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Lexikon der Ernährung: Alternative Ernährungsformen

Alternative Ernährungsformen

Helmut Oberritter, Frankfurt

Wieso „alternative Ernährungsformen“?

„Alternativ“ – das ist für manche ein abschreckender, ideologisch besetzter Begriff, für andere ist es Teil einer positiven Lebensphilosophie: Alternative Ernährung, Alternativurlaub, alternatives Wohnen, alternative Kleidung – eine Reihe, die sich beliebig fortsetzen ließe.
Das Wort „alternativ“ kommt aus dem Lateinischen und bedeutet: „wechseln, einander ablösen“. Eine „Alternative“ ist die Wahl zwischen zwei oder mehreren Möglichkeiten. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird „alternativ“ häufig auch benutzt im Sinne von „anders“, unter Umständen sogar übersetzt mit „außerhalb der Norm“. Dies kann mitunter auch bedeuten, dass man sich nicht an wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen orientiert.
Gesundheitliche Aspekte spielen bei der Suche nach a. E. eine große Rolle. Angesichts der zahlreichen ernährungsabhängigen Erkrankungen, wie z. B. Diabetes mellitus, Gicht, Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen, sucht der Mensch immer häufiger nach Möglichkeiten, sich gesünder zu verhalten und zu ernähren. Auch die – häufig übertriebene – Angst vor „Chemie in Lebensmitteln“, also vor Rückständen, Verunreinigungen und Zusatzstoffen, ist sehr oft der Grund für die Wahl einer „alternativen Ernährung“. Schließlich ist auch Übergewicht oft ein Anlass, mit unkonventionellen Kostformen abnehmen zu wollen.
Die Vollwert-Ernährung, die Vollwertkost nach Bruker, die Trennkost, Fit for Life (Fit fürs Leben), oder verschiedene Rohkosternährungsformen (Rohkost) stellen insbesondere gesundheitliche Argumente bei ihren Ernährungsvorschlägen in den Vordergrund.
Häufig basieren alternative Ernährungsformen auf religiös-ethischen Überlegungen; sie verstehen sich als Teil einer Weltanschauung. So wird z. B. das Töten von Tieren strikt abgelehnt: „Solange der Mensch Tiere schlachtet, werden die Menschen einander töten“(Pythagoras). Die vegetarischen Kostformen, wie die vegane Ernährung (Veganer), bei der keinerlei tierische Produkte verzehrt werden, die lacto-vegetarische Ernährung (Milch ist erlaubt, Lacto-Vegetarier) und die ovo-lacto-vegetarische Ernährung (Eier und Milch sind erlaubt, Ovo-lacto-Vegetarier) basieren auf derartigen Ansätzen. Auf fernöstlichen Philosophien beruhen die Makrobiotik und die ayurvedische Ernährung, auf die Lehre der Anthroposophie beruft sich die anthroposophische Ernährung.
Daneben spielen bei mehreren alternativen Kostformen ökonomisch-ökologische Gründe eine bedeutende Rolle. In einer Zeit, in der in den Industriestaaten Nahrungsüberfluss herrscht, auf der anderen Seite der Erdkugel dagegen Millionen Menschen verhungern, liegt die Ernährungsalternative vieler Verbraucher vor allem im Verzicht auf Fleisch. Die Erzeugung von Lebensmitteln tierischer Herkunft ist für sie eine Energieverschwendung und wird – mit Blick auf das Welternährungsproblem – als unverantwortlich angesehen und abgelehnt.
Die unterschiedlichsten Motive liegen also dem Wunsch zu Grunde, sich „alternativ“ zu ernähren. Die Wahl einer alternativen Ernährungsform gestaltet sich jedoch für den Verbraucher unter Umständen etwas schwierig, denn das vielfältige Angebot an Ernährungsvorschlägen oder diversen Diäten ist oft verwirrend und zum Teil recht widersprüchlich.
Wie unterscheiden sich alternative Kostformen von wissenschaftlich begründeten Ernährungsformen, wie der vollwertigen Kost der DGE?
Die Frage, ob verarbeitete oder unverarbeitete, ob rohe oder gegarte Lebensmittel verzehrt werden sollten, stellt sich im Rahmen einer vollwertigen Ernährung nicht. Nur die Nutzung der gesamten Lebensmittelpalette bereitet kulinarischen Genuss und gewährleistet eine abwechslungsreiche, vollwertige Ernährung. Aus wissenschaftlicher Sicht ist eine ausgewogene Mischkost aus pflanzlichen und tierischen Produkten empfehlenswert, die aus rohen und gegarten / verarbeiteten Lebensmitteln besteht. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) hat auf dieser Basis unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse ihre Empfehlungen für eine vollwertige Kost ausgesprochen. Im Übrigen besteht bei den internationalen Fachgesellschaften ein eindeutiger Konsens bei den Empfehlungen für eine vollwertige Ernährung, so dass die vollwertige Kost der DGE als Maßstab zur Beurteilung alternativer Kostformen herangezogen werden kann.
Alternative Kostformen unterscheiden sich von einer solchen vollwertigen Kost vor allem in fünf Punkten:

