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Kompaktlexikon der Biologie: Der globale Mensch und seine Ernährung

ESSAY

Thomas Birus, Dipl.-Ing. Lebensmitteltechnologie

Der globale Mensch und seine Ernährung

Bei der Erschaffung der Erde wurde nicht an den modernen Industriemenschen gedacht. "Was werden wir essen, was werden wir trinken?". Diese bange Frage stellte sich bereits Matthäus (Matth. 6,31), ohne freilich nur im Entferntesten zu ahnen, welche Bedeutung sie im ausgehenden 20. Jahrhundert und für die nahe Zukunft annehmen würde.

Der Wohlstand in den entwickelten Ländern hat im Vergleich zu minder begüterten Regionen oder kargeren Zeiten eine deutlich geänderte Sichtweise der Ernährung zur Folge: Man isst nicht mehr notwendigerweise, um zu leben, sondern man kann es sich erlauben, zu leben, um zu essen. Die Ansprüche der heutigen Konsumenten sind hoch: Appetitlich aussehen und lecker schmecken muss es, aber die Zubereitung darf kaum Zeit in Anspruch nehmen. Nach Möglichkeit soll das Ganze außerdem den Geldbeutel nicht strapazieren. Und gesund sollte es natürlich auch sein.

Diesen Ansprüchen gerecht zu werden, ist eine Aufgabe der modernen Ernährungswissenschaft und der Lebensmitteltechnologie. Eine andere, aus der Sicht der Hersteller wichtige Aufgabe besteht darin, diese Ziele auf möglichst kostensparende Weise zu erreichen und die Ware trotzdem in gleichbleibend hoher Qualität konsumgerecht anbieten zu können.

Welche Ausgangsstoffe und Verfahren zur Produktion eines Lebensmittels vorgeschrieben bzw. zulässig sind, wird weltweit von der Codex-Alimentarius-Kommission, einem gemeinsamen Ausschuss der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO), und für Europa von der Lebensmittelkommission der Europäischen Gemeinschaft festgelegt. Das deutsche Lebensmittelrecht wird durch das Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz von 1975 sowie zahlreiche Nebengesetze, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen geregelt. Dort ist u.a. detailliert festgelegt, wie ein Lebensmittel beschaffen sein muss und wie es zu kennzeichnen ist. Besonderes Gewicht wurde dabei auf den Verbraucherschutz gelegt: Der Konsument soll vor Gesundheitsschädigung sowie vor Täuschung und Irreführung geschützt werden. Anspruch und Wirklichkeit klaffen dabei allerdings bisweilen auseinander, da die Legislative der Realität hinsichtlich neu entwickelter Ingredienzien hinterherhinkt.

Magerkost in aller Munde

Die Wirtschaftswunderjahre hatten in Deutschland Übergewicht großer Teile der Bevölkerung zur Folge. Daher bestand seit den 1960er-Jahren ein Trend zu gesunder, insbesondere kalorienarmer Ernährung. Stets auf der Suche nach neuen, vermarktbaren Produkten entwickelten die Nahrungsmittelexperten für die in Verruf geratenen Energieträger Kohlenhydrate und Fett Ersatzstoffe, die in unzähligen diätetischen Nahrungsmitteln und Light-Produkten, auch Low-Calorie-Food genannt, Verwendung finden. Um dem zuckerverwöhnten Konsumenten kalorienreduzierten Genuss zu bieten, werden vielen Getränken und Süßspeisen anstelle von Zucker künstliche Süßstoffe wie Aspartam, Cyclamat, Saccharin und Acesulfam-Kalium zugesetzt. In jüngerer Zeit gesellten sich zum Reigen der Kaloriensparer noch der Fettersatzstoff Z-Trim, der aus den Hülsen von Reis, Getreide und Hülsenfrüchten fabriziert wird, sowie das synthetische, unverdauliche Ölersatzprodukt Olestra hinzu.

Diese ›Light-Welle‹ ist aber inzwischen schon wieder abgeebbt, denn es hat sich herumgesprochen, dass die Austauschstoffe zum Teil synthetisch hergestellt werden und die Chemie ›out‹ ist. Zudem hat sich herausgestellt, dass sich mit Light-Produkten keine dauerhafte Gewichtsreduktion erzielen lässt, was aber dem Diät-Wahn keinen Abbruch getan hat.

Designer Lebensmittel

Die ersten Design-Foods waren Imitate, aus der Not geboren und vergleichsweise schlicht. Malzkaffee mit Zichorienextrakt, heute ein Reformprodukt, diente im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit als Ersatz für unerschwinglich teuren Kaffee. Erbswurst aus Speck, Zwiebeln, Gewürzen, Salz und Erbsenmehl war ein Ausgangmaterial für Suppe. Einem Preisausschreiben Napoleons III. verdanken wir den Butterersatz Margarine. Ein Beispiel für modernes Design-Food ist ein Fleischersatz aus England namens Quorn, der aus fermentativ gewonnenem Mykoprotein (Pilzeiweiß), pflanzlicher Würze, Geschmacksverstärkern und Aromen hergestellt wird. Aus den USA stammen preisgünstige Nachahmungen teurer Meeresfrüchte. Sie tragen die Bezeichnung Surimi oder Kamaboko, ursprünglich die Namen traditioneller japanischer Fischspeisen.

