Lexikon der Biologie: Biologismus
ESSAY
Franz M. Wuketits
Biologismus
Die umwälzende Entwicklung der Naturwissenschaften in der Neuzeit hat es mit sich gebracht, daß Konzepte naturwissenschaftlicher Forschung häufig auch auf andere Bereiche des Denkens und Wissens übertragen werden. Von Biologismus spricht man, wenn Phänomene eine Deutung durch biologische Tatsachen, Theorien und Modelle erfahren. In der Biologie ermittelte Gesetzlichkeiten werden dabei als einheitliche Gesetze der realen Welt verallgemeinert und gleichsam zu durchgehenden "Weltprinzipien" erhoben.
Historisch hat der Biologismus seine Wurzeln in der frühen Neuzeit. Bestimmte Weltdeutungen in der Renaissance lassen sich bereits als Biologismus im weitesten Sinn auffassen. Insbesondere für Giordano Bruno ist das Universum in all seinen Sphären etwas Belebtes, ein großer Organismus, der sich in eine unendliche Mannigfaltigkeit von Einzeldingen entwickelt. Diese Vorstellung resultiert aus jener alten kosmischen Weltsicht, die zwischen belebter und unbelebter Materie noch keine Gegensätze kennt, in allen Bereichen der Wirklichkeit aber eine biozentrierte Betrachtungsweise zum Ausgangspunkt nimmt. Der Organismus repräsentiert gewissermaßen ein universelles Weltmodell.
Von Biologismus im engeren Sinne kann jedoch erst im 19. Jahrhundert die Rede sein. Maßgeblich für die Verbreitung biologistischer Ideen war eine Verallgemeinerung der Selektionstheorie (Darwinismus) von C.R. Darwin. Zwar hatte Darwin selbst das Prinzip der natürlichen Auslese (Selektion) strikt naturwissenschaftlich verstanden und die von dem Philosophen H. Spencer geprägte Formel vom "Überleben des Tüchtigsten" (survival of the fittest) ausdrücklich bloß als Metapher gebraucht, doch wurde seine Lehre bald als Weltanschauung vertreten (Darwinismus), die sich dann über Jahrzehnte vor allem als Deutung gesellschaftlicher und kultureller Zusammenhänge behaupten sollte. Der breitere Rahmen für den auf der Selektionstheorie beruhenden Biologismus ist der Evolutionismus, die Anschauung, die lineares Fortschrittsdenken im soziokulturellen Bereich an die Prinzipien der biologischen Evolution anbindet.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich der Biologismus des Denkens in verschiedenen Distrikten der Wissenschaften vom Menschen bemächtigt. Biologistische Interpretationen fanden in der Soziologie, in der Kulturanthropologie, in der Geschichtsschreibung und in der Rechtswissenschaft starken Nachklang. Angespornt von den bahnbrechenden Erfolgen der Biologie übernahmen Historiker mehr und mehr das biologistische Modell in der Deutung der Menschheitsgeschichte. Die Menschheit als ein sich entwickelnder Organismus – diese Betrachtungsweise wurde im 19. Jahrhundert der Deutung der Menschheitsgeschichte vielfach vorangestellt. "Die neue Wertung und Zuordnung des Menschen seit dem 18. Jahrhundert", so charakterisiert der Medizinhistoriker G. Mann die allgemeine Situation, "seine Natur und Natürlichkeit, seine Naturgesetzlichkeit als Einzel- und Gesellschaftswesen werden vielfältig zu fassen und von den verschiedensten Standorten zu beobachten versucht". Erst später allerdings wird für diese Betrachtungsweise der Ausdruck Biologismus verwendet. Es war der Philosoph H. Rickert (1863–1936), der diesen Begriff in seiner Abhandlung "Lebenswerte und Kulturwerte" (1911/12) eingeführt und beschrieben hat.