1. Freie Fahrt für „Rohkost“

Kennzeichen vieler alternativer Kostformen ist die Betonung des Verzehrs von Rohkost. Ein bedeutsamer Anteil an rohem Gemüse oder Obst in der Ernährung ist ernährungsphysiologisch sehr zu begrüßen. Wird der Konsum von Rohkost jedoch zum alleinigen Prinzip, kommt also nur noch Rohkost auf den Teller, schränkt das nicht nur die kulinarischen Möglichkeiten ein – auch gesundheitliche Probleme können die Folge sein. Gegarte Lebensmittel erweitern nämlich ganz entscheidend unseren Speiseplan und damit die Möglichkeiten, sich bedarfsgerecht zu ernähren.
Wie Rohkost-Studien gezeigt haben, ist die Gefahr einer Nährstoffunterversorgung beim ausschließlichen Genuss der sehr beschränkten Lebensmittelauswahl von Röhköstlern sehr groß. Die Gießener Rohkoststudie hat gezeigt, dass Untergewicht bei Rohköstlern stärker verbreitet ist als im Durchschnitt der Bevölkerung. Bei Frauen mit fast reiner Rohkosternährung trat die Regelblutung seltener auf oder blieb ganz aus. Es wird durchschnittlich zu wenig getrunken, auf Grund der Risiken einer Mangelernährung ist die ausschließliche Rohkosternährung als Dauerernährungsform problematisch.
Die Auswertung hunderter epidemiologischer Studien weist eindeutig darauf hin, dass der hohe Verzehr von Obst und Gemüse entscheidend für die Krebsprävention sein kann. Dabei zeigen insbesondere frische (rohe) Gemüse und Salate eine protektive Wirkung. Auch für die Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen gibt es entsprechende Zusammenhänge. Daraus kann zwar auf die Bedeutung von Obst und Gemüse und deren teilweisen rohen Verzehr geschlossen werden – aber nicht darauf, dass nur Rohkost wichtig für die Ernährung wäre. Auch alle anderen Lebensmittelgruppen sowie gegarte und verarbeitete Lebensmittel sind für eine bedarfsgerechte, gesundheitsfördernde Ernährung wichtig, liefern essenzielle Nährstoffe und gesundheitsfördernde Inhaltsstoffe.
Heute wissen wir auch, dass z. B. Carotinoide, wie β-Carotin aus verarbeiteten und gegarten Möhren und Lycopin aus gegarten Tomaten oder Verarbeitungsprodukten wesentlich besser resorbiert werden, als aus den rohen Produkten. Dies spielt eine durchaus bedeutende Rolle in der Prävention von Erkrankungen, wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Krankheiten. Auch verschiedene andere sekundäre Pflanzenstoffe sind thermostabil, werden also durch Erhitzen nicht zerstört oder inaktiviert. Insofern können auch gegarte Lebensmittel einen nennenswerten Beitrag zur Versorgung mit diesen Stoffen beitragen.
Lebensmittelallergien werden zu einem großen Teil durch naturbelassene Lebensmittel, deren natürliche Inhaltsstoffe und vereinzelt durch deren Stoffwechselmetabolite ausgelöst. Allergische Symptome, die beim Genuss roher Ware, wie etwa bei Nüssen, z. T. sehr bedrohlich sein und im Extremfall einen anaphylaktischen Schock auslösen können, treten bei Genuss entsprechend gegarter Lebensmittel häufig gar nicht oder nur abgeschwächt auf. Das Allergen – in der Regel eine Eiweißstruktur – wird in diesem Fall durch Erhitzen denaturiert und damit so verändert, dass es seine allergene Wirkung ganz oder teilweise verliert. Die Zunahme klinisch relevanter Getreideallergien ist bei Gras- und Getreidepollenallergikern wahrscheinlich auf den vermehrten Verzehr von Rohgetreide (Frischkornmüsli) zurückzuführen.
Ein wichtiger Aspekt darf nicht unerwähnt bleiben: Garen beschert mehr Genuss! Wir können dadurch insbesondere eine größere kulinarische Vielfalt an Speisen genießen. Aber auch die Bildung von Geschmacksstoffen, Farbstoffen und Röststoffen, die Erhöhung von Zartheit und Saftigkeit und die Verbesserung der Konsistenz tragen entscheidend dazu bei, dass es uns schmeckt.

