Lexikon der Geographie: Arbeitsmarktgeographie
Arbeitsmarktgeographie, Teildisziplin der Humangeographie. Sie befasst sich mit der Analyse des Arbeitsmarktes unter besonderer Berücksichtigung der räumlichen Differenzierung und zielt darauf ab, Regelhaftigkeiten bei der räumlichen Verteilung arbeitsmarktrelevanter Merkmale zu identifizieren und spezifische Begründungen dafür bereitzustellen. Die Arbeitsmarktgeographie geht über die regional differenzierte Analyse der Arbeitslosigkeit hinaus und schließt Merkmale des Arbeitskräfteangebots und der Arbeitskräftenachfrage ein. Sie ist eine junge Teildisziplin, die ein klar erkennbares Forschungsdesiderat in der Geographie ausfüllt. Es existiert zwischen der Arbeitsmarktgeographie und der Wirtschaftsgeographie eine Schnittmenge an Forschungsfragen, die insbesondere mit der räumlichen Verteilung unternehmerischer Aktivitäten zusammenhängt. Eine andere Schnittmenge lässt sich mit der Sozialgeographie ausmachen, nämlich dann, wenn es darum geht, die Erwerbsneigung oder den Berufsverlauf von Bevölkerungsgruppen zu untersuchen. Außerdem sind die Schnittstellen zur Stadtgeographie, Bildungsgeographie und Bevölkerungsgeographie zu erwähnen. So gehört es in der Bevölkerungsgeographie zum allgemein akzeptierten Wissen, dass räumlich differenzierte Arbeitsmarktstrukturen einen erheblichen Einfluss auf Binnen- und Außenwanderung ausüben. Merkmale des Arbeitsmarktes sind zentrale Größen in jedem Push-und-Pull-Modell der Migrationsforschung. Die Verflechtungen der Arbeitsmarktgeographie mit anderen Teildisziplinen stellen keinen Nachteil dar, sondern sind – im Sinne des integrativen Selbstverständnisses der Geographie – eine besondere Qualität. Eine enger begrenzte Arbeitsmarktgeographie kann sich damit zu einer breiteren "Geographie der Arbeit" entwickeln.
Die Arbeitsmarktgeographie lehnt im Rahmen ihrer Analyse die neoklassischen Prämissen des homogenen Raumes, der ubiquitär verfügbaren Informationen und der Distanzlosigkeit aller Transaktionen explizit ab. Sie empfindet die Postulierung eines einheitlichen, nationalen Arbeitsmarktes als reine Fiktion. Denn in der Realität existiert kein homogener Arbeitsmarkt auf dem Informationen überall vorhanden sind (Wissen) und Mobilität keine Kosten verursacht, sondern eine Vielzahl von separierbaren regionalen Arbeitsmärkten. Wer davon spricht, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland um einen bestimmten Prozentwert gesunken oder gestiegen ist, der beschreibt keine, für die Gesellschaft real fassbare Entwicklung, weil die Erwerbstätigen eben nicht auf dem nationalen Arbeitsmarkt "Deutschland" agieren, sondern auf regionalen Arbeitsmärkten in München oder Hamburg. Und dort kann die Entwicklung der Arbeitslosigkeit diametral sein. Nationale Arbeitsmärkte sind daher lediglich gedankliche Konstrukte, die in der Realität durch regionale Arbeitsmärkte auf unterschiedlichen Maßstabsebenen und für unterschiedliche Personengruppen zu ersetzen sind. Die Arbeitsmarktgeographie betrachtet den Raum in Hinblick auf seine Qualitäten wie Distanzen, Zentralität, Struktur oder Nachbarschaften. Arbeitsmärkte sind räumlich strukturiert und prägen in unterschiedlicher Weise das Arbeitskräfteangebot, die Lohnhöhe, die Qualifikation der erwerbsbereiten Personen, die berufliche und sektorale Gliederung sowie die erzielbaren Berufslaufbahnen. Die Arbeitsmarktgeographie verknüpft damit sozial- und wirtschaftswissenschaftliche mit raumwissenschaftlichen Theorieansätzen. Anhand eines einfachen 2-Regionen-Modells kann dieser systematische Zusammenhang von "Raum", Wirtschaftsstruktur und Arbeitsmarkt nachgezeichnet werden. Theoretisch begründbar und empirisch häufig beobachtbar ist die Dominanz von Großunternehmen, von staatlichen Einrichtungen oder von "High-Tech-Betrieben" auf zentralen Standorten. In diesen privaten Unternehmen und staatlichen Institutionen dominieren wiederum aus formalen oder betriebswirtschaftlichen Gründen stabile Beschäftigungsverhältnisse. Dies hängt mit der Komplexität der Produktionsabläufe zusammen, die eine enge Bindung von qualifiziertem Personal an den Betrieb sinnvoll erscheinen lässt aber auch mit Loyalität der Arbeitnehmer im öffentlichen Sektor dem Arbeitgeber gegenüber. Als Ergebnis dieser Koppelung von zentralem Standort und Struktur der dort etablierten Unternehmen und Institutionen ergibt sich eine spezifische Arbeitsmarktstruktur, die durch eine Dominanz des primären Arbeitsmarktes gekennzeichnet ist (z.B. der städtische Arbeitsmarkt). Umgekehrt ist zu beobachten – und auch theoretisch zu begründen –, dass Unternehmen, die nur für den lokalen Markt produzieren, eine geringe Marktmacht besitzen, wenig forschungsintensiv sind und mit ihrer Produktion am Ende des Produktzyklus angelangt sind, "billige" und damit auch periphere Standorte bevorzugen (Organisationstheorie). Damit erhält die Peripherie aber auch eine spezifische Struktur der Arbeitsplätze. Die Qualifikationserfordernisse sind gering, die Austauschbarkeit der Arbeitskräfte ist hoch, die Lohnhöhe wird zu einem wichtigen Standortmerkmal. Insgesamt ergibt sich eine Dominanz des sekundären Arbeitsmarktes.
Diesen systematischen Zusammenhang zwischen wirtschaftsräumlicher Gliederung und Segmentierung des Arbeitsmarktes (räumliche Arbeitsmarktsegmentierung) zu entdecken und zu analysieren, ist eine zentrale Aufgabe der Arbeitsmarktgeographie. Sie geht dabei davon aus, dass diese räumliche Differenzierung nicht das Resultat eines zufälligen Prozesses oder eines kurzfristigen Ungleichgewichts darstellt, sondern als Ergebnis eines, auf Regelhaftigkeiten basierenden Zusammenspiels raum- und standortgebundener Faktoren zu betrachten ist. Die Ergebnisse der Arbeitsmarktgeographie besitzen gesellschaftspolitische Relevanz, denn sie verweisen auf die Notwendigkeit einer regionalisierten Arbeitsmarktpolitik. Arbeitslosigkeit in einer Region ist nicht nur als das Ergebnis einer gesamtwirtschaftlichen Nachfrageschwäche zu interpretieren, sondern auch Folge spezifischer regionalwirtschaftlicher oder regionaldemographischer Gegebenheiten. Eine zielgerichtete Arbeitsmarktpolitik muss verstärkt eine Arbeitsmarktgeographie zurate ziehen, die regionale Strukturen analysiert und erst dann eine "maßgeschneiderte" Politik ermöglicht.
HF
Lit: [1] FASSMANN, H., MEUSBURGER, P. (1997): Arbeitsmarktgeographie. Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit im räumlichen Kontext. – Stuttgart. [2] RICHTER, U. (1994): Geographie der Arbeitslosigkeit in Österreich. Beiträge zur Stadt- und Regionalforschung 13. – Wien.
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