Kompaktlexikon der Biologie: Sehen
Sehen, die Wahrnehmung von über optische Reize vermittelten Informationen über Form, Farbe, Beschaffenheit und Bewegung der Umwelt, einschließlich der in einem visuellen System stattfindenden zentralen Verarbeitung dieser Reize und der daraus folgenden Bedeutung für das Handeln. Hierzu müssen optische Signale wie Wellenlänge und Intensität des Lichts als adäquatem Reiz als Helligkeit bzw. Farbe Objekten zugeordnet werden können, und außerdem muss die Möglichkeit bestehen, eine Abbildung von Objekten zu erzeugen. Diese Leistungen erbringen bei vielen Tieren und beim Menschen die Augen, insbesondere die Linsenaugen (Auge).
Das Auge erzeugt mittels seines dioptrischen Apparats, der aus Hornhaut (Cornea), Kammerwasser, Linse und Glaskörper besteht und ein zusammengesetztes Linsensystem ist, bei dem mehrere Licht brechende Medien hintereinander geschaltet sind, ein verkleinertes und umgekehrtes reelles Bild eines betrachteten Gegenstands. Der Gegenstand muss sich, um scharf abgebildet zu werden, im Gesichtsfeld des Auges zwischen Nahpunkt und Fernpunkt befinden. Mithilfe der Mechanismen der Hell-Dunkel-Adaptation und des Pupillenreflexes sowie durch Akkommodation und mit Hilfe von Augenbewegungen (Nystagmus, Sakkaden) und auch Kopf- und Körperbewegungen kann das Auge sich auf Helligkeit und Entfernung des Gegenstands einstellen.
Die Netzhaut des Auges bildet das Licht absorbierende System. Von außen nach innen wird sie gebildet vom Pigmentepithel, der Schicht der Fotosensoren (Zapfen und Stäbchen), den Horizontalzellen, Bipolarzellen und amakrinen Zellen sowie den Ganglienzellen, deren Axone die Sehbahn bilden. Die Zapfen sind über die Bipolarzellen direkt mit den Ganglienzellen verbunden, während die Stäbchen über Bipolarzellen und amakrine Zellen mit den Ganglienzellen verschaltet sind. Stäbchen und Zapfen enthalten den aus Retinal und Opsin bestehenden Sehfarbstoff Rhodopsin, der bei allen sehenden Tieren mit geringen Varianten der molekulare Komplex ist, der das Licht absorbiert und die Kaskade der Folgeprozesse auslöst. Größere Unterschiede gibt es bei verschiedenen Tierarten nur hinsichtlich der Membranbereiche, in denen Rhodopsin eingelagert ist. Bei den Wirbeltieren ist der Sehfarbstoff in den Stäbchen und Zapfen in Membranen eingelagert, die täglich neu gebildet, ins Zellinnere eingestülpt und in Form von Scheiben (Disks) übereinander gestapelt werden. Im Auge der Säugetiere enthalten die Stäbchen besonders viele Disks (etwa 1000 bis 2000 pro Stäbchen) und jeder Disk enthält rund eine Mio. Rhodopsinkomplexe. In den Disks liegt das Retinal vor dem Einfangen eines Lichtquants in einer gewinkelten Form, der 11-cis-Konfiguration, vor. Nachdem es ein Lichtquant eingefangen hat, wandelt es sich in die gestreckte all-trans-Form um und ändert dadurch seine Absorptionseigenschaften, sodass es nur noch im UV-Bereich absorbiert und das vorher rötlichblaue Rhodopsin nun farblos erscheint ( vgl. Abb. ). Während bei Insekten das Retinal durch ein zweites Lichtquant wieder in die gewinkelte Form zurückspringt, wird beim Wirbeltier das Retinal enzymatisch in die gewinkelte Form umgewandelt und muss dafür vorübergehend vom Opsin abgekoppelt werden Dieser Vorgang, der ATP verbraucht, kann Minuten bis Stunden dauern und spielt, über die Menge des jeweils aktivierbaren Rhodopsins, eine Rolle bei der Hell-Dunkel-Adaptation.