2. Ablehnung der Lebensmittelverarbeitung

In vielen „alternativen“ Kostformen werden verarbeitete Lebensmittel abgelehnt bzw. gegenüber unverarbeiteten Lebensmitteln abgewertet. Hier wird der einfache Rückschluss gezogen, dass Lebensmittel, die aus der Natur unverändert auf unsere Teller gelangen, besser seien als die Produkte, die von Menschenhand und Lebensmitteltechnologie verändert werden. Neben scheinbaren gesundheitlichen Argumenten kann auch die Ablehnung der Lebensmittelverarbeitung zu extremen Ernährungsformen, wie der schon dargestellten Rohkost-Ernährung, führen. Aber auch bei gemäßigten alternativen Ernährungsformen spielt die Ablehnung der Lebensmittelverarbeitung eine bedeutsame Rolle.
Insbesondere kritisiert wird die industrielle Lebensmittelverarbeitung. Durch verarbeitungsbedingte Verluste an Nährstoffen und anderen Inhaltsstoffen werden verarbeitete Produkte als minderwertig angesehen. Auch die Verwendung von Zusatzstoffen wird als Problem dargestellt.
Die Verarbeitung von Lebensmitteln hatte für die Menschheit jedoch schon in der Frühgeschichte Bedeutung. Es gibt zahlreiche Belege, dass schon der Peking-Mensch vor 400 000 Jahren das Feuer nutzte, um Nahrung zu erhitzen. Feuer hatte nicht ausschließlich die Funktion, Wärme zu spenden oder unerwünschte Raubtiere zu vertreiben. Es wurde auch zum Garen benötigt. Ob direkt in der Flamme, über der Glut, in heißer Asche oder mit heißen Steinen in wassergefüllten Lederbeuteln oder ausgehöhlten Steinen gegart – die Erhitzung von Lebensmitteln hat die Ernährungssituation verbessert. Das Ersetzen eines Teils der Rohfleisch- und Gemüsenahrung durch erhitzte und gekochte Nahrung hat die Funktionen von Kauen, Verdauung und Nahrungsverwertung geändert. Das Aufbrechen und Aufschließen tierischer und pflanzlicher Fasern und Strukturen half, Nährstoffe freizusetzen und besser zu verwerten. Manch zähe, unverdauliche Kost gewann durch den Garprozess eine weichere Konsistenz und wurde für Schwächere und Ältere leichter genießbar.
Industriell oder im Haushalt verarbeitete Lebensmittel sind nicht – wie von manchen Vertretern alternativer Kostformen behauptet – zwangsläufig ernährungsphysiologisch ungünstig. Trotz des hohen Verarbeitungsgrades können z. B. Pflanzenmargarine, H-Milch(produkte), Milchprodukte (mit Zutaten), Käse (mit Zusatzstoffen), „Sojamilch“, Tofu oder Hülsenfrüchte aus Dosen einen Beitrag zur vollwertigen Ernährung leisten.
So genannte „funktionelle“, aber auch diätetische Lebensmittel werden für besondere ernährungsphysiologische Erfordernisse maßgeschneidert. Probiotika, Präbiotika oder die Anreicherung mit Ballaststoffen sind einige Beispiele aus diesem Bereich. Produkte mit Süßstoff erweitern die Auswahlmöglichkeiten und die Lebensmittelverfügbarkeit für Diabetiker.
