Lexikon der Biologie: Fortbewegung
Fortbewegung, Lokomotion, die Fähigkeit tierischer Organismen zur aktiven Ortsveränderung (Bewegung) in einem Raumsystem ( vgl. Tab. 1 , vgl. Tab. 2 ). Die Prinzipien der Fortbewegung lassen sich auf das 2. und 3. Newtonsche Axiom zurückführen. Das 2. Newtonsche Axiom besagt: Um einer Masse m die Beschleunigung a zu erteilen, ist eine Kraft F erforderlich, die gleich dem Produkt aus Masse und Beschleunigung ist: F= m·a. Das 3. Newtonsche Axiom sagt aus: Wirkt ein Körper A mit der Kraft F1 auf einen Körper B, so wirkt der Körper B mit der Gegenkraft F2 auf A zurück. Kraft und Gegenkraft sind im Betrag gleich und unterscheiden sich nur in der Richtung, in der sie wirken. Dieses Gesetz wird auch „Prinzip von actio und reactio“ genannt. Das 2. Newtonsche Axiom verweist auf Kräfte, die, vom Organismus erzeugt, für dessen Fortbewegung nutzbar gemacht werden. Das 3. Axiom beschreibt die Wechselwirkung zwischen Organismus und Umwelt und die Art, in der die Kräfte auf den Erzeuger als reactio zurückwirken. – In Anwendung dieser Grundsätze umfaßt die Analyse der Fortbewegung ( vgl. Abb. 1 ) die Fragen nach a) dem Ort der Krafterzeugung („Motor“), b) der Form der Kraftleitung im Organismus (Transducer), c) der Art der Kraftübertragung auf das Substrat (Propellor), d) jenen stabilisierenden Elementen, welche die rückwirkende Kraft auffangen, und e) den Bestandteilen, die den Muskelantagonismus ermöglichen. – Fortbewegung auf dem Substrat: Ein bekanntes Beispiel ist die peristaltische Fortbewegung des Regenwurms. Orte der Krafterzeugung sind die Ring- und Längsmuskulatur, die den schlauchförmigen Körper mantelartig umgeben (Ringelwürmer). Die durch Dissepimente gekammerte Leibeshöhle enthält alle inneren Organe und ist flüssigkeitsgefüllt. Dieser Flüssigkeit kommt als kraftleitendem Element eine zentrale Bedeutung im Lokomotionsgeschehen zu (Hydroskelett). Kontraktion der Ringmuskulatur eines Segments erzeugt einen Druck auf die inkompressible Leibeshöhlenflüssigkeit. Eine Längsstreckung des Tieres entsprechend der nicht kontrahierten Längsmuskulatur, die zugleich gedehnt wird, ist die Folge. Umgekehrt bewirkt die Kontraktion der Längsmuskulatur über eine Verkürzung und Verbreiterung des Tieres eine Dehnung der Ringmuskulatur. Von hinten nach vorne verlaufen abwechselnd Kontraktionswellen der Ring- und Längsmuskulatur (Peristaltik). Die verdickten Stellen des Körpers dienen als Verankerungspunkte; Vortrieb erfolgt durch Kontraktion der Ringmuskulatur. Die Unterteilung der Leibeshöhle in unabhängig arbeitende Druckkammern ermöglicht eine genauere Koordination des Bewegungsablaufs. – Auch der Fortbewegung der Schnecken liegt ein hydraulischer Mechanismus zugrunde. Äußerlich sichtbares Merkmal sind von hinten nach vorn verlaufende Fußwellen. Als „Motor“ fungieren aufeinanderfolgende Kontraktions- und Erschlaffungsphasen der dorsoventralen Fußmuskulatur. Ihre Kontraktion bewirkt Abheben vom Boden und Dehnung der Sohle. In der folgenden Erschlaffungsphase wird durch den Flüssigkeitsdruck im benachbarten Gewebe die Muskulatur wieder gedehnt, die elastische Sohle senkt sich und bildet, ein kleines Stück nach vorn versetzt, einen Verankerungspunkt mit dem Boden ( vgl. Abb. 2 ). – Tiere mit einem Hartteil-Skelett (Gliedertiere, Wirbeltiere) besitzen Hebel als Fortbewegungsorgane. Diese werden durch Hebemuskeln angehoben und nach vorne geführt; dabei werden gegensinnig angreifende