Lexikon der Ernährung: Armut
Armut, Epoverty. Definition: Über A. wird innerhalb der Armutsforschung kontrovers diskutiert. In vielen Untersuchungen wird meist zwischen einer „relativen“ und „absoluten“ A. unterschieden. In Deutschland gibt es keine offizielle Armutsgrenze, ersatzweise wird die Sozialhilfebedürftigkeit zu Grunde gelegt. Heute hat nahezu jeder fünfte Bundesbürger ein Einkommen unter 60 % des Durchschnittseinkommens (Haushaltseinkommen). Kinder und Jugendliche sind besonders von A. und Niedrigeinkommen betroffen: Jedes fünfte Kind in Ost- und Westdeutschland, nahezu jeder dritte Haushalt mit drei und mehr Kindern in Westdeutschland und 46 % der Haushalte in Ostdeutschland sind arm. Eine besondere Bedeutung für die Ernährungssituation und Gesundheit hat die A. in den Entwicklungsländern (Welternährungslage).
Gesunde Ernährung, die bekömmlich, zuträglich und bezahlbar ist, gehört mit zu den Menschenrechten auf körperliche Unversehrtheit und Sicherheit. Dieses Grundrecht, ein Leben in Würde zu führen, ist dennoch nicht für alle in unserer Gesellschaft gegeben. Repräsentative Erhebungen, die speziell die Auswirkungen von A. auf den Gesundheitsstatus untersuchen, gibt es in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern nicht. Die in den letzten Jahren durchgeführten Studien zu Ernährungsgewohnheiten und Ernährungsstatus (Ernährungsbericht, Ernährungssituation der deutschen Bevölkerung) ließen Menschen in Armutssituationen unberücksichtigt.
Ernährungssituation armer Haushalte: Gemessen an den Referenzwerten der DGE werden in Haushalten mit Niedrigeinkommen zu wenig Obst, Gemüse, Milch und Milchprodukte verzehrt, die Kost ist zu fettreich, meist auf Grund eines erhöhten Verzehrs an billigeren Fleisch- und Wurstsorten, häufigerem Verzehr von Fertig- und Konservengerichten.
Ernährungsarmut: Eine materielle und immaterielle Ernährungsarmut liegt bei Personen aus Haushalten mit Niedrigeinkommen in dreifacher Hinsicht vor:
1) Es besteht ein quantitativer Mangel: Die Lebensmittelverfügbarkeit privater Haushalte ist an Ressourcen (Geldmittel) gebunden. Sind diese knapp bzw. fehlen, können keine Lebensmittel beschafft werden. Materielle Ernährungsarmut zeichnet sich durch eine unausgewogene Zufuhr an Nährstoffen aus: zu wenig Kohlenhydrate und Vitamine einerseits, zu fettreich andererseits.
2) Es besteht ein quantitativer und qualitativer Mangel: Die Nahrungszubereitung innerhalb von Familien ist an Fertigkeiten, Fähigkeiten und Wissen gebunden. Arme Haushalte verfügen häufig nicht über adäquate Kenntnisse bei der Auswahl, Zubereitung und Bevorratung von Lebensmitteln.
3) Sozialer Mangel: Die engen finanziellen Grenzen lassen armen Familien oft kaum den Spielraum, Gäste bzw. Freunde zu Mahlzeiten einzuladen oder Restaurants zu besuchen. Folglich können wesentliche Aspekte von Essen und Trinken (Teilhabe, Zugehörigkeit, Kommunikation, Geselligkeit, Lust, Genuss etc.) nicht oder nur teilweise realisiert werden. Psychische Belastungen gekoppelt mit einer unzureichenden Zufuhr an hochwertigen Lebensmitteln sind bei von Armut betroffenen Kindern die Folge.
Auswirkungen auf die Ernährungssituation: Armut im Kindes- und Jugendalter wirkt sich nachhaltig auf den gesamten Gesundheitszustand aus. Kinder aus sozial schwachen Familien können Fehlernährung bzw. Mangelernährung weder selbst kompensieren noch verändern. Es ist folglich anzunehmen, dass ein schon vorhandener schlechterer Gesundheitszustand zusätzlich durch mangelnde Ernährung verschärft wird. [E. Feichtinger, 1995, Armut und Ernährung im Wohlstand: Topographie eines Problems. In: Ernährung in der Armut. E. Barlösius et al. (Hrsg.) Berlin: WZB; W. Kübler et al. (Hrsg.): VERA-Schriftenreihe, Band I-XIV. Niederkleen: Wissenschaftlicher Fachverlag Dr. Fleck (1991–1995); S. Lehmkühler, I.-U. Leonhäuser, 1998, Untersuchung des Ernährungsverhaltens von ausgewählten Familien mit vermindertem Einkommen in der Stadt Gießen, Magistrat der Stadt Gießen (Hrsg.); Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit (Hrsg.), 1998, Privathaushalte mit Niedrigeinkommen, Band 100, Baden-Baden, Nomos Verlagsgesellschaft; Statistisches Bundesamt (1999), Armutsmaße für die Bundesrepublik Deutschland. In: Wirtschaft und Statistik6:479–492]
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.