Lebensmittelverarbeitung bringt beispielsweise einige weitere Vorteile: Der verarbeitungsbedingte Abbau von Phytin erleichtert die Resorption essenzieller Nährstoffe; Kartoffelstärke wird erst durch Erhitzen verwertbar.
Verarbeitungs- und Garprozesse sind auch aus toxikologischer Sicht bedeutsam. Durch Erhitzungs- und Verarbeitungsschritte bei Lebensmitteln erfolgt eine Entfernung, Zerstörung oder Vermeidung unerwünschter oder schädlicher Stoffe. Sie tragen zur Entfernung, Auslaugung oder zum Abbau, unerwünschter oder toxischer Stoffe (Lectine bei Bohnen, Nitrat aus Spinat, Mycotoxine durch Raffination von Ölen) oder zur Inaktivierung von Enzyminhibitoren (Trypsininhibitoren in Sojabohnen) bei. Eine Verminderung von Schadstoffen, Rückständen und Verunreinigungen erfolgt durch Auswaschen. Weiterhin kann durch Gar- und Konservierungsprozesse Schädlingsbefall und damit ein Verderb von Lebensmitteln, vermieden werden.
Zweck der Behandlungsverfahren in der Lebensmittelverarbeitung ist es weiterhin, Lebensmittel hygienisch sicher in einen genussfähigen Zustand zu überführen. Durch Lebensmittelverarbeitung kann man Hygienerisiken reduzieren oder ausschalten. In Deutschland, aber auch in anderen Ländern nehmen jedoch Lebensmittelinfektionen zu. Nach Ansicht der WHO gilt die Änderung der Ernährungsgewohnheiten als einer der wichtigsten Faktoren für den Anstieg von Lebensmittelinfektionen. Naturbelassene, unbehandelte, roh verzehrte Lebensmittel gelten – nicht zuletzt durch die Argumente der Vetreter verschiedener alternativer Ernährungsformen – als gesundheitsfördernd. Allerdings wird häufig auf einfachste Hygienemaßnahmen verzichtet. Der Wunsch nach einem breiten Angebot umfasst auch Waren aus Ländern, deren Hygienevorschriften weit hinter denen europäischer Länder zurückbleiben.
Ein besonders gefährliches Beispiel für Lebensmittelinfektionen sind Erkrankungen durch die stark pathogenen enterohämorrhagischen Escherichia coli (EHEC), einer Untergruppe der weit verbreiteten E. coli. EHEC werden für die Ausbildung des hämolytisch-urämischen Syndroms (HUS) verantwortlich gemacht, das zu schweren chronischen Nierenschädigungen führen kann. Vor allem bei Kindern kann es durch akutes Nierenversagen zu lebensbedrohlichen Komplikationen kommen. Hauptinfektionsquellen mit EHEC sind rohe Milch und nicht durchgegartes Rinderhackfleisch.
Auch für Schwangere gibt es Hygienerisiken. Listeriose kann durch den Konsum von Rohmilch, Rohmilchkäse oder rohem Fleisch übertragen werden und das ungeborene Kind schädigen. Auch die Toxoplasmose-Parasiten können durch Rohwurst oder ungenügend gegartes Fleisch übertragen werden (Toxoplasmose).
Diese Ausführungen zeigen, dass verarbeitete Lebensmittel nicht grundsätzlich abgelehnt werden müssen. Neben einem bedeutsamen Anteil von rohem Gemüse und Obst und neben den aus frischen Lebensmitteln schonend gegarten Speisen können auch ausgewählte industriell verarbeitete Lebensmittel zu einer vollwertigen Ernährung beitragen.