Beugemuskeln gedehnt. Durch Aufsetzen der Extremität wird ein fester Verankerungspunkt mit dem Boden geschaffen. Aktivität der Beuger zieht den Rumpf des Tieres nach vorne. Große Bedeutung kommt der Stellung der Gliedmaßen und der Gangart zu. Seitlich am Körper ansetzende Extremitäten (z.B. Amphibien) erfordern einen Teil der Muskelkraft, um den Körper vom Boden abzustemmen. Das Vorsetzen des gehobenen Beins muß bogenförmig um das ruhende erfolgen ( vgl. Abb. 3 ). Schneller Lauf ist ausgeschlossen. Bei Säugetieren setzen die Beine dagegen unter dem Rumpf an. Der Körper wird fast ohne Energieaufwand getragen. Gleichzeitig ist ein pendelartiges Ausschwingen der Extremitäten möglich, was auch einen schnellen Lauf gestattet (Gehen). Mit dem Wechsel der Gangarten ändert sich vor allem die rhythmische und energetische Seite der Fortbewegung. Schneller Lauf (z.B. Galopp) findet als hüpfend-springende Fortbewegung statt. Ein Teil der Fortbewegungs-Energie wird dabei elastisch aufgefangen und weiteren Bewegungsfolgen zugeführt. Es gibt zahlreiche Spezialisierungen der Fortbewegung mit Hilfe von Hebeln (Hüpfen, Springen, Klettern, Graben). – Fortbewegung im Substrat: Viele Tiere graben (Graben), z.B. im Sand des Meeres (Ringelwürmer, Muscheln). Dem liegen, ähnlich wie beim Regenwurm, hydraulische Prinzipien zugrunde. Kontraktionswellen der Muskulatur erzeugen in der Leibeshöhle einen Druck, der nicht kontrahierte Abschnitte fest gegen das Substrat preßt. Zugleich erfahren diese eine Verlängerung. Oft ist das Vorderende durch Dissepimente von der Hydraulik abgekoppelt und wirkt als unabhängiger Bohrabschnitt. Bei Muscheln wirkt die durch Ligamentzug automatisch aufklappende Schale als Befestigungspunkt, während der Fuß durch Flüssigkeitsdruck in das Sediment getrieben wird ( vgl. Abb. 4 ). Das Bohren in festem Substrat (Stein, Holz) tritt bei Schwämmen (Bohrschwämme), Spritzwürmern (Sipunculida), Weichtieren (Bohrmuscheln) und Stachelhäutern auf. In Kalkfels geschieht dies meist durch Ausscheiden saurer Substanzen, die den Fels lösen. Beim Schiffsbohrwurm Teredo (Schiffsbohrer), einer in Holz bohrenden Muschel, ist die Schale zu einem Bohrkopf umgebildet, der durch Kreisbewegungen das Holz abraspelt. Der übrige Körper hat Wurmgestalt (Name!). aufrechter Gang, Bakteriengeißel, Bewegungsapparat, Biomechanik, Bionik, Bipedie, Cilien, Flug, Fortbewegungsmechanik, Gehgeschwindigkeit, Gravitationsbiologie, Knöchelgang, Quadrupedie, Schwimmen.
M.St.
Fortbewegung
Abb. 1: Verschiedene Formen der Fortbewegung: 1 Raupe des Kohlweißlings, 2 Laubheuschrecke, 3 Weinbergschnecke, 4 Seeigel, 5 Springmaus, 6 Fledermaus, 7 Eidechse, 8 Ringelnatter, 9 Möwe im Flug, 10 Seehund, 11 Schäferhund, 12 Fisch, 13 Affe als Sohlengänger, 14 Hund als Zehengänger, 15 Pferd als Spitzengänger, 16 Mensch
Fortbewegung
Abb. 2: Landschnecke; a Fußwellen, b vergrößerter Ausschnitt des Fußes
Fortbewegung
Abb. 3: Salamander; schematische Darstellung des Bewegungsablaufs
Fortbewegung
Abb. 4: Graben der Muscheln;a Verankerung im Substrat durch Aufklaffen der Schale S und Vorantreiben des Fußes F in das Substrat (L Ligament), b Verankern des Fußes durch Flüssigkeitsdruck und Lösen der Schalenverankerung vom Substrat, c Nachziehen der Schale.
Verankerungspunkte Tier – Substrat
Muskelkontraktion und Zug des Ligaments bei 3
Wirkungsrichtung des hydraulischen Drucks
Fortbewegungsrichtung
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