Lexikon der Biologie: Parasitismus
Parasitismusm [von *parasit- ], Schmarotzertum, Wechselwirkung zweier Organismenarten in einem Parasit-Wirt-System (einer Form der Bisysteme). Parasit (Schmarotzer) und Wirt haben im allgemeinen direkten Körperkontakt (Somatoxenie), der Parasit entzieht dem Wirt Nahrung, schädigt ihn dadurch (Gegensatz zur Karpose), tötet ihn aber nicht (Gegensatz zu Parasitoiden). Er ist kleiner als der Wirt (Gegensatz zum Episitismus) und hat ökologisch im Gegensatz zu allen anderen Organismen eine "doppelte" Umwelt (1. Körper des Wirts; 2. dessen Umwelt). – Der Parasitismus ( vgl. Tab. ) ist phylogenetisch sehr alt; die ältesten Zeugnisse sind Myzostomida auf crinoiden Stachelhäutern (Paläozoikum), die ältesten Zeugnisse für Parasitismus beim Menschen reichen fast 10.000 Jahre zurück (Eier des Madenwurms in Koprolithen aus nordamerikanischen Höhlen). Die Entstehung des Parasitismus vollzog sich auf verschiedenen Wegen (z.B. vom Episitismus, von saproben Substraten [Saprobionten], von harmlosem Leben im Darm). Im Falle saprozoischer Fadenwürmer, die in Käfer einwandern, vollzieht sie sich sozusagen vor den Augen des Beobachters. Es gibt keine größere Tiergruppe ohne parasitäre Feinde, umgekehrt hat praktisch jede große Tiergruppe Parasiten hervorgebracht (Ausnahme z.B. Kopffüßer); Wirbeltiere sind höchstens ektoparasitär (Rundmäuler, Fledermäuse). Manche Tiergruppen (Sporozoa, Saugwürmer, Bandwürmer) enthalten ausschließlich parasitär lebende Arten. Die Bildung des Parasit-Wirt-Systems vollzieht sich oft in vielen aufeinanderfolgenden, sich bedingenden Schritten: Die Partner müssen im allgemeinen räumlich und zeitlich koinzidieren (Koinzidenz). Lokal ist oft das Auffinden des Wirtshabitats nötig. In ihm muß das Wirtsindividuum zufällig oder gezielt geortet werden (Wirtsfindung), Wirt und Parasiten müssen sich "annehmen", d.h. nicht mechanisch oder chemisch abweisen (Wirtsannahme), der Parasit muß Mittel finden, am Wirt angeheftet zu bleiben (Fixation, Anheftungsorgane), in ihn einzudringen (Penetration, Invasion), im oder am Wirt zu überleben, zu wachsen, sich zu vermehren und ihn zu günstigem Zeitpunkt wieder zu verlassen (Evasion). Nicht immer sind alle diese Abläufe nötig, und nicht immer werden sie aktiv vollzogen (z.B. kann aktives Eindringen durch passiv zufällige Aufnahme von Parasiteneiern ersetzt sein). Die Spezifität der Vergesellschaftung bestimmter Parasitenarten mit bestimmten Wirtsarten beruht jedoch immer darauf, daß einer oder mehrere dieser Schritte im sog. Fehlwirt nicht vollzogen werden können. Im Extremfall wird natürlicherweise nur eine Wirtsart parasitiert (monoxen, z.B. HIV), häufiger eine verwandte Gruppe von Wirtsarten (homoxen, z.B. Insekten-Flagellaten), oder es werden systematisch nicht verwandte Wirtsarten befallen (heteroxen, z.B. Mücke und Mensch bei der Malaria). Manche Parasiten entwickeln sich direkt und leben nur in einer Wirtsart (z.B. Hakenwurm des Menschen), andere sind durch regelmäßige Generationswechsel und Wirtswechsel gekennzeichnet (Metagenese beim Bandwurm Echinococcus, Heterogonie beim Zwergfadenwurm Strongyloides [Strongylida]) mit dem Vorteil "doppelter Sicherung" der Fortpflanzung durch verschiedene Vermehrungsarten und größerer Ausbreitungsmöglichkeiten durch Wirtsarten mit verschiedener Lebensweise. Im Endwirt vollzieht sich die geschlechtliche, in Zwischenwirten ausschließlich die ungeschlechtliche Entwicklung, d.h. bei der Malaria ist die Mücke der Endwirt. Die Wechselwirkung beider Partner ist im kleinsten Maßstab auf molekularbiologischer Ebene an der Grenzfläche (interface) zwischen Parasit und Wirt erkennbar. In größerem Maßstab ist sie z.B. aus der Tatsache ersichtlich, daß Wirte ihre Parasiten hormonell beeinflussen