Die Fotosensoren haben im Dunkeln durch einen ständigen, im Vergleich zu anderen Zellen erhöhten Na+-Ca2+-Einstrom ein vergleichsweise etwas niedrigeres Ruhemembranpotenzial von – 30 mV. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Natrium-Kanäle der äußeren Stäbchenmembran durch je drei Moleküle cGMP (Guanosinphosphate) etwas offen gehalten werden und daher dauernd Na+-Ionen in die Zelle eindringen können; gleichzeitig strömt eine entsprechende Menge K+-Ionen aus der Zelle heraus und ist als Dunkelstrom messbar. Die Konformationsänderung des Rhodopsins nach Einfangen eines Lichtquants führt zur Verminderung der Durchlässigkeit der äußeren Stäbchenmembran für Na+- und Ca2+-Ionen und somit zu einer Hyperpolarisation der Stäbchenmembran auf bis zu – 70 mV. Ein durch Licht aktivierter Rhodopsin-Komplex aktiviert nun rund 500 G-Proteine (hier Transducine genannt), die mit je 500 Phosphodiesterasen (PDE) gekoppelt sind. Diese hydrolyisieren cGMP, das als second messenger dient, zum 5'-GMP und zwar hydrolysiert jedes PDE-Molekül rund 2000 cGMP-Moleküle, sodass durch den beschriebenen Prozess der Signaltransduktion ein Verstärkungseffekt von 1:106 erreicht wird. Die abnehmende Konzentration von cGMP-Molekülen führt nun zur Schließung der Na+-Kanäle und als Folge zur bereits beschriebenen Hyperpolarisation. Diese führt auch zu einer verminderten Ausschüttung von Transmittersubstanzen an den Synapsen der Fotosensoren ( vgl. Abb. ). Hierauf reagieren wiederum die nachgeordneten Neuronen, die Bipolarzellen.
Die Netzhaut setzt sich aus rezeptiven Feldern (RF) zusammen. Ein rezeptives Feld ist der Bereich des Gesichtsfelds, dessen Reizung zu einer Reaktion eines retinalen Neurons führt. Die rezeptiven Felder der Netzhaut sind meist konzentrisch organisiert, d.h. ein RF-Zentrum wird von einer RF-Peripherie ringförmig umgeben. Rezeptive Felder benachbarter Neuronen überlappen sich. In der Netzhaut findet nun ein Signalfluss statt, der entweder direkt sein kann (Fotosensoren – Bipolarzellen – Ganglienzellen) oder indirekt, dann als lateraler Signalfluss bezeichnet, (Fotosensoren – Horizontalzellen – amakrine Zellen – Bipolarzellen – Ganglienzellen); Horizontalzellen und amakrine Zellen haben dabei die Funktion von Interneuronen. Die rezeptiven Felder der verschiedenen Netzhaut-Neuronen sind in ihrem Antwortverhalten auf Belichtung und in ihrer Fähigkeit, die nachgeschalteten Neurone zu aktivieren oder zu hemmen, z.T. antagonistisch organisiert.
Belichtung löst bei den so genannten On-Bipolarzellen im RF-Zentrum eine Depolarisation, in der RF-Peripherie hingegen eine Hyperpolarisation aus. Off-Bipolarzellen verhalten sich genau spiegelbildlich. Die RF der Horizontalzellen werden, zumindest bei Wirbeltieren, grundsätzlich bei Belichtung hyperpolarisiert. Unter den amakrinen Zellen hemmen die On-Amakrinen nachgeschaltete On-Zentrum-Ganglienzellen und aktivieren Off-Zentrum-Ganglienzellen, Off-Amakrinen wirken wiederum genau spiegelbildlich. Unter den Ganglienzellen reagieren die On-Zentrum-Ganglienzellen auf Belichtung des RF-Zentrums mit Aktivierung und auf Verdunkelung mit Hemmung, bei Stimulation der RF-Peripherie ist die Reaktion spiegelbildlich: Hemmung bei Licht, Aktivierung im Dunkeln. Die RF-Zentren der Off-Zentrum-Ganglienzellen werden bei Licht gehemmt und im Dunkeln aktiviert, die RF-Peripherie reagiert wiederum spiegelbildlich. On-off-Ganglienzellen reagieren auf Hell-Dunkel-Kontraste, die durch ihr rezeptives Feld bewegt werden und sind daher besonders empfindlich für Bewegung.
