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Lexikon der Biologie: Gastrotricha

Gastrotricha [von *gastro- , griech. triches = Haare], früher Ichthydina, Bauchhaarlinge, Flaschentierchen, ausschließlich frei lebende, mikroskopisch kleine Würmer (0,05–1 mm, maximal 4 mm), die ebenso in Süßgewässern wie in Litoral und Sublitoral aller Meere weltweit verbreitet sind. Sie sind von stab- bis flaschenförmiger Gestalt mit meist deutlich abgesetztem rundlichem Kopf, der beidseits lange, an Schnurrhaare erinnernde Sinnescilien und häufig kleine, öhrchenförmige Sinnestentakel trägt. Die Bauchseite ist zu einer Kriechsohle abgeplattet und besitzt in Längs- oder Querreihen stehende Cilienbänder, auf denen die Tiere außerordentlich rasch gleitend zu kriechen und mit denen sie auch kurze Strecken zu schwimmen vermögen. Das Hinterende ist meist gegabelt in 2 Zehen (Furca) mit Klebdrüsen (Klebröhrchen) an ihrer Spitze, mit deren Hilfe die Tiere sich blitzschnell an ihrem Substrat, etwa Sandkörnchen, festheften können. Gegenüber den besonders in strömungsarmen Süßgewässern vorkommenden Chaetonotida mit nur 2 Zehendrüsen besitzen die ausschließlich marinen, meist in bewegterem Wasser lebenden Macrodasyida über die ganze Körperoberfläche verteilt, vor allem an den Flanken, ganze Batterien von bis zu 200 solcher beweglicher Klebröhrchen, die es ihnen auch gestatten, egelartig zu kriechen. Der gesamte Körper ist von einer mehrschichtigen Cuticula überzogen, die besonders dorsal zu einem kompliziert gebauten Schuppenpanzer verdickt sein oder ein bizarres Stachel- oder Dornenkleid bilden kann. Die Gastrotricha sind fast ausschließlich farblos transparent. Sie ernähren sich von einzelligen Blau-, Kiesel- und Grünalgen sowie Bakterien und scheinen großenteils ausgesprochene Nahrungsspezialisten zu sein. Nur einzelne Arten leben planktisch; ihr Hauptlebensraum sind die Oberflächen von Wasserpflanzen und schlammig-sandigen Gewässerböden, ebenso die Lückensysteme der obersten Sedimentschichten (Psammal; Psammon). Die etwa 400 bisher bekannten und weltweit verbreiteten Arten verteilen sich auf 2 Ordnungen ( vgl. Tab. ) mit je 6 Familien, die ursprünglicheren und ausschließlich marinen Macrodasyida unddie auch süßwasserbewohnenden Chaetonotida mit der in all unseren Süßgewässern überaus verbreiteten Gattung Chaetonotus ( vgl. Abb. 1 ), deren Arten zu den kleinsten Mehrzellern überhaupt gehören und die wegen ihrer geringen Größe (deutlich kleiner als ein Pantoffeltierchen) meist übersehen werden. – Anatomie ( vgl. Abb. 2 ): Unter der vielschichtigen Lipoprotein- oder Glykoproteincuticula folgt eine bei manchen Arten syncytiale, meist aber zelluläre Epidermis aus dorsal sehr flachen, ventral und lateral aber hochprismatischen Zellen. Die Flimmerzellen der Kriechsohle sind bei manchen Arten monociliär (Gnathostomulida). Vor allem dorsal findet man zwischen die Epithelzellen eingestreut einzellige Schleimdrüsen; Abkömmlinge der Epidermiszellen sind ebenfalls die zweizelligen Klebdrüsen, deren 2 Zelltypen auf nervösen Reiz hin unterschiedliche Sekrete freisetzen, die nach Art eines Zweikomponentenklebers erst nach dem Zusammentreffen ihre Klebwirkung entfalten. Unter der Epidermis folgt jenseits einer dünnen