Lexikon der Biologie: Naturgesetze
Naturgesetze, Regelmäßigkeiten im Verhalten realer Systeme. Für die Suche nach Naturgesetzen gibt es – wie für die Suche nach Theorien und nach wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt – praktische und theoretische Motive ( vgl. Infobox ). Genauer unterscheidet man zwischen den Regelmäßigkeiten in der Natur und unseren Versuchen, diese Regelmäßigkeiten in Gesetzesaussagen wiederzugeben. Im Folgenden geht es um die Merkmale solcher Gesetzesaussagen. Die logischen Merkmale sind unstrittig: Naturgesetze sind synthetische Allaussagen, sie formulieren Zusammenhänge zwischen zwei oder mehr Größen, und sie haben die Form von Wenn-dann-Aussagen. Darüber hinaus fordern wir als semantisches Merkmal: Eine Gesetzesaussage muß – im Rahmen der angestrebten oder erreichbaren Genauigkeit – als wahr akzeptierbar sein. Wir fordern also nicht Beweisbarkeit (sie ist unerreichbar), Wahrheit (dann kennen wir, genau genommen, fast gar keine Naturgesetze) oder allgemeine Anerkennung (sie ist meinungs- und mehrheitsabhängig und nur schwer feststellbar). – Nun gibt es Sätze, die alle diese Kriterien erfüllen und doch nicht als Naturgesetze gelten, z.B. „Alle Fische in Peters Teich sind Forellen.“ Um solche zufällig wahren Allaussagen auszuschließen, fordert man zusätzlich: Naturgesetze sollen logisch allgemein sein (sich also nicht auf bestimmte Zeitpunkte, Orte oder Gegenstände beziehen und beschränken). Sie sollen irreale Konditionalsätze stützen (so stützt das Gravitationsgesetz die Behauptung „wenn ich auf dem Mond Hochsprung machte, würde ich mindestens 6 m hoch springen“; dagegen werden wir aus dem Satz über Peters Teich nicht schließen „Wäre in Peters Teich ein weiterer Fisch, so wäre er ebenfalls eine Forelle.“). Sie sollen Notwendigkeitscharakter haben (eine Aussage ist naturnotwendig genau dann, wenn sie unter allen Randbedingungen wahr ist). Zu allen diesen Merkmalen gibt es jedoch Einwände, die vor allem N. Goodman zusammengestellt hat. Was ein Naturgesetz ist, ist deshalb nicht abschließend geklärt. Aber natürlich kann man auch mit unscharfen Begriffen erfolgreich arbeiten. – Gibt es Gesetze in der Biologie? Natürlich gelten die Gesetze von Physik und Chemie auch für Lebewesen (Biophysik): Vögel unterliegen der Schwerkraft (Gravitationsbiologie), und Transportvorgänge in der Zell-Membran (Membrantransport) folgen dem Massenwirkungsgesetz. Es gibt aber auch Regelmäßigkeiten, die nur für belebte Systeme gelten (Leben). Wir sprechen von den Gesetzen der Vererbung nach G. Mendel (Mendelsche Regeln) oder von den Gesetzen der Populationsgenetik nach R.A. Fisher. Viele Aussagen gelten für alle Mitglieder einer taxonomischen Einheit (Taxon): „Hunde haben 4 Beine.“ „Alle Fische atmen durch Kiemen.“ Hier muß man jedoch prüfen, ob die taxonomische Einheit nicht gerade durch das betreffende Merkmal definiert wird. So unterscheidet man Reptilien von Säugetieren danach, ob sie nur 1 Gehörknöchelchen haben (Steigbügel bei Reptilien) oder bereits 3 (Hammer, Amboß und Steigbügel bei Säugern). Dann ist die Aussage „Säuger haben 3 Gehörknöchelchen“ analytisch, also kein Naturgesetz. – Zu vielen Regelmäßigkeiten findet man – gerade in der Biologie – Ausnahmen; man spricht dann lieber von Regeln. Sie sind z.B. benannt nach J.A. Allen (Extremitäten in kälterem Klima kürzer; Allensche Proportionsregel), C. Bergmann (Tiere in kälterem Klima größer; Bergmannsche Regel), L. Dollo (Irreversibilität der Evolution; Dollosche Regel), C.W.L. Gloger (Färbung; Glogersche Regel), R. Hesse (relative Herzgröße; Hessesche Regel). Viele Gesetze der Biologie sind „nur“ statistische Gesetze, etwa das 2. und das 3. Mendelsche Gesetz (Spaltungs- und Rekombinationsgesetz), das Hardy-Weinberg-Gesetz (Allelverteilung in idealen Populationen; Hardy-Weinberg-Regel) oder das Prinzip der natürlichen Auslese (Selektion). – Gründe für die Nicht-Universalität vieler biologischer Gesetze sind die Komplexität und die Individualität der Organismen und die konstitutive Rolle des Zufalls. Je komplexer die Systeme werden, desto schwieriger ist es, homogene Klassen zu bilden. Man hat dann die unangenehme Wahl, entweder natürliche Klassen zu betrachten und Ausnahmen zuzulassen oder künstliche Klassen einzuführen, die nur schwer abzugrenzen sind, aber die Gesetze streng erfüllen. – Neben der Frage, was wir unter Naturgesetzen verstehen (wollen), darf man natürlich auch fragen, warum Naturgesetze gelten. Diese Frage ist äußerst schwierig. Wir charakterisieren die diskutierten Antworten hier nur durch Stichworte: statistische Gründe, anthropisches Prinzip, Apriorismus, evolutive Entstehung. Deduktion und Induktion, Entwicklungsbiologie (Geschichte der), Erklärung, Evolution, Experiment, Grundlagenforschung, Wissenschaftstheorie.
G.V.
Lit.:Ayala, F.J.: The distinctness of biology. In F. Weinert (ed.): Laws of nature. Berlin 1995, 268–285. Goodman, N.: Tatsache, Fiktion, Voraussage. Frankfurt 1975. Ruse, M.: Are there laws in biology? Australasian Journal of Philosophy 48 (1970), 234–246. Schweitzer, B.: Naturgesetze in der Biologie? Philosophia naturalis 37 (2000/2). Vollmer, G.: Was sind und warum gelten Naturgesetze? Philosophia naturalis 37 (2000/2).
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