Die Hyperpolarisation und dadurch verminderte Erregung der Zapfen wirkt nun direkt auf die Off-Zentrum-Bipolarzellen und über diese auf die Off-Zentrum-Ganglienzellen. Stäbchen werden durch Licht depolarisiert, erregen ihrerseits amakrine Zellen, die wiederum On-Bipolarzellen erregen und Off-Bipolarzellen hemmen und somit an den Ganglienzellen dieselben Lichtantworten wie die Zapfen auslösen. Beim Sehen mit den Zapfen (Tageslicht) wird das Stäbchensystem durch bestimmte, die Stäbchenamakrinen hemmende amakrine Zellen, gehemmt (laterale Hemmung), indem die Fortleitung der Stäbchenantwort unterbrochen wird. Ist die Empfindlichkeit der Zapfen durch Verminderung der Lichtstärke in der Dämmerung unterbrochen, fällt die Hemmung weg und das Stäbchensehen (Dämmerungssehen) kommt zum Tragen. On-Zentrum- und Off-Zentrumzellen bilden zwei getrennte Systeme für die Hell- und Dunkelwahrnehmung, dabei wird das On-System durch die subjektive Helligkeit im Gesichtsfeld aktiviert und das Off-System gehemmt. Die Organisation der rezeptiven Felder und der Mechanismus der lateralen Hemmung sind wichtige Grundlagen des Wahrnehmens von Simultankontrasten, d.h. von Hell-Dunkel- und Farbgrenzen sowie für das Erkennen einfacher Strukturen, ihrer Orientierung und Bewegung.
Die Nervenfasern der Netzhaut-Ganglienzellen ziehen zur Sehnervenkreuzung (Chiasma opticum) und von da im Wesentlichen zu einem Bereich im Thalamus, dem Corpus geniculatum laterale (CGL). Durch Kreuzung der Nervenfasern im Chiasma opticum ist die linke Gesichtsfeldhälfte in der rechten Hirnhemisphäre repräsentiert und die rechte Gesichtsfeldhälfte in der linken Hirnhemisphäre; nur der zentralste Bereich des Gesichtsfeldes ist in beiden Hemisphären vertreten. Im CGL erfolgt eine monosynaptische Verschaltung der Sehnervenfasern auf Schaltzellen, deren Axone direkt in die primäre Sehrinde ziehen. Dabei werden benachbarte Stellen auf der Netzhaut sowohl im CGL als auch in der Sehrinde benachbart abgebildet (retinotrope Abbildung). Weitere wichtige Ziele der Axone der retinalen Ganglienzellen sind die unmittelbar unter dem hinteren Ende des Thalamus gelegenen Colliculi superiores. Sie sind bei Fischen die wichtigste Endigung der Sehbahn und beim Menschen die Zentren für Augenbewegungen und für Bewegungen des Rumpfes bei plötzlichen Lichtsignalen. Verbindungen der Netzhaut zum Hypothalamus vermitteln die Signale zur Steuerung des Hormonsystems und dienen der Verbindung des endogenen circadianen Rhythmus (Biorhythmik, innere Uhr) und des Schlaf-Wach-Rhythmus mit dem Tageslichtwechsel; durch eine Verbindung zur Epiphyse beeinflusst die Netzhaut auch die Pigmentierung der Haut.
Literatur: Müller, W.A.: Tier- und Humanphysiologie, Heidelberg 1998. – Schmidt, R.F.: Neuro- und Sinnesphysiologie, Heidelberg 1998. – Schmidt, R.F. et. al (Hg.): Physiologie des Menschen, Heidelberg 2000.
Sehen: Schema der Signaltransduktion in einem Fotorezeptor (Zapfen oder Stäbchen) der Netzhaut eines Wirbeltiers (verändert nach W.A. Müller, Tier- und Humanphysiologie, 1998)
Sehen:a Bauweise eines Fotorezeptors (Stäbchen) mit Darstellung des Dunkelstroms. b, c Darstellung der wesentlichen Prozesse im Ruhezustand (b) und nach Auslösung der Signaltransduktionskette (c) bei Absorption eines Lichtquants. Am Fuß des Stäbchens sind das Membranpotenzial und die Freisetzung von Transmittersubstanzen gezeigt (verändert nach R.F. Schmidt, Neuro- und Sinnesphysiologie, 1998)
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