Heute wünschen Verbraucher – wie seit jeher – frische, gesunde und bekömmliche Lebensmittel voller Aroma. Außen knusprig, innen saftig sollen sie sein, dazu schnell zubereitet, möglichst geeignet für die Mikrowelle, außerdem noch ballaststoffreich, kalorienarm und vor Nährstoffen nur so strotzend. Und das alles zu Preisen, die real unter denen der 1960er-Jahre liegen. Entsprechend den unrealistischen Verbraucherwünschen bemüht sich der Handel nach Kräften, die Waren preiswert zu beschaffen und anzubieten. Dafür feilscht er mit seinen Lieferanten – notfalls um Zehntel Pfennig. Wer nicht scharf kalkuliert und auf alle Forderungen der Abnehmerseite eingeht, riskiert, vom Markt zu verschwinden. Die Übermacht der Krämer, seltsamerweise von keinem Kartellverfahren behelligt, treibt die Nahrungsmittelhersteller zu äußerster Rationalisierung.

Vom Sinn der "Mittel zum Leben" hingegen, vom gemeinsamen Essen als sozialem Treffpunkt, vom Genießen spricht kaum mehr jemand. Zeitdruck und Lohnkosten, Arbeitsplatzangst und Freizeitstress prägen die Menschen und bedingen den Aufschwung von Imbissbuden und Fast-Food-Ketten.

Natürlich: Die Zeiten, in denen Nahrungsmittel zur Verbreitung von Massenerkrankungen und Seuchen beitrugen, sind vorbei. Die Qualität unserer Nahrungsmittel ist – bei allen betrüblichen Ausnahmen – in der Regel gut! Es liegt beim Verbraucher, mit nur ein paar Groschen mehr zu gewährleisten, dass ihm Spitzenqualität geboten wird. Wer dagegen auf der Jagd nach Billig-Food ist und damit die Rationalisierungsspirale in der Industrie und der landwirtschaftlichen Erzeugung in Gang hält, darf sich nicht beklagen, wenn er dann für weniger Geld auch weniger Qualität bekommt.

Gentechnik und Ernährung

Ein besonders heikles Thema in diesem Zusammenhang ist die Gentechnologie. Auf der einen Seite ist es verständlich, dass Wissenschaftler, vom Forscherdrang getrieben, weiter bei der Entschlüsselung des Lebensprogramms voranschreiten wollen. Zu geheimnisvoll ist die Materie, zu groß sind die noch erzielbaren Erkenntnisse und wohl auch der damit verbundene, nicht nur finanzielle Erfolg. Ebenfalls nachvollziehbar ist der Drang der Nahrungsmittelkonzerne nach einfacheren Verfahren und billigeren Rohstoffen. Den Handel dürften die höheren Gewinnmargen und länger lagerbare Produkte interessieren; denn wirtschaftliche Zwänge im Zeichen der Globalisierung gehen auch an der Lebensmittelbranche nicht vorbei. Begreiflich sind aber auch die Sorgen des Verbrauchers: Das Gefühl, mit einer Veränderung der Nahrung konfrontiert zu sein, die nicht fassbar und für den Einzelnen praktisch unkontrollierbar ist und von der noch keineswegs sicher ist, dass alle Auswirkungen absehbar und beherrschbar sind.

Gentechnik ist in der Nahrungsmittelbranche bereits Realität. Wer sich noch in Grundsatzdiskussionen über das "Ob" verstricken wollte, wäre mindestens 15 Jahre zu spät dran und ginge an den Tatsachen schlichtweg vorbei. Nur konsequente Information in der Politik, bei Unternehmen und im Handel wird die Verbraucher langfristig beruhigen. Es helfen wohl nur Denken statt Dogma, Einzelfallentscheidungen statt pauschaler Verurteilungen. Denn: Die Risiken sind oft nicht größer als bei konventionell erzeugter Ware.

Moderne Lebensmittel im Brennpunkt

Die Verwirrung über die in den Medien herumgeisternden Begriffe aus dem Reich der neuen Lebensmittel wird mit der steigenden Zahl neuer Wortschöpfungen immer größer. Diese reicht vom einfach und schnell zuzubereitenden Convenience Food über das einem Baukastensystem vergleichbare Design Food, bei dem die Zutaten zu neuen Nahrungsmitteln zusammengefügt werden, bis zu Gerichten aus anderen Ländern, die unter dem Begriff Ethnic Food zusammengefasst werden. Novel Food, das sind „neuartige Lebensmittel“, unterscheiden sich in ihrer Zusammensetzung und/oder Herstellung gänzlich von allem Hergebrachten, auch wenn man es ihnen äußerlich selten anmerkt. Beim besonders umstrittenen Genfood etwa sind durch gentechnische Verfahren Tiere, Mikroorganismen und Pflanzen meist gleichen Aussehens, aber mit veränderter Erbsubstanz und neuen Eigenschaften (wie z.B. Lagerfähigkeit, Pestizidresistenz etc.) entstanden – ein bekanntes Beispiel ist die Anti-Matsch-Tomate.

