Lexikon der Geographie: Entwicklungsländerforschung
Entwicklungsländerforschung, beschäftigt sich mit der Erforschung überseeischer Gebiete. Aufgrund einer lange Fachtradition haben sich der Forschungsfokus und die Betrachtungsweisen inzwischen grundlegend gewandelt ( Abb.). Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jh. entwickelte sich die Kolonialgeographie. Nach dieser Phase stand die wissenschaftliche Beschäftigung mit den überseeischen Gebieten bis in die 1960er-Jahre unter dem Primat des länderkundlichen Ansatzes. Hierbei dominierte der ganzheitliche Anspruch, die Individualität von Ländern und Landschaften mit einem zunehmend verfeinerten methodischen Instrumentarium zu erfassen. Aus dieser Phase stammt eine Fülle umfassender Ländermonographien, die teilweise bis heute ihren Stellenwert als regionale Standardwerke erhalten haben. In dieser länderkundlich dominierten Phase sind jedoch auch vereinzelt Arbeiten entstanden, die über den länderspezifischen Einzelfall hinausgehend nach Gründen und Regelmechanismen gesellschaftlicher Unterentwicklung und Entwicklung fragen und bemüht sind, ein kulturraumspezifisches Konzept der geographischen Analyse der überseeischen Welt theoretisch zu begründen. In diesem Sinne sind vor allem Bobeks "Theorie des Rentenkapitalismus" sowie Albert Kolbs Konzept der Kulturerdteile zu nennen. Beide Ansätze wirkten bis in aktuelle Phasen einer stärker theorieorientierten Entwicklungsländerforschung fort. Während der 1960er-Jahre wurde dann der länderkundliche Blickwinkel um Fragen nach den generellen Ursachen von Unterentwicklung und dem Bedeutungsinhalt von Entwicklung erweitert und somit für die sozioökonomischen Probleme der Entwicklungsländer und ihre Überwindung geschärft. Eine problemorientierte "Geographie der Entwicklungsländer" bildete sich heraus, die sich unter Nutzung der zeitgleich in die Geographie Einzug haltenden quantitativen Methoden zunehmend der Struktur- und Prozessanalyse in ländlichen und städtischen Räumen der Dritten Welt zuwendete. Als allgemeine Aufgabe einer Entwicklungsländerforschung wurde nun gefordert, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bedingungen in den Ländern der Dritten Welt in den Mittelpunkt zu stellen, Voraussetzungen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse zu untersuchen, Lösungsansätze zu entwickeln und auf ihre Anwendbarkeit hin zu überprüfen. Gleichzeitig widmete man sich angesichts einer als zu grob erkannten Entwicklungsland-Kategorisierung der verfeinerten Regionalisierung der Welt, wozu man auf der Basis statistischer Verfahren immer komplexere sozioökonomische Indikatorenbündel heranzog.
Wie die Geographie insgesamt, so stand auch die geographische Entwicklungsländerforschung ab den 1970er-Jahren im Zeichen eines tief greifenden Umbruchs, der im Wesentlichen auf die Öffnung des Faches für Einflüsse aus den gesellschaftswissenschaftlichen Nachbardisziplinen und auf die damit verbundene Rezeption ökonomischer, soziologischer und politikwissenschaftlicher Ansätze einer kritischen Entwicklungstheorie zurückzuführen ist. So wird denn auch von den Protagonisten eines solchen stärker theorieorientierten Forschungsansatzes das zuvor bestehende Theoriedefizit an den Pranger gestellt und für die Verhaftung der Geographie in traditionellen Ansätzen sowie für ihre geringe Relevanz in der interdisziplinären Diskussion um Ursachen und Überwindungsmöglichkeiten von Unterentwicklung verantwortlich gemacht. Als besonders befruchtend erwiesen sich die vor allem im lateinamerikanischen Zusammenhang entstandenen Dependenztheorien, deren Erklärungsansatz im Wesentlichen auf der exogenen Verursachung von Unterentwicklung infolge perpetuierter wirtschaftlicher und politischer Abhängigkeitsstrukturen im internationalen Kontext basierte. Geographen nutzten die Konzepte der "dependencia" in verstärktem Maße zur Erklärung räumlicher Strukturen und Prozesse auf unterschiedlichen Maßstabsebenen und konzipierten nun vorrangig theoriegeleitet empirische Detailuntersuchungen. Dies trifft bspw. für stadtgeographische Studien zu, die die sozialräumlichen Strukturen sowie die Lebensbedingungen und das Wanderungsverhalten der Unterschichtbevölkerung thematisierten und modellhaft zu erfassen suchten. Im ländlichen Raum wurden dependenztheoretische Ansätze zur Erklärung der Persistenz agrarstruktureller Disparitäten sowie der deformierenden Wirkung modernisierter außenorientierter Nutzungssysteme herangezogen. Darüber hinaus gewann das Zentrum-Peripherie-Modell an Bedeutung.