Im Sog der Selektionstheorie Darwins wurden die Umrisse einer "selektionistischen" Interpretation der Geschichte deutlich. Ein typischer Vertreter der selektionistischen Gesellschaftstheorie aus dem späten 19. Jahrhundert ist Albert E. Schäffle (1831–1903). In seinem von 1875 bis 1878 erschienenen vierbändigen Werk "Bau und Leben des socialen Körpers" überträgt er Darwins Selektionskonzept auf die Gesellschaft. Er sieht die Lehre von der sozialen Auslese als "oberste Socialtheorie", die systematische Analyse des "Gesellschaftskörpers" nimmt er am Leitfaden der "organischen Biologie" vor. Was in Schäffles biologistischer Gesellschaftstheorie zutage tritt, läßt sich als generelle Tendenz der Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts beschreiben: "Organismus, Evolution, auf- und absteigenden Fortschritt einschließend, allgemein oder darwinistisch bestimmt durch Vorstellungen vom Kampf ums Dasein, Selektion, durch Anpassung, Variabilität, die Rassenidee schließlich in vielfältiger Ausbildung, Milieu, Erblichkeit... all das sind Stichwörter und Kristallisationskerne biologistischer Geschichtstheorie" (G. Mann).
Besonderer Erwähnung bedarf in diesem Zusammenhang die monistische Philosophie des Zoologen E. Haeckel, des streitbarsten Verfechters der Lehre Darwins auf dem europäischen Kontinent. Bei Haeckel ist der Biologismus auf die Spitze getrieben, die selektionistische Argumentation auf alle Aspekte der menschlichen Kultur und Gesellschaft ausgedehnt. Haeckels Buch "Die Lebenswunder" (1904) liefert ein beredtes Zeugnis für eine auf die Selektionstheorie reduzierte "biologische Philosophie" und ihre Anwendung auf Geschichte, Kultur, Gesellschaft und Moral. Haeckel zögerte nicht, das Selektionsprinzip zu einer ethischen Maxime zu verallgemeinern: Der Staat müsse die Möglichkeit haben, "lebensuntüchtiges" Leben auszusondern; auch die Todesstrafe dürfe – da sie selektiv wirksam sei – nicht abgeschafft werden; und nur, wenn der Staat aktiv in die Höherentwicklung der Menschheit eingreift, wäre die höchste Stufe der Kultur erreichbar (nach R. Winau).
Hatte noch T.H. Huxley, einer der bedeutendsten Anhänger der Lehre Darwins, die Eigenständigkeit des Bereichs sittlichen Handelns gegenüber den Naturgesetzen betont, so wurde gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts – nicht zuletzt unter Haeckels Einfluß – das Selektionsprinzip buchstäblich in den Rang eines Moralprinzips erhoben. Beispielsweise forderte der Arzt W. Schallmayer (1857–1919) in seiner Schrift "Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker" (1903) die Anwendung natürlicher Auslese zur Heilung von Schäden der menschlichen Gesellschaft. Alle sozialen Institutionen wären unter dem Aspekt eines (gesellschaftlichen) "Kampfes ums Dasein" zu betrachten, alle kulturellen Errungenschaften müßten als Ausrüstung zum sozialen Daseinskampf gesehen werden. Schließlich wäre das menschliche "Ehrbedürfnis" durch die natürliche Selektion im Keimplasma fixiert worden und sei somit die biologische Grundlage der Sittlichkeit.
Solche und ähnliche Gedanken mündeten in den Sozialdarwinismus, der zwar Darwin seinen Namen verdankt, mit dessen Grundideen aber Darwin kaum etwas zu tun hat. Der Sozialdarwinismus ist das Ergebnis einer Fehlinterpretation der Formeln "Kampf ums Dasein" und "Überleben des Tüchtigsten" und einer vorschnellen Übertragung dieser Formeln auf die Bereiche menschlicher Kultur und Gesellschaft. Die von der sozialdarwinistischen Ideologie gelieferte "Begründung" rassenhygienischer Maßnahmen führte im Nationalsozialismus zu den denkbar schrecklichsten Konsequenzen. Kaum je zuvor ist eine naturwissenschaftliche Theorie, die Selektionstheorie, so gründlich mißverstanden und so verhängnisvoll auf den Menschen angewandt worden wie in den nationalsozialistischen Doktrinen (Euthanasie). Die nationalsozialistischen Exzesse sind auch das eindrucksvollste wie erschütterndste Beispiel für die möglichen "praktischen" Konsequenzen eines Biologismus.
