Lexikon der Biologie: Vervollkommnungsregeln
Vervollkommnungsregeln, Progressionsregeln, anagenetische Reihen, bei der Erforschung der Stammesgeschichte (Phylogenetik) angewendete Regeln, die einen Hinweis darauf geben können, welche der innerhalb einer Verwandtschaftsgruppe (Verwandtschaft) auftretenden Ausbildungen einer Struktur (Organ) als ursprünglich (plesiomorph), welche als abgeleitet (apomorph) betrachtet werden können (Plesiomorphie). Die Vervollkommnungsregeln können so dazu beitragen, in einer morphologischen Abwandlungsreihe die Leserichtung zu bestimmen. Sie sind stets nur auf einzelne Organe bzw. Organsysteme bezogen, nicht auf die gesamte Organisation. Folgende Vervollkommnungsregeln (früher auch – trotz mancher Ausnahmen – als Vervollkommnungsgesetze bezeichnet) lassen sich formulieren: 1. Zahlenreduktionsregel bzw. Fixierungsregel: in ursprünglicher Ausbildung sind vielzählige gleichartige (homonome) Organe in großer und wechselnder Anzahl vorhanden, im abgeleiteten Zustand kommt es zu einer Verringerung (Reduktion) und oft auch zu einer Fixierung (Normierung) der Anzahl (Zufallsfixierung). 2. Differenzierungsregel: vielzählige und gleichartige Organe sind ursprünglich gleich gestaltet (homomorph); im abgeleiteten Zustand erfahren sie, oft im Zusammenhang mit einer Arbeitsteilung, eine Differenzierung zu unterschiedlicher (heteromorpher) Gestaltung. 3. Internationsregel: Organe, die in der ursprünglichen Ausbildung frei an der Oberfläche (z.B. in Grenz-Epithelien) liegen, sind im abgeleiteten Zustand in das (geschützte) Körperinnere versenkt (interniert; Internation). 4. Konzentrationsregel: die getrennte (verstreute) Lage gleichartiger Teile (Organe) stellt den ursprünglichen Zustand dar. Im abgeleiteten Zustand kommt es zu einem Zusammenrücken der Teile (Konzentration, Zentralisation), die bis zu ihrer Verwachsung („Verschmelzung“) führen kann. 5. Synorganisationsregel: Teile eines Organismus, die im ursprünglichen Zustand ohne Beziehung zueinander benachbart liegen, können im abgeleiteten Zustand zu einem funktionellen System (Komplexorgan, Apparat) zusammengefügt (synorganisiert; Synorganisation) werden. – Im Gegensatz zu Anpassungsreihen, die das Ergebnis einer zunehmenden Spezialisierung auf bestimmte (spezielle) Lebensweisen sind (z.B. der Bewegung: Springen, Klettern; oder des Nahrungserwerbs: Strudler, Filtrierer) und selbst innerhalb einer Verwandtschaftsgruppe in verschiedene Richtungen verlaufen (adaptive Radiation), handelt es sich bei den „Vervollkommnungsreihen“ um phylogenetische Abwandlungen, die bei Arten mit unterschiedlicher Lebensweise und aus verschiedenen Verwandtschaftsgruppen in der Regel (!) gleichgerichtet verlaufen, wohl weil sie einen allgemeinen (!) Selektionsvorteil (eine zunehmende Ökonomisierung;Anpassung) bringen. Diese „Vervollkommnung“ wird mißverständlich auch als Höherentwicklung (Anagenese) bezeichnet. Es müssen für sie jedoch keine gerichteten Faktoren, sondern lediglich eine parallele Wirkung der Selektion angenommen werden, die zu Analogien und Konvergenzen führt. Eine Umkehr der in den Vervollkommnungsregeln aufgezeichneten Entwicklungsrichtung ist nur sehr selten zu beobachten (Irreversibilität der Evolution, Dollosche Regel), kommt jedoch vor.
