Lexikon der Biologie: Lectine
Lectine, Lektine, Gruppe löslicher Proteine oder Glykoproteine, die hohe Affinität zu spezifischen Zuckerresten zeigen und daher Glykoproteine und Glykolipide sowie Zellen, die diese an ihrer Oberfläche tragen, zu binden und – im Fall von di-, tetra- oder hexameren Lectinen – zu agglutinieren vermögen (Agglutinine). Lectine ( vgl. Tab. ) besitzen keinerlei enzymatische Aktivität. Sie wurden zuerst durch die Erythrocyten-agglutinierenden (Hämagglutination) Eigenschaften von Pflanzenextrakten entdeckt, weshalb oft Phyt(o)hämagglutinine synonym gebräuchlich ist (streng genommen bezieht sich die Bezeichnung Phytohämagglutinin nur auf das Lectin der Garten-Bohne). Lectine kommen jedoch nicht nur bei Pflanzen, sondern auch bei Viren, Bakterien, Protozoen (Einzeller), Pilzen und Tieren vor. Die biologische Funktion der Lectine liegt vor allem in der Zelladhäsion und Zell-Zell-Erkennung, wie z.B. bei der Erkennung der symbiontischen Knöllchenbakterien durch die Zellen der Wurzelhaare bei Leguminosen (Hülsenfrüchtler) und bei der spezifischen Interaktion zwischen Pollen und den Stigmazellen (Narbe) pflanzlicher Blütenstände, durch welche die Befruchtung ausgelöst wird. Einige in pflanzlichen Samen vorkommende Lectine sind für tierische Organismen giftig. Beispielsweise fördern die in den grünen Hülsen von Bohnen vorkommenden Lectine die Blutgerinnung. Schneeglöckchen enthalten ein Lectin, das auf bestimmte Pflanzensaft saugende Insekten, wie z.B. Blattläuse, tödlich wirkt (pflanzliche Abwehr). Diese insektizide Wirkung (Insektizide) wird in der gentechnischen Schädlingsbekämpfung genutzt. Lectine können im tierischen und menschlichen Organismus unter bestimmten Umständen als Mitogene fungieren, meist haben sie jedoch Bedeutung bei immunologischen Vorgängen und bei Infektionen. Bei Infektionen des Magen-Darm-Trakts oder der Harnwege lagern sich Bakterien mit Hilfe ihrer Lectine zunächst selektiv an die an der Oberfläche der Epithelzellen befindlichen Zuckerreste an, bevor sie in die Schleimhaut eindringen. Durch die Gabe von Zuckern, welche die Lectine von ihren Rezeptoren zu verdrängen vermögen, kann die Infektionsrate deutlich gesenkt werden. Bakterien-Lectine, die mit den Oberflächenzuckern von Leukocyten oder Makrophagen in Kontakt kommen, aktivieren die Phagocytose. Verschiedene von einer Hülle umgebene Viren (z.B. Herpesviren, Influenzaviren, Retroviren) verfügen in den Spikes der Virushülle über Lectine, die für den Zugang zur Wirtszelle wichtig sind. Auch bei Infektionen durch Protozoen können Lectine eine Rolle spielen. Entamoeba histolytica, der Erreger der Amöbenruhr, lagert sich z.B. mit einem Galactose-spezifischen Lectin an die Oberfläche der Darmepithelzellen an. Lectine sind zudem an der organspezifischen Ansiedlung von metastasierenden Tumorzellen (Krebs, Metastasierung) beteiligt. Eine solche Organotropie hofft man mit Hilfe von Lectinen auch für verschiedene Chemotherapeutika zu erreichen. Lectine erhalten außerdem das Gleichgewicht im Auf- und Abbau der Serumproteine. Sie dienen als Rezeptoren an der Zelloberfläche, wie z.B. der Ashwell-Rezeptor der Leberzelle, der Zuckerreste von Coeruloplasmin bindet und es dem Serum entzieht. Dabei bestimmen die Oligosaccharideinheiten der Serumproteine deren Zirkulationszeit. Der Abbau mancher Zellen (z.B. der Erythrocyten in Leber und Milz) wird durch den Verlust von Oligosaccharideinheiten an der Zelloberfläche eingeleitet; die betreffenden Zellen binden über spezifische Lectine an Makrophagen und werden durch Phagocytose oder Lyse beseitigt. – Lectine können mit spezifischen Antikörpern oder geeigneten Markierungen (Fluoreszenzfarbstoffe, Biotinylierung) der Liganden nachgewiesen werden, was z.B. in der Zellbiologie (Cytologie) zur histochemischen Identifizierung und Charakterisierung von Glykoproteinen und Glykolipiden in Membranen und zur Identifizierung von Zelltypen genutzt wird. – Weitere, nicht im Text oder in der Tab. genannte Lectine sind z.B. Arabinogalactan-Proteine, Collectine, Mannose-bindendes Protein, Selektine, Solanaceen-Lectine. Edelman (G.M.), Sumner (J.B.).
Lectine
Einige Lectine
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Weizenkeim-Agglutinin | Weizen (Triticum vulgare) | Dimer 36.000 | N-Acetyl-D- glucosaminyl- | |
Concanavalin A | Schwertbohne (Canavalia ensiformis) | Tetramer 104.000 | D-Mannosyl-, D-Glucosyl- | |
Phytohämagglu tinin | Garten-Bohne (Phaseolus vulgaris) | heterogen | N-Acetyl-D- galactosaminyl- | |
Soja-Lectin | Sojabohne (Glycine max) | Tetramer 120.000 | N-Acetyl-D- galactosaminyl-, D-Galactosyl- | |
Dolichos-Lectin | Pferdebohne (Dolichos biflorus) | Tetramer 110.000 | N-Acetyl-D- galactosaminyl- | |
Lens-Lectin | Linse (Lens culinaris) | Tetramer 52.000 | D-Mannosyl-, D-Glucosyl- | |
Arachis-Lectin | Erdnuß (Arachis hypogaea) | Tetramer 110.000 | D-Galactosyl(1,3)-N- Acetyl-galactosaminyl-, D-Galactosyl- | |
Ulex-Lectin I | Europ. Stechginster (Ulex europaeus) | ? | L-Fucosyl- | |
Pisum-Lectin | Garten-Erbse (Pisum sativum) | Tetramer 50.000 | D-Mannosyl-, D-Glucosyl- | |
Helix-Lectin | Weinbergschnecke (Helix pomatia) | Hexamer 78.000 | N-Acetyl-D-galactosaminyl- |
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