Basallamina die Rumpfmuskulatur, bei Macrodasyida ein geschlossener, einschichtiger Ringmuskelschlauch und innerwärts mehrere, je nach Art ventrolaterale oder dorsale lamellenartig flache Längsmuskelzüge. Bei den Chaetonotida sind Ring- und vor allem Längsmuskulatur bis auf geringe Reste rückgebildet. Neben überwiegend schräggestreiften Muskelzellen beobachtet man bei einigen Formen auch quergestreifte Muskulatur, deren Feinbau sich jedoch von der Skelettmuskulatur Höherer Coelomaten deutlich unterscheidet (Gnathostomulida). Der Darmtrakt durchzieht den Körper als gerades Rohr, wie bei Fadenwürmern (Nematoden) in nur 2 deutliche Abschnitte gegliedert und bis auf Speicheldrüsen im Vorderabschnitt ohne jede Drüsenanhänge. Die endständige, gewöhnlich unbewehrte Mundöffnung ist von Cilien umsäumt und führt in einen muskulösen Schlund (Pharynx). Die Nahrung wird entweder durch peristaltische Schluckbewegungen eingesogen oder durch die Mundcilien eingestrudelt; einige räuberische Arten können ihre Beuteorganismen auch mit ausstülpbaren, manchmal mit Stacheln bewehrten Pharynxlappen aktiv ergreifen. Der Pharynx besitzt wie bei Fadenwürmern ein im Querschnitt dreieckiges Lumen und eine Wandung aus hochprismatischen Myoepithelzellen mit radiär angeordneten Myofibrillen. Er arbeitet so als Saugpumpe. Bei den Macrodasyida wird das mit der Nahrung aufgenommene Wasser durch 2 Pharyngealporen nach außen geleitet. Sie durchbrechen die Körperwand und münden beidseits am Pharynxende nach außen. Mittel- und Enddarm sind unbewimpert; sie bestehen aus wenigen Reihen mit Mikrovilli besetzter Zellen und sind in ganzer Länge von 2 Muskellagen umkleidet (Macrodasyida), umgekehrt wie bei der Rumpfmuskulatur von einer inneren Ringmuskellage und äußeren Längsmuskelzügen. Der After liegt ventral unmittelbar vor dem Körperende. Beidseits des Darms sind zwischen Rumpf- und Darmmuskulatur Reste einer Leibeshöhle erhalten, die besonders bei den Macrodasyida vonden Muskelschichten epithelartig umkleidet werden. Deshalb deuten manche Autoren sie als Coelomrudimente (Muskelschichten evtl. Derivate eines ehemaligen Coelothels), die dann auf eine Coelomatenabkunft der Gastrotricha und der ihnen nächstverwandten Tiergruppen hinwiesen. Entsprechend der geringen Größe fehlt den Gastrotricha ein Gefäßsystem, während die Exkretion und Osmoregulation über Protonephridien erfolgen, die bei den Macrodasyida als jeweils paarige Organe mit je mehreren Terminalzellen über die ganze Körperlänge verteilt, bei den Chaetonotida auf ein Protonephridienpaar im vorderen Körperbereich mit langgewundenen Ausfuhrkanälen und je einer Exkretionsöffnung reduziert sind. Das Nervensystem gleicht in mancher Hinsicht dem der Plattwürmer (Plathelminthen): Von einem beidseits verdickten Nervenring um den vorderen Pharynx gehen nach vorn und hinten je ein laterodorsales und lateroventrales Paar von Längs-Marksträngen zur Versorgung des Kopfes und seiner Sinnesorgane und zur motorischen und sensiblen Innervation des Rumpfes aus (Orthogon der Plattwürmer). Die hinteren 4 Stränge vereinigen sich beidseits zu je einem lateroventralen Markstrang, der zwischen den Basen der Epithelzellen (basiepithelial) verläuft. Die bei den ursprünglichen Macrodasyida