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Lexikon der Biologie: Kleinhirn

Kleinhirn, Cerebellum, Teil des Metencephalons (Gehirn) der Wirbeltiere, der schon früh in der Phylogenese erscheint. Während einige Fische (vor allem elektrische Fische) ein imposantes Kleinhirn besitzen, ist es bei den meisten Amphibien winzig. Seine relative Größe steht offenbar mit der lokomotorischen Aktivität der Organismen in Zusammenhang: langsame, träge Tiere besitzen allgemein ein nur gering ausgebildetes Kleinhirn, während schnelle, agile Tiere, auch Niederer Wirbeltiergruppen, ein hoch entwickeltes Kleinhirn haben. Das Kleinhirn entwickelt sich ontogenetisch und phylogenetisch am Dach des Rautenhirns in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Kerngebieten des Gleichgewichtssystems. Stammesgeschichtlich diente das Kleinhirn ursprünglich vermutlich ausschließlich dem Gleichgewichtssinn (Gleichgewichtsorgane, mechanische Sinne), aber im Verlauf der Entwicklung „bedienten" sich mehr und mehr Sinnessysteme seiner offenbar universellen Funktionen. Bei Tieren mit einfach strukturiertem Kleinhirn findet man einen unpaaren mittleren Teil (Corpus cerebelli) und 2 seitliche Vorsprünge (Aurikel oder Lobi auriculares). Zu den Aurikeln führen Fasern aus dem Gleichgewichtssystem (Vestibularis-Lateralis-System), der Corpus empfängt über das Rückenmark aufsteigende Neuronen der Tiefensensibilität (Kinästhesie). Bei Vögeln und Säugetieren treten als zusätzliche Komponente Fasern aus der Brücke hinzu, die von weiten Teilen der Großhirnrinde innerviert wird. Dabei kommt es zur Ausbildung der teilweise mächtig vorgewölbten Kleinhirn-Hemisphären. Das Kleinhirn der Säugetiere ist von beträchtlicher Größe und läßt sich in 3 Hauptregionen unterteilen ( vgl. Abb. ), die auch die prominentesten cerebellären Funktionen repräsentieren. Das Palaeocerebellum (Lobus anterior) liegt am Rostralpol (rostral) des Kleinhirns. Hier enden Nervenbahnen, die Propriozeption (Kinästhesie) von Muskelspindeln und Golgi-Sehnenorganen über den Tractus spinocerebellaris dorsalis und ventralis melden; seine Funktion liegt vermutlich in der Regulation des Muskeltonus. Das Neocerebellum (Lobus posterior) ist der phylogenetisch jüngste Teil des Kleinhirns; hier entstehen zentrale Beiträge zur Feinmotorik, die von der Großhirnrinde nur initiiert und vom Neocerebellum ausgearbeitet werden. Das Archicerebellum (Lobus flocculonodularis und Lingula) ist der ursprünglichste Teil des Kleinhirns und mit dem Gleichgewichtssystem eng assoziiert. Die Längsgliederung des Kleinhirns in Kleinhirnwurm (Vermis) und -hemisphären ist dieser Dreiteilung weitgehend untergeordnet. Im Vermis gibt es Regionen, die durch auditorische oder visuelle Reize aktiviert werden. – Das Kleinhirn ist mit anderen Hirnregionen über seine 3 Kleinhirnstiele verbunden. Im unteren Kleinhirnstiel (Pedunculus cerebellaris inferior, Corpus restiforme) verlaufen die aus dem Rückenmark und dem vestibulären System kommenden Bahnen. Der mittlere Kleinhirnstiel (Pedunculus cerebellaris medius, Brachium pontis, Brückenarm) leitet die aus der Großhirnrinde über die Brücke fließenden Signale ins Kleinhirn. Im oberen Kleinhirnstiel (Pedunculus cerebellaris superior, Brachium conjunctivum, Bindearm) verlaufen überwiegend die Ausgangsleitungen des Kleinhirns. Morphologisch gesehen, gibt es nur 2 Typen von Afferenzen in das Kleinhirn: die Moosfasern und die Kletterfasern. Beide Afferenzen wirken erregend auf Neuronen in der Kleinhirnrinde und über Axon-Kollaterale auf Neuronen der Kleinhirnkerne. Kletterfasern bilden Synapsen an Zellkörper und Dendriten jeweils einer Purkinje-Zelle, während Moosfasern synaptische Kontakte mit einer großen Zahl der äußerst dicht gepackten Körnerzellen eingehen. Die Axone der Körnerzellen bilden die Parallelfasern der Kleinhirnrinde und wirken