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Kompaktlexikon der Biologie: Allergien auf dem Vormarsch

ESSAY

Dr. Oliver Larbolette, Freiburg

Allergien auf dem Vormarsch

Im Laufe der letzten Jahrzehnte haben sich Allergien in all ihren verschiedenen Ausprägungen zu echten Volkskrankheiten entwickelt. Dies liegt zum einen an einer gewachsenen Aufmerksamkeit der Bevölkerung gegenüber Symptomen allergischer Erkrankungen, zum anderen jedoch auch an einer tatsächlichen Zunahme von Allergien. Studienergebnisse aus Europa, Australien, Afrika und Nordamerika belegen weltweit eine deutliche Zunahme an allergischen Erkrankungen. So leiden z.B. heute über 30 % der erwachsenen Bevölkerung in England und den USA an Heuschnupfen, während diese Erkrankung dort noch vor 200 Jahren praktisch unbekannt war. Noch deutlicher ist der Trend bei Asthma. Hier hat sich die Zahl der Erkrankungen innerhalb der letzten 20 Jahre mehr als verdoppelt, so dass Asthma heute die häufigste chronische Erkrankung im Kindesalter ist. Interessanterweise ist der Zuwachs an Allergien jedoch nicht überall gleichmäßig, sondern steht in starker Abhängigkeit von Lebensart und Lebensraum. So sind z.B. Heuschnupfen und Asthma in ländlichen Gegenden von Afrika, Russland oder von Entwicklungsländern deutlich seltener als in entwickelten Industrieländern mit „westlichem“ Lebensstil. Weltweit werden großangelegte epidemiologische Studien betrieben, um die Ursachen von Allergien und ihrer Zunahme herauszufinden. Ziel ist es, über Vergleiche mögliche allergieauslösende oder -fördernde Risikofaktoren in der Umwelt zu identifizieren.

Physiologische Grundlagen von Allergien

Allergien sind gekennzeichnet durch verschiedene Symptome (Tab. Allergie), die in Verbindung mit einem erhöhten Spiegel an IgE-Antikörpern (Immunglobuline) im Serum der Patienten stehen. Hierauf sind chronische allergische Erkrankungen, wie z.B. Asthma, zurückzuführen. Sie werden jedoch durch den Einfluss weiterer Faktoren, wie z.B. anhaltender Infektionen, auf das allergisch reagierende Immunsystem verstärkt und erweitert. Demgegenüber bezeichnet der Begriff Atopie das vermehrte Auftreten von IgE-Antikörpern (nachzuweisen im Haut- oder Prick-Test), ohne dass zwingend allergische Symptome auftreten. In verschiedenen Studien an Tier und Mensch wurde eine allgemeine Wirkkette bestätigt, die das Auftreten von Allergien und Atopien auf die vermehrte Produktion einer bestimmten Klasse von Cytokinen zurückführt. Diese Cytokine werden von so genannten T-Helferzellen (T-Lymphocyten) der Klasse 2 hergestellt und freigesetzt. Es handelt sich dabei vor allem um die Interleukine 4, 5, 6, 9, 10 und 13, sowie um Makrophagen-assoziierte Cytokine und GM-CSF (Kolonie stimulierende Faktoren). Ihre Wirkungen sind direkt oder indirekt für die meisten pathophysiologischen Aspekte allergischer Erkrankungen verantwortlich. Sie führen zu einer verstärkten Produktion von IgE-Antikörpern durch B-Lymphocyten, zur Vorbereitung und Aktivierung von Mastzellen sowie basophiler und eosinophiler Granulocyten oder zu veränderten Reaktionen von Epithel- und Bindegewebszellen. Darüber hinaus nehmen sie Einfluss auf die Homöostase aller anderen Cytokine indem sie ihre eigene Produktion fördern und die Produktion gegenläufiger Cytokine hemmen. Bei normalen Infektionen ist es nun genau diese Homöostase, die zum Abklingen von Immunreaktionen führt, oder die Aktivierung von Immunzellen durch ungefährliche Fremdkörper wie z.B. Gräserpollen verhindert. In allergisch reagierenden Individuen ist diese Regulation offensichtlich gestört.

