Kompaktlexikon der Biologie: Bernsteinforschung
ESSAY
Prof. Dr. Wilfried Wichard, Universität Köln
Bernsteinforschung
Bernstein gehörte in der Antike zu den begehrten Handelsobjekten der Phönizier, Griechen und Römer. Von den Fundorten im Baltikum gelangte das „Gold des Nordens“ in die damaligen Zentren der Welt. Doch die Entstehung des Bernsteins blieb lange im Unklaren. Mythen rankten um die Entstehungsgeschichte, von denen der griechische Dramatiker Euripides (480-407 v.Chr.) und der römische Lyriker Ovid (43 v. Chr. bis 17 n.Chr.) in seinen „Metamorphosen“ erzählen: Als die Schwestern des Phaethon, dem Sohn des Sonnengottes Helios, seinen Tod beweinten, wurden sie zu Pappeln und ihre Tränen in Bernsteine verwandelt.
Bereits in seinem enzyklopädischen Werk „Naturalis Historia“, das um 77 n.Chr. erschien, tritt der römische Gelehrte Plinius der Ältere (23-79 n.Chr.) entschieden den mythischen Auffassungen von der Entstehung und Herkunft des Bernsteins entgegen. Der Bernstein bilde sich aus dem herabfließenden Mark von Bäumen einer Gattung von Fichten, wie das Gummi aus den Kirschbäumen. Zum Beweis seiner Herkunft aus Fichten diene der typische Geruch, der beim Reiben entstehe. Wenige Jahre später bestätigt der römische Geschichtsschreiber Tacitus (55-116 n.Chr.) in seiner Schrift „De origine et situ Germanorum“, dass es sich um Baumharz (succinum) handle, weil allerlei auf der Erde kriechende und selbst herumfliegende kleine Tiere hindurchschimmern, welche von der Flüssigkeit umhüllt und in der bald fest werdenden Materie eingeschlossen wurden.
Zur Kennzeichnung des Bernsteins
Das Rätsel war gelöst, doch erst im 19.Jh. setzte die wissenschaftliche Bearbeitung des Baltischen Bernsteins und seiner Einschlüsse ein. Alter, Herkunft und Beschaffenheit des Bernsteins wurden erforscht. Den im Bernstein eingeschlossenen Pflanzen und Tieren wurde besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Es entstanden Monographien über „die im Bernstein befindlichen organischen Reste der Vorzeit“ und somit über die Fauna und Flora des eozänen Bernsteinwaldes. Diese taxonomisch-systematischen Arbeiten scheinen unerschöpflich zu sein und dauern bis in die heutige Zeit. Nahezu 98 % der im Bernstein eingebetteten Organismen sind Gliedertiere, vor allem Spinnen und Insekten, die eine große verwandtschaftliche Nähe zu den rezenten Arten aufweisen. Etwa die Hälfte aller Gattungen der im Baltischen Bernstein beschriebenen fossilen Arten kommen auch heute, nach 40-50 Mio. Jahren noch vor. Bei aller Vorsicht erlaubt deshalb ein aktualistischer Vergleich der rezenten mit den verwandten fossilen Formen die Rekonstruktion ihrer längst vergangenen Lebensformen und Biozönosen.
Die moderne Bernsteinforschung ist in ihren Fragestellungen und mit ihren Methoden komplexer und vielfältiger geworden. Sie befasst sich nicht nur mit dem berühmten Baltischen Bernstein, sondern berücksichtigt alle Bernstein-Lagerstätten, die mit Ausnahme der Pole auf allen Kontinenten vorkommen. Das Alter dieser Bernsteine reicht bis ins Karbon zurück, stammt aber überwiegend aus der Kreide und dem Tertiär. Massenspektrometrie und Infrarotspektroskopie sind bislang wichtige Methoden zur chemisch-physikalischen Identifizierung verschiedener Bernsteinvorkommen. Im IR-Absorptionsspektrum der im Bernstein enthaltenen organischen Verbindungen kennzeichnen typische Bande signifikant die Herkunft von Bernsteinarten (z.B. sind die Bande der „Baltischen Schulter“ charakteristisch für den Baltischen Bernstein), aber nur unzureichend die botanische Herkunft des Harzproduzenten. Der Nachweis von Harz produzierenden Geweben in Holzresten von Kiefern im Baltischen Bernstein stützt jedoch die allgemeine Vermutung, dass eine Kiefern-Art, Pinus succinifera, das Harz für den Bernstein lieferte, obwohl Kiefernnadeln und Zapfen im Baltischen Bernstein relativ selten vorkommen. Neben Koniferen (Pinien, Araukarien) als Harzproduzenten werden für den Dominikanischen Bernstein Blütenpflanzen aus der Familie der Leguminosae angenommen. Sie liefern auch das Harz für afrikanische Kopale.