Lediglich eine Variante des theoretischen Biologismus und allenfalls naturphilosophisch von Belang ist hingegen der Holismus von A. Meyer-Abich, der ebenfalls in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts vielfach diskutiert wurde. Meyer-Abich ging es vor allem darum, die Prinzipien der Wissenschaften vom Anorganischen aus jenen der Biologie abzuleiten und mithin ein biozentriertes Weltbild zu begründen. Seine Grundthese lautete: "Verglichen mit den physikalischen sind die biologischen Gesetze, Prinzipien und Axiome die universaleren und allgemeingültigeren, und es ist daher als die letzte Aufgabe der theoretischen Biologie zu formulieren, die biologischen Axiome, Prinzipien und Gesetze auf eine solche Form zu bringen, daß die physikalischen Gesetze usw. durch simplifizierende Ableitung aus ihnen deduziert werden können." Meyer-Abich bezeichnete denn auch diese These als biologistische These.
Insgesamt läßt sich also sagen, daß der Biologismus in der Geschichte einerseits durch den Versuch einer Übertragung biologischer Konzepte auf die Sozial- und Kulturwissenschaften, andererseits durch die Ausdehnung der Biologie auf die physikalischen Wissenschaften zur Geltung gebracht wurde. Während in neuerer Zeit letzteres kaum noch eine Rolle spielt, lebt die Idee einer biologischen Erklärung soziokultureller Phänomene fort. Insbesondere versucht heute die Soziobiologie, das Sozialverhalten des Menschen auf seine biologischen Wurzeln zurückzuführen und die genetische Determination auch spezifisch menschlicher Verhaltensweisen – mit ihren Ausdrücken in Kultur und Moralität – zu erweisen. Solange es sich dabei nur um den Versuch handelt, die biologischen Vorbedingungen soziokulturellen Handelns zu ergründen, ist das soziobiologische Forschungsprogramm sicher zu begrüßen. Zu einem einseitigen Biologismus ausarten muß die Soziobiologie aber dann, wenn sie ungeachtet der biologischen Wurzeln menschlichen Sozialverhaltens die Eigenständigkeit bzw. Eigendynamik soziokultureller Phänomene außer acht läßt. Viel eher wird man zugeben müssen, daß der Bereich menschlichen Sozialverhaltens durch das Zusammenwirken von mehreren Komponenten auf unterschiedlichen Ebenen bestimmt wird. Zweifelsohne kommt biologischen Gesetzlichkeiten dabei eine wichtige Rolle zu, sie als alleingültige Prinzipien zu deklarieren hieße aber, komplexe Phänomene kraß zu vereinfachen und erneut einem Biologismus den Weg zu ebnen.
Lit.: Fischer, G., Wölflingseder, M. (Hrsg.): Biologismus – Rassismus – Nationalismus. Rechte Ideologien im Vormarsch. Wien 1995. Goll, R.: Der Evolutionismus. München 1972. Heilmeier, J. und andere (Hrsg.): Gen-Ideologie. Biologie und Biologismus in den Sozialwissenschaften. Hamburg 1991. Mann, G. (Hrsg.): Biologismus im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1973. Mann, G.: Biologie und Geschichte. In: Medizinhist. Journal 10, 1975. Meyer, P.: Soziobiologie und Soziologie. Darmstadt-Neuwied 1982. Meyer-Abich, A.: Ideen und Ideale der biologischen Erkenntnis. Leipzig 1934. Oeser, E.: System, Klassifikation, Evolution. Wien – Stuttgart 1974. Peters, H.M.: Historische, soziologische und erkenntniskritische Aspekte der Lehre Darwins. In: H.-G. Gadamer und P. Vogler (Hrsg.): Neue Anthropologie, Bd. 1, Stuttgart – München 1972. Propping, P., Schott, H. (Hrsg.): Wissenschaft auf Irrwegen. Biologismus – Rassenhygiene – Eugenik. Bonn 1992. Winau, R.: Ernst Haeckels Vorstellungen von Wert und Werden menschlicher Rassen und Kulturen. In: Medizinhist. Journal 16, 1981.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.