Es ist nach wie vor weitgehend unbekannt, was ein Allergen von Elementen der gleichen Stoffklasse unterscheidet. Viele Allergien wie z.B. die Nickel- oder die Penicillin-Allergien sind auf direkte Veränderungen von Proteinen zurückzuführen. Ähnliche modifizierende Mechanismen sind für eine ganze Reihe von Stoffen in unserer Umwelt denkbar. In den letzten Jahren steigt nicht nur die Häufigkeit allergischer Erkrankungen insgesamt, sondern auch die Anzahl von Patienten mit so genannten multiplen Allergien. Diese multiplen Allergien sind zum einen auf ein bereits allergisch geprägtes Immunsystem zurückzuführen, zum anderen spielt jedoch auch die Kreuzreaktivität bereits vorhandener IgE-Antikörper eine Rolle. So reagieren IgE-Antikörper, die ursprünglich gegen definierte Latex-Allergene gebildet wurden, auch mit Proteinen aus verschiedenen Früchten. Somit werden diese Proteine ebenfalls zu potentiellen Allergenen und können unter Umständen zur Entwicklung weiterer Allergien beitragen.

Umweltfaktoren und Allergien

Eine Vielzahl epidemiologischer Studien bemüht sich seit Jahren auf verschiedenen Ebenen, Korrelationen zwischen bestimmten Umweltfaktoren und dem Auftreten von Allergien zu finden. Von besonderem Interesse sind dabei vor allem Faktoren, die auf wachsende Schadstoffbelastungen der Umwelt zurückzuführen sind. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung wurden z.B. in verschiedenen Studien Kinder und Erwachsene aus west- und ostdeutschen Großstädten auf die Häufigkeit allergischer Erkrankungen hin untersucht. In Ostdeutschland wurde dabei aufgrund stärkerer Umweltbelastungen (vor allem durch Hausbrand) eine erhöhte Allergierate erwartet. Die Ergebnisse belegten jedoch das genaue Gegenteil: Sowohl die Anzahl als auch die Vielfalt der allergischen Erkrankungen in Westdeutschland waren signifikant höher als in Ostdeutschland. Seit der Wiedervereinigung hat dagegen die Häufigkeit von Asthma im Kindesalter in den neuen Bundesländern stetig zugenommen. Ähnliche Studien aus anderen Ländern bestätigten eine Korrelation zwischen „westlichem“ Lebensstil und dem vermehrten Auftreten von Allergien.

Solche Studien konnten bisher nur wenige Hinweise auf Allergie-auslösende Faktoren liefern, sie zeigten jedoch Faktoren auf, die möglicherweise einen Schutz vor Allergien vermitteln. So wurde bestätigt, dass eine gesunde, möglichst naturbelassene Ernährung die ordnungsgemäße Funktion des Immunsystems unterstützt. Darüber hinaus zeichnet sich ab, dass Infektionen in den ersten Lebensjahren dem Auftreten von Allergien entgegenwirken. Umweltfaktoren, die solche Infektionen fördern, wie z.B. das Aufwachsen unter unterdurchschnittlichen hygienischen Bedingungen sowie mit mehreren Geschwistern, oder auch der Kontakt mit Natur und Tieren, sind mit dem Auftreten von Allergien negativ korreliert, d.h. unter solchen Bedingungen treten weniger Allergien auf. Zwei Mechanismen sind möglicherweise für den schützenden Effekt früher Infektionen verantwortlich: Virale Infektionen wie Masern oder bakterielle Infektionen wie Tuberkulose werden vom Immunsystem durch eine Reaktion beseitigt, die wesentlich von T-Helferzellen der Klasse 1 getragen wird. Die Cytokine, die von diesen Zellen produziert werden, wirken jedoch denen der T-Helferzellen der Klasse 2 entgegen und treiben so das gesamte Immunsystem in eine anti-allergische Prägung. Auch Infektionen mit Parasiten und Würmern scheinen vor dem Auftreten von Allergien zu schützen. Dies lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass das Immunsystem hierbei gegen „echte“ Antigene geprägt wird und nicht gegen an sich harmlose Allergene. Die Entwicklung wirksamer Kontrollmechanismen am Ende der Infektionen spielt dabei ebenfalls eine mögliche Rolle.

Ursachen für die Zunahme von Allergien

Auf den ersten Blick könnten genetische Veränderungen für die Zunahme der Allergiehäufigkeit verantwortlich sein. Der rasante Anstieg der Zahl der Erkrankungen, sowie die räumlichen Unterschiede der Allergie-Häufigkeiten (bei gleichem ethnischem Hintergrund) lassen sich jedoch durch genetische Faktoren allein nicht erklären. Studien mit Familien allergischer Individuen belegen darüber hinaus eine nur geringe genetische Kopplung von Allergien. Die Komplexität der physiologischen Regelkreise und die Vielzahl der beteiligten Genprodukte erlauben keinen eindeutigen Rückschluss auf ein oder mehrere Allergie-auslösende Gene. Dennoch geht man heute davon aus, dass eine Vielzahl möglicher Mutationen zu einer Deregulation des Immunsystems und damit zu einer genetischen Prädisposition für Allergien führen kann. Als die entscheidenden Auslöser für das Ausbrechen allergischer Symptome werden jedoch Risikofaktoren der Umwelt angesehen.

