Lexikon der Ernährung: Ernährungswissenschaft
Ernährungswissenschaft, Ernährungslehre, Trophologie, Enutritional science, eigenständige, überwiegend angewandte Wissenschaft, die sich mit den für den einzelnen Menschen oder für Gesellschaften relevanten Fragen der Ernährung befasst.
Historische Entwicklung: Erste Ansätze gehen auf Hippokrates (460–377 v. Chr.) zurück, der die Ernährung im Rahmen einer ganzheitlichen gesunden Lebensführung in den Mittelpunkt der Krankheitsbehandlung rückte. Paracelsus (1493–1541) befasste sich mit der Verwertung von Nahrung im menschlichen Organismus. Weitere wichtige Personen in der Geschichte der E. sind u. a. Sancrosius (1561–1636), der erste Stoffwechselversuche durchführte, Haller (1708–1777), der erkannte, dass der Körper mit der Nahrungszufuhr Verluste durch körperliche und geistige Arbeit deckt, sowie Lavoisier (1743–1794), der den Grundstein für die moderne Kalorimetrie legte. Justus von Liebig (1803–1873) leistete einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der E., indem er den Aufbau der Nahrung und die chemischen Zusammenhänge zwischen Ernährung und Lebensvorgängen untersuchte. Er führte den Begriff „Stoffwechsel“ ein. Mit der Verbesserung der Kenntnisse über Nährstoffe und der Entdeckung der Vitamine (alle 13 Vitamine waren 1941 identifiziert) gelang der E. ein weiterer Durchbruch. Nach dem 2. Weltkrieg wurde die E. mit dem Problem des Nahrungsüberflusses konfrontiert. Die Erforschung und Prävention ernährungsabhängiger Krankheiten haben seither einen hohen Stellenwert. Andererseits stellt die Ernährungsversorgung in Entwicklungsländern einen wichtigen Bereich der modernen E. dar. Als eigenständige Disziplin in Forschung und Lehre wurde die E. in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst in den USA, später in Europa eingeführt. Die Pioniere kamen zumeist aus der Medizin und der Biochemie / Physiologie. Im angelsächsischen Sprachraum wird der Begriff nutritional science noch heute gelegentlich auf die (patho)physiologischen Eigenschaften von Nährstoffen reduziert.
Ein ernährungswissenschaftliches Studium wurde in Deutschland erstmals in Gießen ermöglicht: Hans-Diedrich Cremer (1910–1995) begründete 1962 / 63 den Studiengang E. in Kombination mit Haushaltswissenschaft (Oecotrophologie). Dieser entstand aus dem Institut für Ernährungswissenschaft der medizinischen Fakultät, dem Institut für Ernährungsforschung der veterinärmedizinischen Fakultät und den Instituten für Pflanzen- und Tierernährung der landwirtschaftlichen Fakultäten. Eine weitere wichtige Komponente war eine angebotene Ausbildung von Berufsschullehrer / innen in den Fächern Ernährungslehre und Hauswirtschaftslehre. Da die Qualität dieser Lehrerausbildung auf Universitätsniveau gehoben werden sollte, wurde ein Diplomstudiengang für E. entwickelt, der aufgrund der ursprünglichen universitären Institute auf medizinisch-naturwissenschaftlichen Grundlagen fußte und durch sozialökonomische Fächer der Lehrerausbildung ergänzt wurde. Inzwischen wird E. in Deutschland als eigenständiger Studiengang oder als Fachrichtung der Oecotrophologie an 7 Universitäten (mindestens 8–9 Semester) und 8 Fachhochschulen (7–8 Semester) angeboten.
Während das Universitätsstudium vorwiegend theoretisch und wissenschaftlich ausgerichtet ist, ist das Fachhochschulstudium problem- und praxisbezogener. Ab dem Sommersemester 2001 bietet erstmals in Deutschland die Universität Kiel ein Studium der E. mit den international anerkannten Abschlüssen Bachelor of Science und Master of Science an.
Interdisziplinarität ist charakteristisch für die E., jedoch aktuell in Deutschland Gegenstand kontroverser Diskussion im Spannungsfeld zwischen Spitzenforschung und Spezialisierung vs. breit angelegter Grundausbildung für praxisorientierte Berufsfelder.
Die naturwissenschaftlich orientierte E. arbeitet überwiegend analytisch-experimentell und befasst sich mit Nährstoffen und anderen Nahrungsinhaltsstoffen sowie mit den Vorgängen der Nahrungsaufnahme und -verwertung im menschlichen Körper (Ernährungsphysiologie, mit fließenden Übergängen zur Ernährungstoxikologie, Ernährungsmedizin u. a.). Die verhaltenswissenschaftlich orientierte E., die soziologische, psychologische und ökonomische Teildisziplinen beinhaltet, befasst sich dagegen mit den individuellen und sozialen Determinanten des Ernährungsverhaltens und arbeitet vorwiegend mit empirischen Methoden (Ernährungsepidemiologie mit Relevanz für Ernährungs- und Gesundheitspolitik, Lebensmittelwerbung u. a.). Vgl. Ernährungsökologie.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.