3. Bevorzugung von Produkten aus kontrolliert- ökologischer Landwirtschaft

Die Bevorzugung von Produkten aus kontrolliert-ökologischer Landwirtschaft ist wesentlicher Bestandteil vieler alternativer Kostformen. Die Diskussion um die Qualitätsunterschiede zwischen Erzeugnissen aus kontrolliert-biologischem (kontrolliert-ökologischem) und „konventionellem“ Anbau dreht sich immer wieder um die Frage nach dem ernährungsphysiologischen Wert und den Rückständen bzw. Verunreinigungen.
Der Nährstoffgehalt einer Pflanze wird beeinflusst durch Faktoren wie Sorte, Standort, Bodenbeschaffenheit, Zeitpunkt der Ernte, Transport und Lagerung. Bisher vorliegende Untersuchungen zeigen bei gleicher Behandlung ab Ernte im ernährungsphysiologischen Wert, also im Gehalt an Vitaminen und Mineralstoffen, keine gravierenden, anbaubedingten Unterschiede. Der häufig kürzere Weg zum Verbraucher verschafft manchen Erzeugnissen aus dem alternativen Landbau einen Vorteil beim Geschmack.
Schadstofffreie Lebensmittel gibt es nicht. Auch im ökologischen Landbau können pflanzliche Erzeugnisse nicht vor Verunreinigungen aus Luft und Wasser geschützt werden. Pflanzliche Lebensmittel aus dem ökologischen Landbau enthalten allerdings produktionsbedingt keine Rückstände von zugelassenen Pflanzenschutzmitteln oder mineralischen Stickstoffdüngern. Allerdings sind bei sachgemäßer Anwendung, etwa beim integrierten Pflanzenschutz (Einhaltung der vorgeschriebenen Menge und Wartezeit bis zur Ernte), von chemischen Pflanzenschutz- und Düngemitteln auch in „konventionell“ angebauten Erzeugnissen keine Rückstände oder höchstens unbedenkliche Mengen zu finden. Heute kommen in Deutschland nur noch solche Stoffe zum Einsatz, die leicht abbaubar sind. Höchstmengenüberschreitungen sind generell selten und kommen vielleicht noch am ehesten in Importware vor.
Grundsätzlich ist der ökologische Landbau zu begrüßen. Er trägt zu einem geringen Schadstoffgehalt von Lebensmitteln bei – unbestritten ist auch der positive Einfluss ökologischer Landbaumethoden auf die Umwelt, sprich Boden und Gewässer, auf die artgerechte Tierhaltung sowie die Erhaltung kleinbäuerlicher Strukturen und direkter Vertriebswege. Aus gesundheitlichen Gründen besteht keine Notwendigkeit, nur Lebensmittel aus dem ökologischen Landbau zu verzehren. Jeder Einzelne muss selbst entscheiden, ob und aus welchen Gründen er „alternative“ Lebensmittel kaufen und verzehren möchte. Berücksichtigen sollte er jedoch bei seinem Kauf, dass „alternativ“ erzeugte Lebensmittel in der Regel teurer sind.