Das Artenspektrum des Bernsteins
Die Paläobiologie befasst sich mit den organischen Einschlüssen (Inklusen) im Bernstein. Wie Pflanzen und Tiere in den Bernstein gelangten, lässt sich heute nachvollziehen. Werden Tannen, Fichten und Kiefern an ihren Stämmen oder an ihren Ästen verletzt, geben sie Harz ab, um die verwundeten Stellen abzudichten. Intensiver als heute floss damals das überschüssige Harz den Stamm hinunter und bedeckte die am Stamm lebende Rinden-Fauna, zu der Rindenwanzen, Borkenkäfer und Rindenläuse sowie Spinnen, Asseln und Schnecken gehören. Geflügelte Insekten wurden vom Duft und Glanz des Harzes angelockt, während Vogelfedern, aber auch Blüten und Blätter, mit dem Wind an das klebrige Harz gelangten. Von den weit ausladenden Ästen tropfte das Harz ringsum auf den Boden und überraschte auch die Bodenfauna und -flora. Synchron mit der Fossilisation der zunächst dünnflüssigen Harze zu weichen Kopalen und schließlich zu gehärteten Bernsteinen wurden auch ihre Inklusen allmählich fossilisiert.
Das Besondere der Fossilien im Bernstein ist ihr außergewöhnlicher Erhaltungszustand. Im Vergleich zu vielen anderen Fossilien, die im Sediment platt gedrückt und versteinert wurden oder als Abdrücke vorliegen, kann man die im Bernstein eingebetteten Lebewesen ebenso gut wie ihre rezenten Formen dreidimensional von allen Seiten betrachten. Die Vielzahl von brauchbaren morphologischen Merkmalen machen Bernstein-Fossilien zu wichtigen Studienobjekten der phylogenetischen Systematik. Ihr hoher Informationswert basiert auf der präzisen und detailreichen Erhaltung der Merkmale, die einer sorgfältigen Vergleichsanalyse mit den Merkmalen rezenter Taxa standhalten. Fossilien belegen das Alter der Arten und ihrer Merkmale und begründen die zeitliche Abfolge von Transformationsreihen homologer Merkmale, die möglicherweise bei rezenten Formen divergierend strukturiert (apomorph) sind. Während die höheren Taxa (Klassen, Ordnungen) der Arthropoda bereits seit dem Paläozoikum und die nachgeordneten höheren Taxa spätestens seit dem Mesozoikum bekannt sind, tragen die Bernsteinfossilien aus der Kreide und dem Tertiär zur zeitlichen Determinierung der Phylogenese innerhalb von Familien (Unterfamilien, Gattungen) bei. Diese Methodik der phylogenetischen Analyse hat ihre Bedeutung in der Bernsteinforschung zurückgewonnen, nachdem zeitweilig versucht wurde, mit molekularbiologischen Methoden Abschnitte auf dem DNA-Strang aus Weichteilen der Bernstein-Inklusen durch Polymerase-Kettenreaktionen (PCR) anzureichern und anschließend zu sequenzieren, um über das Erbgut Informationen über die fossile Fauna zu erhalten. Doch heute weiß man, dass die vermeintliche DNA der untersuchten Rüsselkäfer und Termiten artifiziell war und dass auch im Schutz von Bernsteinen DNA keine Jahrmillionen überdauern kann.
Über Taphozönosen im Bernstein
Paläobiologische Bernsteinforschung erschöpft sich nicht allein in der Beschreibung fossiler Taxa und der Analyse ihrer phylogenetischen Systematik, sondern konzentriert sich auch auf die Taphozönosen (Grabgemeinschaften) im Bernstein. Viele Inklusensteine sind klein und enthalten oft nur einen einzigen Einschluss. Bernsteine mit Syninklusen sind oft größere Stücke, in denen sich mehrere fossile Organismen zu einer Grabgemeinschaft zusammenfinden. Diese Taphozönosen sind meist heterogen, weil viele Syninklusen zwar zur selben Zeit und am selben Ort in den Bernstein gelangten, aber oft von verschiedenen Lebensräumen stammen. Heterogene Taphozönosen behindern daher klare Rückschlüsse auf ehemalige Biozönosen. Darüber hinaus sind die Bernstein-Taphozönosen stets auch allotop, denn sie befinden sich nicht am Ort ihres Entstehens, sondern nach Transport und Umlagerung der Bernsteine oft auf zweiter, dritter oder gar vierter Lagerstätte (z.B. Baltischer Bernstein). Zweifellos erschweren die heterogenen, allotopen Taphozönosen im Bernstein die Rekonstruktion ehemaliger Biozönosen. Mit den Methoden der aktualistischen Biozönoseforschung lassen sich daher nur Lebensgemeinschaften hoch signifikanter Lebensräume rekonstruieren.
Der methodische Ansatz zielt beispielsweise auf aquatische Biozönosen, deren Lebensräume klar definiert sind. Je größer die Zahlen verschiedener Wasserinsekten in den Taphozönosen des Baltischen Bernsteins sind, desto klarer zeichnen sich Bilder ihrer ehemaligen Biozönosen und Biotope ab. Organismen, die nicht dem aquatischen Lebensraum zuzuordnen sind, geben in den heterogenen Taphozönosen additiv Auskunft über das ökologische und klimatische Umfeld der ehemaligen aquatischen Ökosysteme. Wie in einem großen „paläontologischen Puzzle“ scheint sich nach den Taphozönosen des Baltischen Bernsteins immer stärker das Bild eines subtropischen Bergwaldes abzuzeichnen, der in den Höhenlagen von Bergbächen und in den Niederungen von langsamen Fließgewässern durchzogen war und zahlreiche stehende Gewässer aufwies.
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