Lexikon der Biologie: Spielen
Spielen, Spielverhalten, „Verhalten ohne Ernstbezug“, eine schwer eindeutig abgrenzbare Verhaltensform von Tieren (einschließlich des Menschen), die einen anderen Realitätscharakter als das sog. Ernsthandeln (Ernstverhalten) besitzt und der man u.a. entwicklungsfördernde Funktionen (für Fähigkeiten, die erst weit später gebraucht werden) zuschreiben kann. Spielen gehört damit in den Umkreis von Verhaltensweisen wie Erkundungsverhalten und Neugierverhalten (Neugier), ist aber durch mehrere Besonderheiten (s.u.) von diesen getrennt. Unter diesem Aspekt erscheint Spielen als aktiver Informationserwerb mit großer Offenheit gegenüber allen möglichen Sinneseindrücken und Verhaltensweisen. Ob Spielverhalten aber überhaupt eine einheitliche Verhaltensform darstellt, ist umstritten. Auch ob es einen eigenständigen Spieltrieb mit zugehöriger Spiel-Appetenz gibt, selbst wenn Jungtiere ganz offensichtlich aktiv nach Spielgelegenheiten suchen, ist ungeklärt. Neben mangelndem „Ernstbezug“ gehören hohe Verhaltensvariabilität (d.h. eine größere Freiheit im Einsatz von einzelnen Verhaltenselementen), eine gelockerte zeitliche Abfolge von Verhaltensweisen, das Fehlen einer Endhandlung, die leichte Hemmbarkeit durch lebenswichtige Handlungs-Bereitschaft und das vorwiegende, aber nicht ausschließliche Auftreten in der Jugendphase zu den Besonderheiten des Spielverhaltens ( vgl. Abb. 1 ). Bei vielen Höheren Säugern und beim Menschen ist eine normale Verhaltensentwicklung ohne Spielverhalten (mit allen Übergängen zu Erkunden und Neugierde) nicht möglich. Sie füllen eine Phase der Jugendentwicklung weitgehend aus. Beim Menschen ( vgl. Infobox ), aber auch bei anderen Säugern (Menschenaffen, Delphine, Robben), bleibt dieser Verhaltensbereich lebenslang wichtig, wenn auch nicht in dem Maße wie in der Kindheit (Kind, kindliche Entwicklung). Ansonsten verliert sich das Spielen sowie der größte Teil des Neugier- und Erkundungsverhaltens meist beim adulten Tier. – Spielen wandelt Verhaltenselemente ab, und zwar in der Intensität (z.B. Beißhemmung von Hunden, eingezogene Krallen zuschlagender Katzen; vgl. Abb. 2 ), in der zeitlichen Aufeinanderfolge, in der Valenz und Dynamik (Wiederholung; rascher Wechsel von Verfolger und Verfolgtem). In der Wiederholung der Spielhandlung, vor allem dann, wenn das Spielobjekt reagiert, liegt ein funktionaler Sinn des Spielens, die Einübung; ähnliches gilt für die Abwandlung der Spielhandlung. – Spielen kommt vor allem bei „Lerntieren“, d.h. bei Säugetieren und Vögeln vor. Hier sind den Formen des Spielens (s.u.) kaum Grenzen gesetzt. Ob die spielerischen Flüge von Honigbienen (z.B. Landen-Üben, kurze Suchflüge ohne Eintragen usw.), die zum ersten Mal den Stock verlassen und sich dabei auf ihre Tätigkeit als Sammlerinnen (Sammelbiene) vorbereiten, als Spielen im eigentlichen Sinne zu verstehen sind, muß offen bleiben. Bei Wirbellosen, ausgenommen vielleicht einige Hautflügler und Kopffüßer, scheint Spielen selten zu sein oder gar nicht vorzukommen. Auch den Fischen wird Spielen meist abgesprochen. Zum Spielen gehört Spielbereitschaft ohne Endhandlung. Spielen stellt als Tätigkeit