über synaptische Kontakte erregend auf die Dendriten der Purkinje-Zellen. Weitere prominente Zelltypen der Kleinhirnrinde sind Sternzellen, Korbzellen und Golgi-Zellen, die wie die Purkinje-Zellen zumeist inhibitorisch wirken. Die Regel, daß Kletterfasern aus der unteren Olive stammen, während alle anderen Quellen afferenter Axone Moosfasern bilden, hat vermutlich nur wenige Ausnahmen. Die Zellen der Kleinhirnrinde sind in eindrucksvoller räumlicher Ordnung in 3 Schichten angeordnet: die innen liegende Körnerschicht (Stratum granulosum), die darüberliegende Ganglien-Zellschicht (Stratum ganglionare, Purkinje-Zellschicht) und die außen liegende Molekularschicht (Stratum moleculare), in der sich fast nur die Parallelfasern und die Dendriten der Purkinje-Zellen befinden. – Das Studium seiner Afferenzen und Efferenzen hat zahlreiche Hinweise auf die vielfältigen Funktionen des Kleinhirns erbracht. Unter den verschiedenen „Quellen" der Moosfasern sind vor allem das Gleichgewichtsorgan, das Rückenmark und die Brücke zu nennen. Die einzigen sensorischen Axone, die direkt in das Kleinhirn hineinziehen, kommen vom Gleichgewichtsorgan und enden im Archicerebellum. Bahnen aus dem Rückenmark (über den Tractus spinocerebellaris) ziehen vor allem in das Palaeocerebellum. Auch die Großhirnrinde übt einen gewichtigen Einfluß auf die cerebelläre Aktivität aus; die dort entspringenden Nervenbahnen (beim Menschen ca. 20 Millionen Nervenfasern aus jeder Hemisphäre) müssen aber über die Brücke (Pons) laufen und werden dort auf pontine Neuronen umgeschaltet, die ihrerseits ins Kleinhirn projizieren. In der Tiefe des Kleinhirns liegen 4 Kleinhirnkerne: der Nucleus fastigii (Dachkern), der Nucleus globosus (Kugelkern), der Nucleus emboliformis (Pfropfkern) und der Nucleus dentatus (Zahnkern). In den Gehirnen der Säuger sind diese Kleinhirnkerne obligatorische Station der von den Axonen der Purkinje-Zellen gebildeten efferenten Projektionen der Kleinhirnrinde – mit einer Ausnahme: einige Purkinje-Zellen senden ihr Axon direkt zu den vestibulären Kernen. Von den Kleinhirnkernen entspringen umfangreiche Projektionen in das Mesencephalon (z.B. den Nucleus ruber; Mittelhirn) und das Diencephalon (z.B. den VA-VL-Komplex des Thalamus; Zwischenhirn). Das Kleinhirn hat keine direkten Ausgänge zu Motoneuronen in Rückenmark oder Hirnstamm und muß schon allein aus diesem Grund als übergeordnetes Koordinationszentrum gelten.
Kommt es zu Verletzungen des Kleinhirns, so sind die Symptome je nach Ort der Schädigung charakteristisch. Bei Verletzung des Archicerebellums kommt es zu sprunghaften Augenbewegungen (Nystagmus), zu einer massiven Störung der Gleichgewichtswahrnehmung und zu einer Ataxie, d.h. einer Verzerrung grundlegender Bewegungsmuster. Verletzungen des Palaeocerebellums führen zu einer Hypotonie, d.h. schneller Muskelermüdung und -erschlaffung. Verletzungen des Neocerebellums haben vielfältige Folgen: Störungen der Bewegungskoordination (Muskelkoordination), Rückschlagphänomene bei Entfernung von Gelenkbelastungen, Ataxie, Dysmetrie und das Einsetzen eines Tremors bei willentlich initiierten Bewegungen (Intentionstremor). Solche „cerebellären Zeichen" betreffen immer die ipsilaterale Körperseite. Die Symptome nach Kleinhirnverletzungen betreffen nicht offensichtlich die Wahrnehmungsfähigkeiten oder den Bewußtheitsgrad des Patienten. Bei Untersuchungen am Menschen häufen sich jedoch die Befunde, nach denen das Kleinhirn auch Beiträge zu kognitiven Prozessen liefert und möglicherweise an dem Krankheitsgeschehen von Schizophrenie und Demenz beteiligt sein kann. Arbor vitae, Erasistratos, Flocculus, Flourens (M.J.P.), Gedächtnis, Purkinje (J.E. von); Gehirn I , Nervensystem II, Rückenmark.

R.B.I.



Kleinhirn

Basale Ansicht des Kleinhirns des Menschen

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