können (Kaninchen – Kaninchenfloh [Flöhe]) wie auch umgekehrt (Mikrosporidie Nosema – Käfer Tribolium [Schwarzkäfer];Nosemaseuche). Langfristig hat die Wechselwirkung die auffallende Coevolution zwischen Parasiten- und Wirtsarten bewirkt (parasitophyletische Regeln). Die Schädigung des Wirts ist oft schon cytologisch definierbar; insbesondere im Falle intrazellulären Parasitismus': Bio-Membranen ändern ihre Permeabilität (Membranpermeabilität), im Cytoplasma wird rauhes durch glattes endoplasmatisches Reticulum ersetzt, Cristae von Mitochondrien gehen verloren, der Zellzyklus wird verlangsamt oder beschleunigt, Zellkerne werden pyknotisch (Pyknose), oder die ganze Zelle verändert sich lytisch oder degenerativ. Organe können direkt (durch Einwandern von Parasiten) oder indirekt (durch Entzug von Nährstoffen, toxisch) geschädigt werden. Sind lebenswichtige Organe betroffen (z.B. Herz bei Chagas-Krankheit, Zentralnervensystem bei Schlafkrankheit und Malaria), stirbt der Wirt. Da der Parasit sich mit dem Tod des Wirts die eigene Lebensgrundlage entzieht, wird angenommen, daß der Wirt nur in nicht eingespielten Parasit-Wirt-Systemen getötet wird. Eine ungewöhnliche Parasitierungsfolge bei Gliederfüßern ist die parasitäre Kastration und Intersexualität ( vgl. Abb. 1 ): Befall von Insekten mit Mermithiden oder von Krebsen mit parasitären Rankenfüßern hemmt das Wachstum der Gonaden und ändert die äußeren Geschlechtsmerkmale, vor allem der Männchen, in Richtung auf das andere Geschlecht. Stoffwechselstörungen im Wirt sind vielfältig; der tägliche Zuckerverbrauch afrikanischer Trypanosomidae beträgt z.B. das Doppelte ihres Körpergewichts. Auch das Verhalten des Wirts kann unter Parasiteneinfluß geändert sein (Ethoparasit, Ethoparasitologie) – oft in der Richtung, daß der Parasit leichter zur nächsten Station des Lebenszyklus (nächster Wirt, freies Wasser usw.) gelangt (Beispiel für fremddienliche Zweckmäßigkeit; vgl. Infobox , vgl. Abb. 2 und vgl. Abb. 3 ). – Der Wirtsorganismus hat zahlreiche Möglichkeiten, den Parasiten auch nach dessen Eindringen noch abzuwehren (Abwehr, pflanzliche Abwehr), unspezifisch z.B. durch Phagocyten, Lysozyme, antibakterielle Proteine, zelluläre und humorale Einkapselung, spezifisch (bei Wirbeltieren) durch Immunglobuline und spezifische Immunzellen. Das Vorhandensein von Antikörpern im Blut parasitierter Wirte gibt die Möglichkeit zur Immundiagnostik parasitärer Krankheiten. Parasit-Wirt-Systeme sind wichtige, jedoch komplexe Modelle der immunologischen Forschung. Die praktische Konsequenz der Impfstoffentwicklung (aktive Immunisierung) gegen Parasiten begegnet der Schwierigkeit, daß das Antigenspektrum an ihrer Oberfläche verhältnismäßig kompliziert, stark variabel (Antigenvariation, molekulare Maskierung) und in den verschiedenen Stadien des Entwicklungszyklus unterschiedlich sein kann. Derzeit gibt es nur wenige zuverlässige Impfstoffe gegen tierische Parasiten. Auch der Körper der Parasiten läßt vielfältige Folgen des Zusammenlebens mit dem Wirtstier erkennen. Hierzu gehören morphologisch Anheftungsorgane, mangelnde Ausbildung von Sinnesorganen und Darm, starke Ausbildung der Geschlechtsorgane; physiologische Folgen sind Nahrungsaufnahme durch die Körperoberfläche (aktiver Transport, Endocytose), Vorhandensein spezifischer Abbauenzyme (z.B. für Chitin), Fehlen anderer Abbauenzyme (die der Wirt liefert), weite Verbreitung des anaeroben Kohlenhydratabbaues (Anaerobiose) und ungewöhnliche Stoffwechselwege (u.a. Glyoxylatzyklus). Das Verhalten der Parasiten kann sehr spezialisiert sein (z.B. Bewegung der Sporocyste des Saugwurms Leucochloridium [Abb.] im Schneckenfühler). Das zyklische Auftreten vieler ihrer Lebensäußerungen (z.B. Wanderung von Fadenwürmern ins periphere