Lexikon der Geographie: Familien- und Geschlechtermodell
Familien- und Geschlechtermodell, Gesamtheit der sozialen Normen und Wertvorstellungen, welche die Rolle von Mann und Frau in der Geschlechterbeziehung, innerhalb der Familie, bei Kindererziehung und Erwerbstätigkeit beeinflussen. Historische Entwicklungen und großräumige Disparitäten der Frauenerwerbstätigkeit können in hohem Maße auf unterschiedliche Familien- und Geschlechtermodelle bzw. auf einen Modernisierungsprozess im Geschlechterkontrakt zurückgeführt werden. Für das westliche Europa kann man drei vorherrschende Typen von Familien- und Geschlechtermodellen unterscheiden: a) Dem agrarischen Familien- und Geschlechtermodell liegt die Idee zugrunde, dass Frauen und Männer gemeinsam im eigenen Familienbetrieb arbeiten und gemeinsam zum Überleben der Familienökonomie beitragen. Kinder gelten als Bestandteil der Familienökonomie und werden so früh als möglich als Arbeitskräfte herangezogen. In diesem Modell wird Kindheit nicht als eigenständige Lebensphase angesehen, in der die Kinder einer besonderen Betreuung und Förderung innerhalb der Familie bedürfen. Dementsprechend fehlt auch eine soziale Konstruktion von Mutterschaft, die eine Freistellung der Mutter von Erwerbstätigkeit für Aufgaben der Kinderbetreuung und Erziehung vorsieht. b) Das bürgerliche Familien- und Geschlechtermodell basiert auf der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit und auf einer deutlichen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Der Mann hat in seiner Rolle als Familienernährer mit seiner Erwerbsarbeit für den Unterhalt der Familie zu sorgen, die Frau übernimmt die nicht entlohnten Haushaltsarbeiten und Familienaufgaben und ist vor allem für die Betreuung und Erziehung der Kinder zuständig. Diesem Modell liegen soziale Konstruktionen von Kindheit und Mutterschaft zugrunde, wonach Kinder eine besondere Betreuung und Zuwendung brauchen und umfassend als Individuen gefördert werden sollen. Die bewusste Zuwendung, die Kindern zuteil wird, wird als Teil eines Modernisierungsprozesses verstanden. In diesem Modell ist die Betreuung und Förderung der Kinder eine Aufgabe der privaten Haushalte. Ansprüche an die sozialen Sicherungssysteme hat die Hausfrau und Mutter nur indirekt über das Erwerbseinkommen des Mannes. Der in diesem Modell an den Familienernährer bezahlte Nettolohn ist in der Regel wesentlich höher als im folgenden Modell. c) Das egalitär-individualistische Familien- und Geschlechtermodell sieht die volle und vollzeitige Integration beider Geschlechter in die Erwerbsarbeit vor. Kindheit ist, ebenso wie im bürgerlichen Modell, als eine Lebensphase konstruiert, in der Menschen eine besondere Betreuung und Förderung benötigen. Die Kinderbetreuung fällt jedoch, anders als im bürgerlichen Modell, nicht in erster Linie in die Zuständigkeit der Familie, sondern ist in erheblichem Ausmaß Aufgabe des Wohlfahrtsstaats. Die drei Familienmodelle sind zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden. Sie sind jedoch nicht als eine chronologische Abfolge zu sehen, sondern existieren nebeneinander. Das agrarische Familienmodell, das ursprünglich in ganz Europa verbreitet und in vielen Ländern ein Vorläufer des bürgerlichen Modells war, dominiert noch heute in einigen Mittelmeerstaaten. Das bürgerliche Familien- und Geschlechtermodell ist in vielen mittel- und westeuropäischen Industriegesellschaften der zentrale Bezugspunkt des Geschlechterkontrakts. Das egalitär-individualistische Modell ist in Finnland besonders stark vertreten. In vielen Ländern gibt es hinsichtlich des Familien- und Geschlechtermodells schichtspezifische und räumliche Disparitäten (z.B. Stadt-Land-Unterschiede) und Mischformen zwischen den Modellen. Diese Typologie von Familien- und Geschlechtermodellen ließe sich durch Einbeziehung zusätzlicher Faktoren (Heiratsalter der Frauen, Anteil der nichtehelichen Partnerschaften usw.) noch weiter verfeinern.
PM
Lit: PFAU-EFFINGER, B. (1995): Erwerbsverhalten von Frauen im europäischen Vergleich...In: Informationen zur Raumentwicklung 1.
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