seine eigene Endhandlung vor. Die Spielbereitschaft ist anderen, vitalen Bereitschaften nachgeordnet, d.h., das Spielen tritt dann auf, wenn weder Hunger noch Durst noch Flucht- bzw. Verteidigungsbereitschaften aktiv sind. Es füllt so in sehr sinnvoller Weise die nicht unmittelbar benötigten Aktivitätsperioden der Tiere aus, wird aber von chronischen Mangelzuständen, Ängsten (Angst) usw. auch gehemmt. Trotzdem bleibt bemerkenswert, daß es Spielen überhaupt gibt: es ist gefährlicher und energetisch aufwendiger als Nichtstun, und es macht den Spielenden exponierter. Bei Tieren (zum Teil auch nur beim Menschen) lassen sich folgende Arten von Spielen unterscheiden: Funktionsspiele, Fiktionsspiele und Rollenspiele, Regelspiele sowie Konstruktionsspiele. Eine Einteilung des Spielverhaltens kann auch auf der Ebene des Verhaltensursprungs vorgenommen werden. Spielen zerfällt dann in 1) artspezifisches und in 2) individuelles Spielen. Zum artspezifischen Spielen gehören Bewegungsspiele (z.B. bei Huftieren), Kampfspiele (spielerische Aggression; bei Raubtieren) und Fluchtspiele (mit allen Übergängen; z.B. bei Huftieren, „Raufen“ und „Fangenspielen“ beim jungen Menschen), Beutespiele und Nahrungserwerbspiele sowie Fortpflanzungsspiele und Brutpflegespiele. Junge Grasmücken etwa behandeln spielerisch ein Blatt wie Beute. Bei jungen Löwen gilt das Anschleichen und –springen des Spielpartners als vorgestelltes Beutetier als angeboren, denn es tritt bereits vor jeder Möglichkeit zur Beobachtung dieses Verhaltens an Adulttieren auf. Auch Robben besitzen angeborene Spielverhaltensweisen von Landraubtieren. Spielerisches Balzen (Balz) und Nisten (ähnlich das Spiel mit Puppen beim Menschen) sowie Aufreiten (auch von weiblichen Jungtieren) gehört zum Repertoire vieler Vögel und Säugetiere. Das individuelle Spielen gilt als besonders entwickelte Form des Spielverhaltens und kommt bei Vögeln, vor allem aber bei Primaten vor. Es beruht auf individuellem Erfinden und ist ein schöpferisches Verhalten mit Experimentiercharakter (Kreativität). Eine eigene Spielkultur bei Kindern und Erwachsenen mit kulturell sich immer weiter differenzierenden Traditionslinien gibt es wohl nur beim Menschen. Das Spielgesicht von Raubtieren und Primaten ist ein mimisches (Mimik) oder gestisches (Gestik) Signal, das Bereitschaft zum Spielen ausdrücken soll. Es dient der Vermeidung von „Mißverständnissen“ und ist bei Raubtieren möglicherweise aus einer Intentionsbewegung zum Zubeißen hervorgegangen. Dieser zurücktretende „Ernstbezug“ und die hohe Verhaltensvariabilität machen Spielen zu einem schwer greifbaren, geradezu proteischen Verhalten (Täuschungsverhalten). entspanntes Feld, Enuresis, Erfahrung, et-epimeletisches Verhalten, frühontogenetische Anpassung, Humanethologie (Abb.), Kindergarten, Lernen, Necken, Objektspiel, Parallelspiel, Peer, self-handicapping, Solitärspiel, Sozialspiel, Spiel, Spieltheorie, Sucht.
T.S.
Lit.:Hassenstein, B.: Instinkt, Lernen, Spielen, Einsicht. München 1980. Meyer-Holzapfel, M.: Handbuch der Zoologie, Band 8. Berlin 1956. Oerter, R.: Psychologie des Spiels. Weinheim 1997.
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