4. Unwissenschaftliche Aussagen

Ein Problem bei bestimmten alternativen Kostformen ist, dass häufig wissenschaftliche Erkenntnisse unberücksichtigt bleiben. Viele Äußerungen sind daher unhaltbar, manche gesundheitsgefährdend. Vor allem der häufig vertretene Anspruch, Krankheiten vermeiden oder gar heilen zu können, ist falsch und besonders gefährlich. Beispielhaft ist hier dargestellt, mit welchen z. T. unsinnigen Aussagen die Verbraucher konfrontiert werden:
Wandmaker, ein Vertreter der Rohkost-Ernährung, lehnt Milch unter anderem ab, weil der Mensch ab dem dritten Lebensjahr nicht mehr über die notwendigen Verdauungsenzyme verfüge. Das stimmt so nicht. Milchunverträglichkeit auf Grund eines Enzymmangels ist ein individuelles Problem. Milch ist die beste Quelle für gut verwertbares Calcium und gerade bei einer fleischfreien Kost wichtig für die Eiweißversorgung.
Die Behauptung, das Erhitzen der Lebensmittel zerstöre alle Nährstoffe und mache sie unbrauchbar für den Körper, ist wissenschaftlich nicht nachvollziehbar.
Bestimmte, in der Vollwertkost nach Dr. Bruker erhobene Behauptungen, wie beispielsweise „Arteriosklerose ist kein Cholesterinproblem“, „Arteriosklerose ist kein Fettproblem“, sondern vielmehr „Arteriosklerose ist die Folge denaturierter Zivilisationskost“, sind wissenschaftlich nicht haltbar.
Die in der Trennkost oder bei „Fit for Life“ propagierte Trennung von eiweiß- und kohlenhydratreichen Lebensmitteln in einer Mahlzeit ist nicht begründbar und nicht erforderlich. Eiweiß- und kohlenhydratreiche Lebensmittel können, entgegen der Auffassung so mancher Vertreter von Trennkost-Formen, gleichzeitig verdaut werden und bilden keine „giftigen Schlacken“. Die Behauptung von Diamond, Fleisch und Milch behinderten wegen der Bildung giftiger Schlacken und Säuren und der Verschwendung von Energie eine schnelle, erfolgreiche Gewichtsabnahme, ist absurd und durch nichts belegt. Diamond behauptet weiterhin, Aminosäuren (in Fleisch und Milch) und Calcium (in Milch) würden durch Erhitzen so geschädigt, dass sie nicht mehr verwendbar seien. Das stimmt nicht. Schonende Erhitzung beeinträchtigt nicht den Gehalt und die Verwertbarkeit der Aminosäuren und des Calciums in den Lebensmitteln.
Nicht nachvollziehbare Aussagen gibt es auch in der Makrobiotik. Die Ernährungsvorschläge von Oshawa, so wenig wie möglich zu trinken, oder schimmlige Lebensmittel zu essen, sind genauso falsch und gefährlich, wie Aussagen, dass hohe Salzmengen ungefährlich seien, dass der Körper chemische Elemente ineinander überführen (Transmutation) oder Vitamin C selbst herstellen könne.

5. Bedarfsdeckung ist problematisch

Bestimmte a. E. sind nicht bedarfsgerecht. So benötigen Veganer ein gutes, umfangreiches Ernährungswissen, um ihre Kost so zusammenzustellen, dass sie nicht zu Mangelerscheinungen führt. Kritisch kann zum Beispiel die Versorgung mit Eiweiß, Vitamin B12, Calcium, Eisen und Jod werden. Risikogruppen wie Säuglinge, Kinder, Schwangere, Stillende, ältere Menschen und Kranke sollten keine vegane Ernährung umsetzen.
Bei Veganern oder strengen Rohköstlern kann die Vitamin-B12-Aufnahme zu niedrig sein. Bei voll gestillten Säuglingen und Kleinkindern veganischer Mütter wurden unter entsprechenden Mangelbedingungen schwere neurologische Störungen, wie Apathie, schwere Retardierung, Entwicklungsstörung und makrocytäre Anämie beobachtet. Durch Vitamin B12-Supplementation kam es zu einer raschen Normalisierung. Jedoch wurden längerfristig bleibende Beeinträchtigungen der kognitiven Entwicklung beobachtet. Bei strengen Rohköstlern besteht ebenfalls diese Gefahr.
Die Rohkost nach Wandmaker ist darüber hinaus extrem einseitig und kann zu schwerem Nährstoffmangel und Gesundheitsstörungen führen. Besonders gefährdet sind Risikogruppen wie Säuglinge, Kinder, Schwangere, Stillende, ältere Menschen und Kranke. Da Wandmaker Fett für unnötig hält, werden fettlösliche Vitamine und ungesättigte Fettsäuren unzureichend zugeführt. Wandmakers Kost ist sehr kalorienarm und kann deshalb bei Personen mit erhöhtem Energiebedarf (z. B. Jugendliche, Schwerarbeiter, Leistungssportler) auch zu einer kalorischen Unterversorgung führen.
Auch eine Kost gemäß „Fit for Life“, die sich vorwiegend aus Obst, Gemüse und Salat zusammensetzt, kann nicht vollwertig sein. Hier kommen vor allem Getreide und Milchprodukte zu kurz.
Spezielle Ernährungsratschläge, z. B. der Makrobiotik nach Oshawa oder der Schnitzer-Intensivkost, können zu einer einseitigen Lebensmittelauswahl führen, bei der die Versorgung mit allen essenziellen Nährstoffen oder die richtige Balance bei den Hauptnährstoffen nicht gewährleistet ist. Bei makrobiotisch ernährten Kindern bis zum Alter von 10 Jahren wurden Wachstumshemmungen beobachtet, die von einem Alter ab 6 Monaten aufwärts feststellbar waren.

