Lexikon der Geographie: Industriegeographie
Industriegeographie, Teilgebiet der Wirtschaftsgeographie. Forschungsinteressen und methodische Ansätze der Industriegeographie passen sich ein in das Feld theoretischer und empirischer Wirtschaftsforschung. Ihre Fragestellungen und vor allem ihre Forschungsmethoden unterscheiden sich nicht prinzipiell von denen der wirtschaftswissenschaftlichen Nachbarwissenschaften. "Geographisch" an der Industriegeographie ist vor allem eine gewisse Zentrierung der Fragen auf räumliche und standortorientierte Phänomene. In diesem Sinne beschäftigt sich die Industriegeographie mit den Standorten und Regionen der gewerblichen Güterproduktion auf der Erde in ihrer Bedingung durch den Raum und ihren Auswirkungen auf den Raum. Dabei geht es um die Aufdeckung der Strukturen, der funktionalen Verflechtungen und der Veränderungsprozesse sowie der dahinterstehenden Kräfte und Wirkungsmechanismen.
Folgende Entwicklungsphasen und Forschungsrichtungen der geographischen Industrieforschung kann man unterscheiden:
a) physiognomisch-morphogenetische Phase: Ähnlich wie in anderen Teilbereichen der Humangeographie interessierten an der Industrie zunächst deren Lage, Verbreitung und Physiognomie. Damit traten weniger die umsatzstarken als vielmehr die flächenbeanspruchenden Branchen in den Blick, insbesondere der Bergbau und die Urproduktion. Ergänzt wurde die physiognomische Richtung, ähnlich wie in der Siedlungsgeographie, durch die Genese, d.h. die geschichtliche Betrachtung des Werdens bestimmter Branchen bzw. Standorte. Anders als die flächenbeanspruchende Agrarwirtschaft ist die Industrie jedoch in der Regel punktuell; regelrechte Industrielandschaften sind selten. Entsprechend gering war die Bedeutung, welche die Industriewirtschaft lange Zeit im Rahmen der Geographie hatte.
b) funktionale Industriegeographie: Die Standortlehren der Nationalökonomie, insbesondere die einzelbetriebliche Standorttheorie Alfred Webers wurde adaptiert. Das Interesse galt vor allem industriellen Lokalisationsprobleme in den verschiedenen Erdteilen, und man begann sich mit der Bedeutung des Kapitals und der Kapitalströme auseinanderzusetzen.
c) raumwirtschaftlicher Ansatz: aus der anglo-amerikanischen "Regional Science" seit den 1960er-Jahren in die Wirtschaftsgeographie integrierter Ansatz, der eine ökonomische Erklärung für die räumliche Ordnung der Wirtschaft zu geben versucht. Als Erklärungsfaktoren werden meist nur solche einbezogen, die nicht im unterschiedlich motivierten Handeln des Menschen liegen (unterstellt wird ökonomisch rationales Verhalten); Industriestandorttheorien.
d) verhaltens- und entscheidungstheoretischer Ansatz: Im Unterschied zum raumwirtschaftlichen Ansatz wird hier die räumliche Differenzierung der Wirtschaft nicht über den Homo oeconomicus zu begründen versucht, sondern mit dem subjektiv rationalen Handeln des Menschen. Raumrelevantes Handeln hat seine Begründung dabei in der mentalen und psychischen Struktur des Menschen (Informationen werden selektiv wahrgenommen und individuell bewertet) bzw. in der Organisationsstruktur und im Präferenzsystem von Gruppen und Organisationen (z.B. multinationale Industriekonzerne).
e) "Wohlfahrtsansatz". Er macht die Grunderfahrung von regionalen Benachteiligungen in einer räumlich arbeitsteiligen Gesellschaft zu seinem Ausgangspunkt; zu den Aufgaben einer so verstandenen "engagierten" Geographie gehören: Identifizierung von unterprivilegierten Gruppen, Messung der Abweichung von "gerechten" Lebensbedingungen, Erarbeitung von Maßnahmen und Strategien, mit deren Hilfe die ungleichen Lebensbedingungen ausgeglichen werden können.
Heute ist die Industriegeographie wie andere Zweige der Wirtschafts- und Sozialgeographie durch ein Nebeneinander sehr verschiedener, letztlich kaum miteinander kompatibler Ansätze gekennzeichnet ( Abb. 1).