Beispiele:
1. Zahlenreduktion:
Die Anzahl der Schädelknochen (Schädel) der Wirbeltiere ist bei ursprünglichen Gruppen am höchsten und wird in abgeleiteten verringert (Willistonsche Regel): allgemein nimmt sie von den Fischen über die Reptilien zu den Säugetieren stark ab. Bei Blütenpflanzen haben ursprüngliche Gruppen (Magnoliengewächse, Hahnenfußartige) eine hohe und wechselnde Anzahl von Blüten-, Staub- und Fruchtblättern, abgeleitete (z.B. Kreuzblütler, Liliengewächse) eine geringere und fixierte. Ähnliches gilt für die Anzahl der Segmente bei Gliedertieren (z.B. Tausendfüßer zu Insekten, Oligochaeta zu Egeln; Zufallsfixierung).
2. Differenzierung:
Wirbeltiere haben ursprünglich gleichartige Zähne im Gebiß (homodont) – abgeleitet sind differenzierte Zähne (heterodont). Gliedertiere besitzen ursprünglich gleichartige Segmente (homonome Segmentierung; Homonomie) – abgeleitet sind differenzierte (heteronome) Segmentierung und Bildung von Tagmata (z.B. Tausendfüßer zu Insekten; Metamerie). Bei Blütenpflanzen ist die Blütenhülle ursprünglich aus gleichartigen, im abgeleiteten Zustand aus unterschiedlichen Hüllblättern zusammengesetzt (Blüte).
3. Internation:
Ursprünglich ist ein oberflächliches, epitheliales Nervensystem – abgeleitet die Versenkung desselben z.B. durch Neurulation bei den Chordatieren. Lichtsinnesorgane sind ursprünglich flächige Sinnesepithelien – abgeleitet ist die zunehmende Einsenkung zu Becher-, Gruben-, Blasenaugen (z.B. bei Weichtieren; Auge). Samenanlagen bei Nacktsamern sind oberflächlich, bei Bedecktsamern vom Fruchtblatt eingehüllt. Internation.
4. Konzentration:
Zusammenrücken, auch Verschmelzung von ursprünglich getrennten Ganglien zu Komplexen, z.B. Unterschlundganglion bei Insekten, Komplex-Gehirn bei Tintenschnecken. Bei Blütenpflanzen ursprünglich getrennte Blüten- und Fruchtblätter (apokarpes Gynözeum), abgeleitet deren Verwachsung zu sympetalen Blüten (Sympetalie) bzw. zum coenokarpen Gynözeum mit Fruchtknoten (Blüte). Konzentration.
5. Synorganisation:
Bei Insekten die Ausbildung von Stridulationsorganen mit den einander zugeordneten Teilen oder die an Vorder- und Hinterflügel entwickelten Bindevorrichtungen (Insektenflügel). Durch Zusammenwirken mehrerer Segmente entstehen „zusammengesetzte“ Saugnäpfe, z.B. bei Hirudinea.
Es gibt „Ausnahmen“ von den Vervollkommnungsregeln. So sind z.B. entgegen der 1. und 2. Regel bei den Zahnwalen die Zähne im Gebiß sekundär wieder gleichartig (homodont) und über die bei Säugetieren ansonsten anzutreffende Maximalzahl hinaus stark vermehrt. Ebenso ist bei Schlangen im Zusammenhang mit der Reduktion der Extremitäten die Differenzierung der Wirbel in verschiedenen Regionen der Wirbelsäule wieder rückgängig gemacht.
G.O./U.K.
Lit.:Gould, S.J.: Illusion Fortschritt. Frankfurt 1998. Sudhaus, W., Rehfeld, K.: Einführung in die Phylogenetik und Systematik. Stuttgart 1992. Remane, A.: Die Grundlagen des natürlichen Systems der vergleichenden Anatomie und der Phylogenetik. Leipzig 1952.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.