zwittrigen, bei den abgeleiteten Chaetonotoidea eingeschlechtlichen Gonaden erfüllen die rudimentären Leibeshöhlen. Paarige oder unpaare sackförmige Hoden liegen beidseits des Vorderdarms und münden über einen ventral gelegenen Genitalporus nach außen, während die ebenfalls paarigen oder unpaaren Ovarien beiderseits oder ventral dem Mitteldarm anliegen und sich über eine Samenblase (Receptaculum seminis) und eine nahe dem Hinterende gelegene Bursa copulatrix nach außen öffnen. Spermien werden eingeschlossen in Spermatophoren auf dem Körper des Partners abgesetzt. Bei den Chaetonotida scheinen die Hoden in der Regel rückgebildet zu sein; ihre Fortpflanzung ist überwiegend parthenogenetisch. Die dotterreichen Eier werden, bei den Macrodasyida nach innerer Besamung, durch die aufbrechende dorsale Körperwand abgegeben. Die Entwicklung verläuft über eine total-äquale, bilaterale Furchung (Fadenwürmer), die in den ersten Teilungsschritten Anklänge an eine Spiralfurchung zeigt. Ohne zwischengeschaltetes Larvenstadium gleichen die schlüpfenden Tiere bereits bis auf die Körperproportionen erwachsenen Würmern. Bei manchen Arten, besonders parthenogenetischen Süßwasserformen, werden 2 Eitypen produziert, dünnschalige „Subitaneier“ (Subitaneier), die sich sofort entwickeln, und dickschalige Dauereier, deren Entwicklung erst nach einer Kälte- oder Trockenphase einsetzt. Asexuelle Fortpflanzung ist bei Gastrotricha nicht bekannt; ebenso fehlen Angaben über das Regenerationsvermögen. – Verwandtschaft: In zahlreichen Merkmalen (Cuticulastruktur; Bau des Darmtrakts, namentlich des Pharynx; Besitz von Klebröhrchen; epitheliale Anordnung der Rumpfmuskulatur; Furchungstyp) stimmen die Gastrotricha mit den Fadenwürmern überein, zeigen allerdings auch gewisse Ähnlichkeiten mit den Gnathostomuliden (monociliäres Epithel, eigener Typ quergestreifter Muskelzellen), während die Struktur des Nervensystems, der Besitz von Protonephridien, die Zwittrigkeit, die Körperbewimperung und der Bau der Kopfsinnesorgane an die Strudelwürmer (Turbellarien) erinnern, wobei diese Turbellarienmerkmale allerdings eher als Plesiomorphien anzusehen sind. Merkmalsverwandtschaften zu den Rädertieren (Muskelbau, Cilienbesitz und Protonephridien, Zehen mit Klebdrüsen am Hinterkörper) sind wohl Konvergenzen oder ebenfalls Plesiomorphien, während die Nematodenähnlichkeit eher synapomorpher Art ist. Dementsprechend werden die Gastrotricha als eigene Klasse der Rundwürmer (Nemathelminthes) und nahe Verwandte der Nematoden (Fadenwürmer) angesehen. Wahrscheinlich in den Küstenregionen der Meere entstanden (Macrodasyida), haben sie sekundär (Chaetonotida) auch das Süßwasser besiedelt. Der eventuelle Besitz von Coelomrudimenten als Hinweis auf eine Abstammung von coelomaten Vorfahren könnte als Hinweis darauf gelten, daß die gesamte Verwandtschaftsgruppe der Nemathelminthen (Pseudocoelomata) durch Reduktion des Coeloms von coelomaten Tieren abzuleiten ist.

P.E.



Gastrotricha

Abb. 1: Mikroskopische Aufnahmen eines Vertreters der Gattung Chaetonotus aus einem Bach; a von dorsal (sichtbar: Zehen, Bestachelung und Sinnescilien), b von der Seite (sichtbar: Cilien der Wimpernsohle und Zehen

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