Foodiceuticals, d.h. Lebensmittel, die mit Ballaststoffen, Vitaminen und Spurenelementen angereichert wurden, sollen eine gesundheitsfördernde Wirkung entfalten – wie z.B. Omega-3-Fettsäuren, die angeblich vorbeugend gegen Herzinfarkt sind. Ähnlich verhält es sich mit dem so genannten Functional Food, also Lebensmitteln mit speziellen Wirkungen auf den menschlichen Stoffwechsel. Unter diese Rubrik fallen zum Beispiel Probiotika wie Joghurt mit speziellen Bakterien, welche die Verdauung positiv beeinflussen und das Immunsystem stimulieren sollen.

Voll im Trend liegen gleichzeitig Bio- und Ökoprodukte, Obst, Gemüse und Fleisch aus ›garantiert‹ ökologisch-biologischem Anbau und Reformartikel, die aus derlei Rohstoffen nach den Angaben der Hersteller ohne Zuhilfenahme von Chemie hergestellt werden. Ein Rest von Zweifel bleibt dabei jedoch, denn eine zuverlässige Kontrolle der proklamierten natürlichen Anbau- und Verarbeitungsweisen ist schwierig zu bewerkstelligen.

Alle die genannten industriellen Prozesse sind ohne Automatisierung nicht denkbar. Die moderne Mess-, Regel- und Steuerungstechnik ermöglicht erst die Verarbeitung der enorm großen Mengen. Und die Entwicklung schreitet voran: Biosensoren beispielsweise werden die traditionelle Messtechnik in vielen Bereichen revolutionieren. Die sterile Abfüll- und Verpackungstechnik ist ein weiterer intelligenter ingenieurwissenschaftlicher Bereich, der sowohl Marketingaspekte als auch Verbraucherwünsche gleichermaßen bedienen muss. Und eine rationelle Logistik sorgt dafür, dass die fertige Packung am Ende zum Verbraucher gelangt. Das fängt bei der vollautomatischen Lagerhaltung an und geht über Verteilzentren bis hin zum Supermarkt. Selbst dort wird getüftelt, wie Waren dem potenziellen Käufer noch einfacher und schneller präsentiert werden können.

Rosige Zeiten?

Bleibt der Blick in die Zukunft. Die größte Herausforderung ist in der Tat die Ernährung der rapide wachsenden Weltbevölkerung. Zudem stellt auch die Gewährleistung der Essensqualität hohe Ansprüche an Politik, Wissenschaft und Industrie gleichermaßen. Wir dürfen getrost annehmen, dass beide Herausforderungen gemeistert werden. Wie allerdings der gedeckte Tisch im Einzelnen aussieht, darüber sind sich Fachleute uneinig; dass er für manche dürftig oder gar leer bleibt, ist beschämend. Die Wohlstandsgesellschaft bleibt davon zunächst unberührt. Merken wird sie den nahenden Mangel zuerst am Trinkwasser, das im Moment zu etwa einem Viertel in der Kloschüssel landet. In nicht allzu ferner Zukunft dürfte jedoch der Preis drastisch steigen, was zu sinnvollerem Umgang mit dem kostbaren Nass anregt. Ob jedoch die Qualität des wertvollsten Lebensmittels mit dem Preis Schritt halten wird, bleibt abzuwarten. Schon in der Bibel, und damit schließt sich der Kreis, galt Wasser als Zeichen des Lebens. Das sollten wir alle nicht vergessen.

  • Die Autoren

Redaktion:
Dipl.-Biol. Elke Brechner (Projektleitung)
Dr. Barbara Dinkelaker
Dr. Daniel Dreesmann

Wissenschaftliche Fachberater:
Professor Dr. Helmut König, Institut für Mikrobiologie und Weinforschung, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Professor Dr. Siegbert Melzer, Institut für Pflanzenwissenschaften, ETH Zürich
Professor Dr. Walter Sudhaus, Institut für Zoologie, Freie Universität Berlin
Professor Dr. Wilfried Wichard, Institut für Biologie und ihre Didaktik, Universität zu Köln

Essayautoren:
Thomas Birus, Kulmbach (Der globale Mensch und seine Ernährung)
Dr. Daniel Dreesmann, Köln (Grün ist die Hoffnung - durch oder für Gentechpflanzen?)
Inke Drossé, Neubiberg (Tierquälerei in der Landwirtschaft)
Professor Manfred Dzieyk, Karlsruhe (Reproduktionsmedizin - Glück bringende Fortschritte oder unzulässige Eingriffe?)
Professor Dr. Gerhard Eisenbeis, Mainz (Lichtverschmutzung und ihre fatalen Folgen für Tiere)
Dr. Oliver Larbolette, Freiburg (Allergien auf dem Vormarsch)
Dr. Theres Lüthi, Zürich (Die Forschung an embryonalen Stammzellen)
Professor Dr. Wilfried Wichard, Köln (Bernsteinforschung)

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