Blut) ist nicht in allen Fällen befriedigend geklärt. – Die Bedeutung des Parasitismus für den Menschen ( vgl. Abb. 4 ) ist groß. Obschon seine Gefahren in gemäßigten Breiten einigermaßen eingedämmt sind (eventuell durch die globale Erwärmung aber zunehmen; El Niño, Klimaänderungen), nimmt die Zahl parasitär Erkrankter in tropischen Ländern eher zu als ab (Infektionskrankheiten, Medizin [Kleindruck]). Intensive Bemühungen der Weltgesundheitsorganisation gelten der Erforschung und Bekämpfung der 6 wichtigsten Tropen-Parasitosen ("big six"): Lepra, Leishmaniose, Trypanosomiasis, Malaria, Schistosomiasis und Filariasis. Neuerdings aufgenommen wurde die weltweit sich zur Zeit stärker ausbreitende Tuberkulose. Andere Großprojekte beschäftigen sich mit der Bekämpfung der Parasiten von Nutztieren (z.B. Piroplasmosen). Adelphoparasitismus, Antibiose, Brutparasitismus, Embryonalparasitismus, Gregärparasitismus, Helotismus, Hyperparasitismus, interspezifisches Verhalten, Kleptoparasitismus, Multiparasitismus, Mutualismus, Parasitologie, Sozialparasitismus, Symbiose; Parasitismus IParasitismus IIParasitismus III , Parasiten .
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Abb. 1: Parasitäre Intersexualität der Zuckmücke Chironomus nach Befall der Larve durch Mermithiden (Fadenwürmer) der Gattung Limnomermis. Das intersexe Weibchen (♀) hat vorwiegend weibliche und wenige intersexe Merkmale, beim intersexen Männchen (♂) sind Beine und Fühler meist typisch weiblich.
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Abb. 2: Entwicklungszyklus des Acanthocephalen Plagiorhynchus cylindraceus in Rollassel und Star
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Abb. 3: Änderung des Verhaltens bei Acanthocephalen-infizierten Flohkrebsen: Während die nicht infizierten Flohkrebse stark photophob und negativ phototaktisch reagieren und sich deshalb die meiste Zeit am Boden der Gewässer im Dunkeln aufhalten und auch dorthin fliehen, reagieren die mit Polymorphus paradoxus infizierten Gammariden (a) stark photophil und meist positiv phototaktisch; sie streben zur Wasseroberfläche und hängen sich dort an die Wasserpflanzen. Selbst bei Störungen schwimmen sie nicht nach unten, sondern hängen sich manchmal sogar ins Gefieder der Enten, so daß sie beim Putzen des Gefieders gefressen werden. Diese Änderungen treten aber erst auf, wenn die Larve ein auffällig gefärbtes Ruhestadium (Cystacanth) erreicht hat, das für den Endwirt infektiös ist. Werden gleiche Mengen an parasitierten und nicht parasitierten Gammariden zu den Schwimmenten gegeben, so erbeuten diese 19% der nicht infizierten, aber 68% der infizierten Krebse. Die auffällige Färbung der Cystacanth-Stadien spielt bei der Erbeutung durch Schwimmenten keine Rolle. Wird der Flohkrebs von Polymorphus marilis parasitiert (b), bei dem Tauchenten als Endwirt fungieren, so bevorzugen die infizierten Tiere zwar helle Wasserzonen, gehen jedoch nicht an die Wasseroberfläche. Bei Störungen zeigen die Tiere ein normales Fluchtverhalten zum Gewässergrund hin, so daß sie von Schwimmenten und Bisamratten nicht erbeutet werden, wohl aber von Tauchenten. Der Kratzer Corynosoma constrictum, der sich in beiden Entengruppen entwickeln kann, führt bei einer anderen Flohkrebsart ebenfalls zu einer positiven Phototaxie, bei Störungen verhalten sich die infizierten Tiere allerdings nicht einheitlich (c). Ein Teil verbleibt an der Wasseroberfläche, und ein Teil schwimmt tiefer; so werden sie von Schwimm- und Tauchenten erbeutet.
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Abb. 4: Beispiel für eine Schädigung durch Parasiten:
Elephantiasis des rechten Beins; Spätfolge des Befalls mit der Filarie Wuchereria bancrofti
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