Positive Ansätze „alternativer“ Kostformen

Viele alternative Kostformen versprechen Gesundheit und optimale Leistungsfähigkeit. Leider entsprechen aber nicht alle „alternativen“ Ernährungsvorschläge den neuesten ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen. Bei vielen dieser Ernährungsformen ist deshalb eine vollwertige Ernährung nicht gesichert. Trotz möglicher, unzureichender Nährstoffzufuhr und kritisch zu beurteilender Auswüchse bei manchen Kostformen gibt es jedoch bei alternativen Kostformen auch viele positive Ansätze.
Folgende Empfehlungen haben z. B. sowohl wissenschaftlich fundierte Ernährungsempfehlungen, wie die der DGE, als auch einige „alternative“ Ernährungsformen gemeinsam:

Reichlicher Verzehr von Getreide bzw. Getreideerzeugnissen, bevorzugt aus Vollkorn (z. B. Vollkornbrot, -reis, -nudeln, -haferflocken)Reichlich Gemüse und Obst (zu einem großen Teil roh)Fleisch und Fleischwaren in MaßenWenig Salz, Zucker und Alkohol

Klammert man extreme, nicht wissenschaftlich fundierte und irreführende Aussagen aus, können sicherlich auch einige alternative Kostformen ein Weg zu einer bedarfsgerechten Ernährung sein. Die Vollwert-Ernährung nach Leitzmann stimmt inzwischen in vielen Punkten mit den Ernährungsempfehlungen der DGE überein. Auch lacto- und ovo-lacto-vegetabile Kostformen und daran angelehnte Ernährungskonzepte können bedarfsgerecht ausgestaltet werden. Verschiedene Vegetarierstudien belegen, dass diese vegetarischen Ernährungsformen, kombiniert mit einem auch in anderen Bereichen meist gesundheitsbewussten Lebensstil der Vegetarier, ein Weg zu einer besseren Gesundheit sein können.
Die Umsetzung alternativer Kostformen, bei denen eine bedarfsgerechte Ernährung gewährleistet ist, kann man durchaus mit einer Portion Sympathie allen Menschen zugestehen, die damit ihren eigenen „alternativen“ Weg gehen und es damit vielleicht schaffen, sich wirklich besser zu ernähren, als der Durchschnitt der Bevölkerung in den Industrienationen.

Zusammenfassung

In einer abschließenden Bewertung lässt sich festhalten, dass einige alternative Kostformen, wie lacto- und ovo-lacto-vegetarische Ernährungsformen oder die Vollwert-Ernährung, für eine vollwertige Ernährung geeignet sind. Leider entsprechen aber nicht alle „alternativen“ Kostformen den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Bei vielen dieser Kostformen, wie der veganen Kost oder bestimmten Makrobiotik- oder Rohkost-Varianten sind unhaltbare Gesundheitsversprechen mit Ernährungsregeln verwoben, die zu einer unzureichenden Nährstoffzufuhr führen können.

