Lexikon der Geographie: Geographie des ländlichen Raumes
Geographie des ländlichen Raumes, Teilgebiet der Humangeographie. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts standen die physiognomische bzw. morphologische und die genetische Betrachtung der ländlichen Siedlungen und Fluren im Mittelpunkt der Forschung. Das Interesse galt z.B. den Dorfgrundrissen, den Haus- und Gehöftformen, den Flurformen, den mannigfachen historischen Veränderungen der Kulturlandschaften, den Phasen der Landnahme, des Landesausbaus, der Urbanisierung, der Wüstungen, der Stagnation und der Regression. Eine grundsätzliche Erweiterung erfuhr die geographische Dorfforschung seit dem Zweiten Weltkrieg durch die nunmehr stärkere Beachtung der Funktionen, der wirtschaftlichen und sozialen Merkmale und Prozesse der Siedlungen. Auf der Basis der Siedlungsfunktionen wurde zum Beispiel – in Zusammenarbeit mit den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften – die Gemeindetypisierung entwickelt. Zu den besonderen Leistungen der funktionalen Siedlungsbetrachtung gehört ohne Zweifel die geographische Zentralitätsforschung. Das von Christaller 1933 geschaffene Zentrale-Orte-Konzept wurde in zahlreichen Detailforschungen modifiziert und ausgeweitet und nicht zuletzt als Grundlage für die praktische Raumordnungspolitik verwendet. Die funktionale Dorfforschung beleuchtet aber auch die vorher kaum beachteten klein- und nichtbäuerlichen Strukturen. Seit den 1970er-Jahren zielen geographische Arbeiten zunehmend mit empirischen Erhebungen auf die Sozialschichtung, die Verhaltensweisen und die Selbsteinschätzung – z.B. Zufriedenheit, Regionalbewusstsein – der Dorfbewohner. Seit den 1980er-Jahren ist eine verstärkte Hinwendung der geographischen Forschung zu aktuellen und planungsorientierten Fragestellungen und Aufgaben unverkennbar. Ein nicht geringer Teil der geographischen Forschung befasst sich derzeit mit dem sozial-ökonomischen, politisch-administrativen und baulichen Strukturenwandel des ländlichen Raumes in den zurückliegenden Jahrzehnten.
Man unterscheidet bzgl. des methodischen Grundgerüstes der Geographie des ländlichen Raumes die physiognomisch-topographische und die funktionale bzw. sozialökonomische Betrachtungsweise. Die physiognomisch-topographische Betrachtungsweise zielt auf die sich in Lage, Größe, Grundrisslinien und Aufriss darstellende Gestalt einer Siedlung; die funktionale einerseits auf ihre Bewohnungsweise und sozial-ökonomische Aufgabe und Zweckbestimmung, anderseits auf das Beziehungsfeld, in dem die Siedlung steht. Hinsichtlich des methodischen Zugangs ist des Weiteren die individuelle und die typisierende Betrachtungsweise zu unterscheiden. Während die individuelle Analyse und Darstellung z.B. ein konkretes Dorf-Individuum möglichst ganzheitlich zu erfassen versucht, zielt das Interesse der typisierenden Arbeit auf Generalisierung, Vergleichbarkeit und Klassifizierung von Individuen und Einzelphänomenen. Zusammenfassend gliedert sich das inhaltliche und methodische Interesse der einschlägigen geographischen (und nachbarwissenschaftlichen) Fachrichtungen am ländlichen Raum dahingehend, dass sie individualisieren und typisieren, einen – gegenwärtigen oder vergangenen – Zustand beschreiben, erklären, interpretieren und/oder die Zukunft gestalten wollen.
Angesichts der langen, inhalts- und methodenreichen Forschungstradition ist es bemerkenswert, dass sich innerhalb der Geographie bislang eine einschlägige Teildisziplin Geographie des ländlichen Raumes kaum entwickelt hat. Die Zweige der Geographie, die sich derzeit vorrangig mit dem ländlichen Raum befassen, sind einmal die Agrargeographie und zum anderen die Geographie der ländlichen Siedlungen. An nächster Stelle zu nennen wäre die Historische Geographie, womit auch zum Ausdruck kommt, dass in der geographischen Beschäftigung mit dem ländlichen Raum dessen genetische Betrachtung einen hohen Stellenwert besaß und besitzt.
In der Zusammenschau zeigt sich, dass innerhalb der Geographie sachlich und methodisch sehr verschiedenartige Teildisziplinen den ländlichen Raum zum Forschungsgegenstand haben. Im angelsächsischen Raum ist eine eigenständige Teildisziplin "Rural Geography" längst etabliert. Auch im deutschsprachigen Raum gibt es Bemühungen, analog zur Stadtgeographie, die einschlägigen Forschungsinteressen unter einem neu konzipierten Dach Geographie des ländlichen Raumes bzw. Dorfgeographie vereinen zu können.
GH
Lit: [1] HENKEL, G. (1999): Der Ländliche Raum – Gegenwart und Wandlungsprozesse seit dem 19. Jh. in Deutschland. – Stuttgart. [2] UHLIG, H und C. LIENAU (1972): Die Siedlungen des ländlichen Raumes. Materialien zur Terminologie der Agrarlandschaft II. – Gießen. [3] PLANCK, U.: (1986): Dorferneuerung und Dorfforschung. Beitrag und Methoden der Soziologie. In Schriftenreihe für Agrarpolitik und Agrarsoziologie, 42. – Linz.
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