Nach der Phase, in der sich die geographische Entwicklungsländerforschung an den großen, globalen Gültigkeitsanspruch erhebenden Gesellschaftstheorien zu Unterentwicklung und Entwicklung orientierte und dadurch einen tief greifenden Erneuerungsprozess durchlief, ist seit Ende der 1980er-Jahre – ebenso wie in der übrigen gesellschaftswissenschaftlichen Entwicklungsforschung – eine deutliche Differenzierung der theoretischen und methodischen Ansätze zu beobachten. Dies hängt damit zusammen, dass sich aufgrund der Differenzierungsprozesse in der Dritten Welt immer mehr die Erkenntnis durchsetzt, dass die Erklärungskraft der großen Theorien eher begrenzt ist. Darüber hinaus wird im Gefolge der Rezeption von Theorien aus anderen Wissenschaftsdisziplinen der Ruf nach spezifisch geographischen Beiträgen zur Entwicklungsdiskussion laut. Damit wird zwar keineswegs die Theoriediskussion ad acta gelegt, jedoch sieht man, ähnlich wie in den Nachbarwissenschaften, in der Hinwendung zu sog. "Theorien mittlerer Reichweite" eine Möglichkeit, den ins Stocken geratenden fachinternen Diskurs neu zu beleben und um Ansätze, die der heterogenen Realität in den Entwicklungsländern eher angemessen sind, zu bereichern. Aus dem breiten Spektrum der aktuellen Fragestellungen und theoretischen Erklärungselemente seien hier Untersuchungen zum informellen Sektor und zur Überlebensökonomie, zu Aspekten der Verwundbarkeit, zum Mensch-Umwelt-Verhältnis, zu den wirtschafts- und sozialräumlichen Auswirkungen der Globalisierung sowie zu den Möglichkeiten und Grenzen nachhaltiger Entwicklung (Nachhaltigkeit) genannt. Diese Themen zeigen die in den letzten Jahren zweifellos gewachsene Bandbreite geographischer Entwicklungsländerforschung. Sie spiegeln die zunehmende Differenzierung der gesellschaftlichen und räumlichen Realitäten in den Entwicklungsländern wider. Deshalb wird es auch immer schwieriger, von einer einheitlichen geographischen Entwicklungsländerforschung zu sprechen.
MC
Lit: [1] BLENCK, J. (1979): Geographische Entwicklungsforschung. In: Hottes, K.-H. (Hrsg.): Geographische Beiträge zur Entwicklungsländer-Forschung. DGfK-Hefte 12. – Bonn. [2] LüHRING, J. (1977): Kritik der (sozial-)geographischen Forschung zur Problematik von Unterentwicklung – Ideologie, Theorie und Gebrauchswert. In: Die Erde 108, S. 217-238. [3] SCHMIDT-WULFFEN, W.-D. (1987): 10 Jahre entwicklungstheoretischer Diskussion. Ergebnisse und Perspektiven für die Geographie. In: Geographische Rundschau 39. [4] SCHOLZ, F. (Hrsg.) (1985): Entwicklungsländer. Beiträge der Geographie zur Entwicklungsforschung. – Wege der Forschung, Bd. 553. – Darmstadt. [5] SCHOLZ, F. & K. KOOP (Hrsg.) (1998): Geographische Entwicklungsforschung I, II, III. Rundbrief Geographie 148, 149, 150. – Leipzig.
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