Die plausibelste Erklärung für die stark gestiegene Häufigkeit allergischer Erkrankung ist daher eine Zunahme Allergie-unterstützender Umweltfaktoren, bzw. eine Abnahme Allergie-vermindernder Faktoren. Zurzeit wird die oben beschriebene „infektiöse“ Theorie der Allergie-Entwicklung am meisten diskutiert. In der Tat sind durch den „westlichen“ Lebenstil die hygienischen und medizinischen Verhältnisse so verändert worden, dass viele der potentiell Allergie-schützenden Infektionen in der Kindheit verhindert werden. Vor allem Impfungen und Antibiotika haben dazu beigetragen. Das kindliche Immunsystem ist daher „untrainiert“ und neigt möglicherweise verstärkt zu allergischen Reaktionen. Die Prägung des Immunsystems in früher und frühester Kindheit scheint in der Tat einen größeren Einfluss auf die Allergie-Wahrscheinlichkeit zu haben als etwa der Allergen-Kontakt in späteren Jahren. Bereits in der Schwangerschaft kann das Immunsystem des Fetus durch eine Allergie oder Infektion der Mutter pro-allergisch geprägt werden.

Eine zweite Möglichkeit ist eine direkte allergische Prägung des Immunsystems durch Umweltfaktoren. Die klassischen Elemente der „Umweltverschmutzung“, vor allem die Schadstoffbelastung von Luft, Wasser und Boden, scheinen jedoch direkt keinen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung von Allergien zu leisten. Anders verhält es sich möglicherweise mit der veränderten Kontakthäufigkeit zu potenziellen Allergenen. Das Beispiel der Latex-Allergien zeigt, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Kontakthäufigkeit mit dem Allergen (z.B. in chirurgischen Handschuhen) und der Entwicklung allergischer Symptome bestehen kann. Der verstärkte Kontakt mit Fremdstoffen (synthetischer und natürlicher Art) von potenziell immunmodulierendem Charakter ist somit zumindest theoretisch ein denkbarer Auslöser verstärkter Allergien.

Die dargestellten Forschungs- und Studienergebnisse zeigen, dass die Entstehung und Ausprägung von Allergien auf einem Zusammenwirken verschiedenster Faktoren beruht. Eine genetische Prädisposition ist dabei wohl unterstützend, jedoch nicht notwendig oder gar ausreichend. Eine einfache, allgemeingültige Prognose der Allergiewahrscheinlichkeit einzelner Personen oder ganzer Völker wird dadurch ebenso erschwert, wie die Entwicklung von effektiven Therapieformen. Es gilt daher weiterhin durch epidemiologische Studien potenzielle Risikofaktoren aus der Umwelt möglichst eng einzugrenzen und sie experimentell auf ihre physiologischen Mechanismen zu untersuchen. Dieser Ansatz sollte es erlauben individuelle Therapien zu erleichtern und langfristig mögliche Präventionsmaßnahmen zu entwickeln.

  • Die Autoren

Redaktion:
Dipl.-Biol. Elke Brechner (Projektleitung)
Dr. Barbara Dinkelaker
Dr. Daniel Dreesmann

Wissenschaftliche Fachberater:
Professor Dr. Helmut König, Institut für Mikrobiologie und Weinforschung, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Professor Dr. Siegbert Melzer, Institut für Pflanzenwissenschaften, ETH Zürich
Professor Dr. Walter Sudhaus, Institut für Zoologie, Freie Universität Berlin
Professor Dr. Wilfried Wichard, Institut für Biologie und ihre Didaktik, Universität zu Köln

Essayautoren:
Thomas Birus, Kulmbach (Der globale Mensch und seine Ernährung)
Dr. Daniel Dreesmann, Köln (Grün ist die Hoffnung - durch oder für Gentechpflanzen?)
Inke Drossé, Neubiberg (Tierquälerei in der Landwirtschaft)
Professor Manfred Dzieyk, Karlsruhe (Reproduktionsmedizin - Glück bringende Fortschritte oder unzulässige Eingriffe?)
Professor Dr. Gerhard Eisenbeis, Mainz (Lichtverschmutzung und ihre fatalen Folgen für Tiere)
Dr. Oliver Larbolette, Freiburg (Allergien auf dem Vormarsch)
Dr. Theres Lüthi, Zürich (Die Forschung an embryonalen Stammzellen)
Professor Dr. Wilfried Wichard, Köln (Bernsteinforschung)

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