  • Die Autoren

Albus, Christian, Dr., Köln
Alexy, Ute, Dr., Witten
Anastassiades, Alkistis, Ravensburg
Biesalski, Hans Konrad, Prof. Dr., Stuttgart-Hohenheim
Brombach, Christine, Dr., Gießen
Bub, Achim, Dr., Karlsruhe
Daniel, Hannelore, Prof. Dr., Weihenstephan
Dorn, Prof. Dr., Jena
Empen, Klaus, Dr., München
Falkenburg, Patricia, Dr., Pulheim
Finkewirth-Zoller, Uta, Kerpen-Buir
Fresemann, Anne Georga, Dr., Biebertal-Frankenbach
Frenz, Renate, Ratingen
Gehrmann-Gödde, Susanne, Bonn
Geiss, Christian, Dr., München
Glei, Michael, Dr., Jena (auch BA)
Greiner, Ralf, Dr., Karlsruhe
Heine, Willi, Prof. Dr., Rostock
Hiller, Karl, Prof. Dr., Berlin (BA)
Jäger, Lothar, Prof. Dr., Jena
Just, Margit, Wolfenbüttel
Kersting, Mathilde, Dr., Dortmund
Kirchner, Vanessa, Reiskirchen
Kluthe, Bertil, Dr., Bad Rippoldsau
Kohlenberg-Müller, Kathrin, Prof. Dr., Fulda
Kohnhorst, Marie-Luise, Bonn
Köpp, Werner, Dr., Berlin
Krück, Elke, Gießen
Kulzer, Bernd, Bad Mergentheim
Küpper, Claudia, Dr., Köln
Laubach, Ester, Dr., München
Lehmkühler, Stephanie, Gießen
Leitzmann, Claus, Prof. Dr., Gießen
Leonhäuser, Ingrid-Ute, Prof. Dr., Gießen
Lück, Erich, Dr., Bad Soden am Taunus
Lutz, Thomas A., Dr., Zürich
Maid-Kohnert, Udo, Dr., Pohlheim
Maier, Hans Gerhard, Prof. Dr., Braunschweig
Matheis, Günter, Dr., Holzminden (auch BA)
Moch, Klaus-Jürgen, Dr., Gießen
Neuß, Britta, Erftstadt
Niedenthal, Renate, Hannover
Noack, Rudolf, Prof. Dr., Potsdam-Rehbrücke
Oberritter, Helmut, Dr., Bonn
Öhrig, Edith, Dr., München
Otto, Carsten, Dr., München
Parhofer, K., Dr., München
Petutschnig, Karl, Oberhaching
Pfau, Cornelie, Dr., Karlsruhe
Pfitzner, Inka, Stuttgart-Hohenheim
Pool-Zobel, Beatrice, Prof. Dr., Jena
Raatz, Ulrich, Prof. Dr., Düsseldorf
Rauh, Michael, Bad Rippoldsau
Rebscher, Kerstin, Karlsruhe
Roser, Silvia, Karlsruhe
Schek, Alexandra, Dr., Gießen
Schemann, Michael, Prof. Dr., Hannover (auch BA)
Schiele, Karin, Dr., Heilbronn
Schmid, Almut, Dr., Paderborn
Schmidt, Sabine, Dr., Gießen
Scholz, Vera, Dr., Langenfeld
Schorr-Neufing, Ulrike, Dr., Berlin
Schwandt, Peter, Prof. Dr., München
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Stangl, Gabriele, Dr. Dr., Weihenstephan
Stehle, Peter, Prof. Dr., Bonn
Stein, Jürgen, Prof. Dr. Dr., Frankfurt
Steinmüller, Rolf, Dr., Biebertal
Stremmel, Helga, Bad Rippoldsau
Ulbricht, Gottfried, Dr., Potsdam-Rehbrücke
Vieths, Stephan, Dr., Langen
Wächtershäuser, Astrid, Frankfurt
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Zunft, Hans-Joachim F., Prof. Dr., Potsdam-Rehbrücke

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