Lexikon der Biologie: Selbstdomestikation
Selbstdomestikationw [Domestikation], Selbstdomestikation des Menschen, Autodomestikation, ein von Eugen Fischer (1914) eingeführter Begriff. Danach ist der Mensch von dem Zeitpunkt an, da er durch Gebrauch von Feuer und Werkzeuggebrauch, durch Sitten und Bräuche eine Zivilisation entwickelte, unter von ihm selbst veränderte Umweltbedingungen geraten, die zum Teil denen entsprechen, die er seinen Haustieren bei der Domestikation schafft (Haustierwerdung). Dementsprechend sollen bestimmte typisch menschliche Eigenschaften Parallelen zu denen seiner Haustiere aufweisen. Als solche Parallelen werden genannt: Erhöhung der Variabilität, Verkürzung der Kieferregion (Kiefer), blaue und graue Augen, Pigmentreduktion der Haut (Menschenrassen), blonde Haare, Lockenbildung, Haarlosigkeit, Bildung eines Fettsteißes (Steatopygie, z.B. bei Khoisaniden und anderen), aber auch Verhaltenseigentümlichkeiten, wie etwa Neugierverhalten (Neugier), verstärkter Sexualtrieb (Sexualverhalten, sexuelle Lust), Abbau von Instinkten. K. Lorenz sieht die typische Eigenschaft des Menschen als „unspezialisiertes Neugierwesen“ als mittelbare Folge der Selbstdomestikation. Ein Teil dieser Eigenschaften wird sowohl bei Haustieren als auch beim Menschen als Folge von Fetalisation gesehen, einem Beibehalten von Jugendmerkmalen (Fetalcharakteren). Damit ist die Beziehung zu der sog. Fetalisationshypothese von Bolk (1926) (Fetalisation) hergestellt. Heute ist gezeigt, daß Fetalisation sowohl bei der Entstehung von Haustiereigenschaften als auch von typisch menschlichen Eigenschaften nur eine geringe Rolle spielte, und entsprechend kritisch wird auch die Vorstellung von der Selbstdomestikation des Menschen gesehen. Von Selbstdomestikation im strengen Sinne kann schon deshalb nicht gesprochen werden, weil der Mensch sich nicht selbst zielstrebig züchterisch domestiziert hat und weil man daher – im Gegensatz zu den Verhältnissen bei den Haustieren – bei ihm nicht von der „Wildform“ vor der Domestikation sprechen kann. Richtig ist jedoch, daß der Mensch durch seine kulturelle Entwicklung (kulturelle Evolution, Kultur) seine Umwelt seinen Bedürfnissen angeglichen hat und damit, ähnlich wie seine Haustiere, in einer künstlich veränderten Umwelt lebt. In diesem Zusammenhang sind jedoch die in der Ethologie verbreiteten Vorstellungen zu revidieren, nach denen die Selbstdomestikation und Kulturentwicklung durch Nachlassen des Selektionsdrucks (Selektion) zu „Fehlanpassungen“ gegenüber der ursprünglichen Lebensweise der Menschen geführt habe. Insbesondere die Annahmen, Selbstdomestikation sei Ursache von „Instinktunsicherheit“ und von „Störungen arteigenen Verhaltens“, so daß es beim Menschen in der Zivilisation zu „Verfallserscheinungen“ kommen müsse (K. Lorenz, 1940), sind daher ohne Grundlage, haben aber in der Eugenik der Nationalsozialisten zur wissenschaftlichen Begründung der Bekämpfung unerwünschten abweichenden Verhaltens herhalten müssen (Rassismus). Die zugrundeliegenden Vorstellungen sind ungeschichtlich, da sie die kulturelle Entwicklung vornehmlich als Verlust der natürlichen Selektion interpretieren. Die weitere Evolution des Menschen hat sich jedoch unter kulturell veränderten Selektionsbedingungen vollzogen und die Menschen daher von ihren Zivilisationen (als den selbst geschaffenen Umwelten) abhängig gemacht.
G.O./U.K.
Lit.:Fischer, E.: Die Rassenmerkmale des Menschen als Domestikationserscheinungen. Z. Morphol. Anthropol., Bd. 18. 1914. Herre, W., Röhrs, M.: Haustiere zoologisch gesehen. Kapitel E. 3. „Selbstdomestikation“, S. 187–192. Stuttgart 1973. Lorenz, K.: Durch Domestikation verursachte Störungen arteigenen Verhaltens. Z.f. angew. Psychol. u. Charakterkunde, Bd. 59, 1940.
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