Besonders mit den Konjunktureinbrüchen der 1970er-Jahre änderten sich die Themen industriegeographischer Forschung. Standen zu Zeiten der Hochkonjunktur Fragen der industriellen Mobilität (Ansiedlungen, Verlagerungen, Zweigwerkgründungen) im Vordergrund, so interessierten unter Rezessionsbedingungen mehr die Persistenzbedingungen bestehender Unternehmen, d.h. Strategien der Unternehmenssicherung. Noch in den 1960er-Jahren konzentrierten sich industriegeographische Arbeiten vorwiegend auf Großstadträume. Mit der einsetzenden regionalen Wirtschaftsförderung (Industrieansiedlung im ländlichen Raum) begannen sich industriegeographische Arbeiten auch mit Peripherregionen zu befassen.
Die Industriegeographie hat sich, wie auch andere Zweige der Humangeographie, in den letzten Jahrzehnten verstärkt angewandten, planungsrelevanten Fragestellungen zugewandt. Typische Themen sind z.B.: a) Analyse von Industriestandortverlagerungen unter veränderten gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere von Standortspaltungen im weltweiten Kontext durch multinationale Unternehmen; b) Untersuchung raumrelevanter Anpassungshandlungen verschiedener Betriebstypen auf "Standortstress" (wobei mit "Stress" hier sowohl volkswirtschaftliche wie betriebliche Faktoren gemeint sind, z.B. Arbeitskräftemangel, Flächenengpässe, Umweltauflagen usw.); c) Analyse industrieller Verflechtungen, d.h. der wichtigsten Zuliefer- und Absatzbeziehungen, aber auch von Kommunikationsverflechtungen bzw. Dienstleistungs- und Serviceverflechtungen zwischen Industrie und dem nichtindustriellen Bereich (unternehmensorientierte Dienstleistungen). Thema der jüngeren Industriegeographie sind auch Restrukturierungsprozesse in Produktionsketten (outsourcing, Konzentration auf Kerngeschäfte und Kernkompetenzen) und die Untersuchung neuer Formen betrieblicher Zusammenarbeitung wie Zusammenarbeit in Netzwerken und strategische Allianzen mit Konkurrenten ( Abb. 2); d) Untersuchung der räumlichen Auswirkungen der internen Organisation von Unternehmen; e) Untersuchung zum industriellen Flächenbedarf und industriell bewirkter Flächennutzungskonkurrenzen zwischen Industrie und alternativen Nutzungen; f) Analyse der räumlichen Auswirkungen moderner Technologien und Produktionsprozesse, z.B. Produktions- und Arbeitsveränderungen durch computergestützte Entwicklung und Produktion (CAD) oder durch neue Logistiksysteme (Just-in-time-System); g) Analyse der Entwicklung von Schlüsseltechnologien und High-Tech-Branchen, d.h. der Frage, wie Innovationen, Forschung und Entwicklung in Industriebetrieben ablaufen und ggf. durch eine technologieorientierte Wirtschaftspolitik stimuliert werden können; h) Analyse von De-Industrialisierungsprozessen und Altindustrieräumen, insbesondere der Frage, welche Prozesse solche Industrieräume "alt" machen. Zu nennen sind hier neben ökonomischen Strukturproblemen (die Branchen bzw. Regionen sind an das Ende ihres Produktlebenszyklus gekommen) auch ökologische Probleme (Bewältigung von Altlasten und Entgiftung kontaminierter Industriestandorte) sowie sozialgeographische und politische Probleme: Dauerarbeitslosigkeit und "mentale" Altlasten; i) Untersuchung industriell verursachter Umweltbelastungen; j) Entwicklung von Theorien mittlerer Reichweite zur Erklärung des industriellen Strukturwandels. Zu nennen sind hier neben den Zentrum-Peripherie-Modellen die Vorstellungen zu "Langen Wellen" (Kontradieff) in der Industriewirtschaft und zu Produktlebenszyklen.
Die aktuelle Forschung der Industriegeographie wendet sich vor allem innovativem Handeln in ökonomischen und institutionellen Netzen zu, d.h. es wird die Einbettung ("embeddedness") des wirtschaftlichen Geschehens in innovative bzw. Kreative Milieus untersucht.
HG
Lit: [1] BATHELT, H. u. J. GLÜCKLER (2000): Netzwerke, Lernen und evolutionäre Regionalentwicklung.- In: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie, 44, S.167-182. [2] GAEBE, W. (1989): Industrie und Raum. – Darmstadt. [3] GAEBE, W. (1998): Industrie. In: Kulke, E. (Hrsg.): Wirtschaftsgeographie Deutschlands. Gotha und Stuttgart, S. 87-156. [4] MIKUS, W. (1978): Industriegeographie. Themen der allgemeinen Industrieraumlehre. – Darmstadt. [5] SCHÄTZL, L. (1998): Wirtschaftsgeographie. Bd. 1. Theorie. – Paderborn. [6] STERNBERG, R. (2000): State-of-the art and perspectives of economic geography-taking stock from a German point of view.- In: GeoJournal, 50, S. 25-36.
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