Lexikon der Biologie: Poliomyelitis
Poliomyelitisw [von griech. polios = grau, myelos = das Mark], 1) i.w.S. Unterform der Myelitis mit Entzündung der grauen Substanz des Rückenmarks, die von der Leukomyelitis abgegrenzt wird, welche die weiße Substanz betrifft. 2) i.e.S. die Poliomyelitis epidemica, Poliomyelitis anterior acuta, Polio, epidemische Kinderlähmung, spinale Kinderlähmung, Heine-Medin-Krankheit, meist durch das Poliomyelitis-(Typ I-)virus (Poliovirus, Picornaviren) hervorgerufene Infektionskrankheit (Viruskrankheiten) des Zentralnervensystems, meist des Rückenmarks; sporadisch, manchmal epidemisch (besonders im Sommer und Herbst) auftretend; häufig bei Kleinkindern, aber auch bei Erwachsenen; Übertragung durch Tröpfchen- und Schmierinfektion ( vgl. Infobox ). 90–95% aller Infizierten merken gar nichts von der Infektion, etwa 5% durchlaufen die sog. abortive Poliomyelitis („minor illness“), ohne ZNS-Beteiligung als fieberhafter Infekt, eventuell mit Kopfschmerzen und Übelkeit. Nur ca. 1% der Betroffenen erkrankt ernsthaft („major illness“), wobei ein nichtparalytischer oder ein paralytischer Verlauf eintreten kann. Nach einer Inkubationszeit von 7–14 Tagen (bis 35 Tage beobachtet) Beginn mit leichtem Fieber, Schnupfen, Magen-Darm-Beschwerden, Muskelschmerzen und Blasenstörungen (Dauer: 2 Stunden bis 2 Wochen). Nach kurzzeitiger Besserung Übergang in das präparalytische Stadium mit Fieber, Muskelschwäche, Kopfschmerzen. In wenigen Fällen kommt es zum paralytischen Stadium mit schlaffen Lähmungen der Beine, des Zwerchfells und der Intercostalmuskulatur, selten mit Hirnbeteiligung (Polioencephalitis). Die abortive und die nichtparalytische Form heilen folgenlos aus. Bei der paralytischen Form gesunden ca. 50% der Patienten ohne Residualzustände, ca. 25% leiden unter milden und ca. 25% unter schweren permanenten Muskelschwächen bzw. Lähmungen. Bei Lähmung der Atemmuskulatur und Befall des Atemzentrums möglicherweise tödlicher Verlauf, die Letalität der „major illness“ liegt bei ca. 1-4%. Eine mögliche Spätkomplikation der Poliomyelitis ist das sog. Postpoliosyndrom. Nach einer langen Latenz von 20–30 Jahren tritt eine progressive Muskelschwäche auf. Die Symptome reichen von erhöhter allgemeiner Ermüdbarkeit, Muskelschmerzen, -krämpfe und -zuckungen, Muskelschwäche oder Zunahme von bereits bestehenden Restlähmungen (eventuell mit neuerlichen Atrophien) bis hin zu Beeinträchtigungen der Schluck- und Atemmuskulatur. Die Ursache ist bislang ungeklärt. Die einzig wirksame Prophylaxe gegen die Erkrankung ist die Impfung. Die aktive Immunisierung erfolgt durch Einspritzung von Impfstoff aus abgetöteten Polioviren (nach J.E. Salk), früher als Schluckimpfung mit abgeschwächten lebenden Polioviren (nach A.B. Sabin; attenuierte Vakzine). Während es in der Bundesrepublik Deutschland 1960 und 1961 noch mehrere Tausend Fälle von Kinderlähmung gab, wurden von 1991 bis 1998 nur noch 14 Fälle gemeldet, wovon 12 auf die Schluckimpfung selbst zurückzuführen waren. In Amerika gilt die Poliomyelitis bereits als ausgerottet, für Europa hat die WHO in Genf die Polio Mitte 2002 für besiegt erklärt, und auch in Asien und Afrika konnte sie mit nationalen Impfkampagnen wirkungsvoll eingedämmt werden. Diese positive Entwicklung gibt zur Hoffnung Anlaß, daß die Poliomyelitis, ähnlich wie die Pocken, bald weltweit für ausgerottet erklärt werden kann. Allerdings wird davor gewarnt, die Impfmaßnahmen frühzeitig auszusetzen, da in freier Natur Virusstämme nachgewiesen werden konnten, die vermutlich vom Lebendimpfstoff abstammen und über deren Überlebensfähigkeiten und Virulenz gegenüber ungeimpften Personen noch keine ausreichenden Erkenntnisse vorliegen. Enders (J.F.), Medin (K.O.), Robbins (F.C.), Weller (T.H.), Virusinfektion (Abb.).
H.N./U.L./S.Kl.
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