren, aber elektromagnetische, starke und schwache Kraft gar nicht berücksichtigt. Aber das, was die LQG leistet, klingt sehr viel versprechend. Die LQG basiert auf den Konzepten, die Einsteins Theorie diktiert: Kovarianz und Diffeomorphismusinvarianz. Besonders attraktiv ist die LQG dadurch, dass ihr eine überzeugende Quantisierung der Raumzeit in so genannte Wilson-Loops gelingt. Auf der Planck-Skala resultiert eine körnige Struktur in Volumenquanten. In gewisser Weise ist es für die Forscher beruhigend auf mindestens zwei Quantengravitationen bauen zu können, doch muss sich irgendwann eine Möglichkeit der Falsifikation oder Verifikation (Bewährung) bieten.

Was tun mit der Weltformel?

Es bleibt abschließend die Frage nach der Praktikabilität von Vereinheitlichung. Man kann folgende Fragen stellen: Wie weit geht Vereinheitlichung? Wie nützlich ist Vereinheitlichung? Was tun mit der Weltformel? Die Zusammenstellung vieler physikalischer Theorien hat gezeigt, dass es nicht unbedingt sinnvoll sein kann, die Gleichungen einer mächtigen, unifizierten Theorie auf alltägliche Problemstellungen der Physik anzuwenden. So wird z.B. die aufwendigere, relativistische Rechnung nur dort praktiziert, wo relativistische Effekte maßgeblich werden. Ansonsten reicht die Newtonsche Theorie. So verlieren alte Theorien auch nicht an Gehalt oder Wichtigkeit. Schon gar nicht kann man davon sprechen, dass alte Theorien 'falsch' seien. Das ist wissenschaftstheoretisch betrachtet Blödsinn! Jede Theorie hat eben ihren beschränkten Anwendbarkeitsbereich.
Weltformel ist ein plakativer Begriff für den 'heiligen Gral der Teilchenphysik': eine Unifikation aller Naturkräfte. Wie hier dargelegt, haben die Physiker eine solche Theorie noch nicht gefunden. Mit Fug und Recht darf man bereits die Feldgleichung von Einsteins ART als Weltformel bezeichnen – sie ist zwar nicht quantisiert und berücksichtigt auch nicht die anderen Naturkräfte, aber sie beschreibt die Welt als Ganzes im Rahmen der relativistischen Kosmologie sehr erfolgreich (siehe Friedmann-Weltmodell).
Geht man wie die Teilchenphysiker weiter, so deuten die Erfolge der Unifikationen in den Quantenfeldtheorien in der Tat so etwas wie eine Weltformel im Sinne der UT an. Nehmen wir an, wir hätten die UT in Form einer Lagrangedichte, oder äquivalent einer Feldgleichung, vorliegen. Der Nutzen dieser Weltformel wäre nur von erkenntnistheoretischer Natur. In Praxi muss diese kompakte Formulierung auf das vorliegende Problem 'herunter gebrochen' werden – dann handelt man sich wohl alle Komplexität der untergeordneten Theorien wieder ein und hat de facto naturwissenschaftlich vermutlich nichts gewonnen. Vielleicht hat man auf einer anderen Geistesebene etwas gewonnen: In der Vereinheitlichung zur Weltformel mag es zu einer Vereinheitlichung mit ganz neuem Charakter kommen: der Vereinheitlichung von Physik und Philosophie.

  • Die Autoren
- Dr. Andreas Müller, München

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